Unwirtliche Landschaften
Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Eintönig, öde, trostlos. Aspekte einer Landschaftsästhetik des Unwirtlichen – Einleitung
- I. Am Ende der Welt: Zeit- und Raumbilder der Ödnis
- Wirklich unwirtlich? Zwischen Zone, Winkel und dem Ende der Welt. Östliche Landschaften – nach der Grenze
- Das öde Land. Steppe und Imagination im 19. Jahrhundert
- „Die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“. Disanthropische Imagination und ästhetische Landschaft bei D. H. Lawrence und Judith Schalansky
- Wüstenfahrt. Labyrinthische Bilder der (End-)Zeit in einer späten Erzählung Christa Wolfs
- II. Weit im Osten – hoch im Norden: Topographien der Wildnis.
- Von der wilden Walachei. Zu einem literarischen Topos von Wezel bis Herrndorf
- Ausnahmezustand und Ambiguitätszone. Michael Hanekes Film Wolfzeit und Christoph Ransmayrs/Martin Pollacks Erzählung Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette
- Die kalte Landschaft des Ruhms. Zur Metaphorik der Polarreise in Per Olof Sundmans Roman Ingenieur Andrées Luftfahrt
- Konjunktur der Unwirtlichkeit. Zeichenmetamorphosen nordischer Landschaft im öffentlichen Diskurs.
- III. Wüste Oasen: Konstruktionen von ‚Heimat‘ in Regionen des Verlusts
- „Der Ort blieb leer und wüst“. Unwirtliche Landschaften als Orte der Zuflucht bei deutschsprachigen Autorinnen um 1800
- Kahlschläge im Schneegebirge. Heimat, Landschaft und die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Wolfgang Liebeneiners Waldwinter
- „Lektionen der Leere“. Westfalen und Wolhynien im Werk Hans-Ulrich Treichels
- Sandige Einöde oder Märchenplatz? Theodor Fontanes Mark Brandenburg und Uwe Johnsons Mecklenburg
- „Diebstahl der Landschaft“. Stadtsucht versus Natursehnsucht im aktuellen Diskurs bundesrepublikanischer Zeitungen
- Bio-Bibliographien der Beiträgerinnen und Beiträger des Bands
- Adressen der Beiträgerinnen und Beiträger des Bands
Eintönig, öde, trostlos. Aspekte einer Landschaftsästhetik des Unwirtlichen – Einleitung
In Jean Pauls letztem Roman Der Komet gibt es einen denkwürdigen Disput. Er ist der heiklen Frage gewidmet, ob es so etwas wie eine „ganz elende, erbärmliche, nichtsnutzige Gegend“1 überhaupt geben könne, wie sie der Hof- und Zuchthausprediger in den unwirtlichen Wetterregionen Deutschlands als Symptome der Ödnis erkennen zu können glaubt. Der Kandidat der Theologie widerspricht einem solchen Defätismus mit einem überzeugenden Gedankenexperiment: Auch wenn der andere ihn in eine „sandige platte Mark“ versetzen wolle, oder gar noch weiter „wie ich fast vermute, etwa in die Lüneburger Heide“, so könne er doch nicht den Sieg in der Debatte davontragen: Denn auch der in ein solch entferntes „Sandmeer“ Versprengte sollte wissen, dass er selbst in diesem noch ein gutes Leben führen könne, „weil dort mitten auf der Ebene nach jeder Poststation ein Haus anzutreffen wäre, ein Wirt- und Posthaus mit mehr als einem Baume und mit dem ganzen Sangevögel dazu, indem die Thiere aus Mangel an Bäumen sich natürlich meilenweit umher auf den wenigen sammeln um das Posthaus.“2
Dass der Kandidat die zivilisatorischen Freuden des Gasthauslebens selbst in eintönigsten Landschaften noch für gesichert hält und auch der kargen Vegetation etwas abgewinnen kann, weil sie, wenngleich nicht üppig, so doch äußerst intensiviert sei, erweist der relativierenden Auffassung dessen, was als öde, eintönig und trostlos zu gelten habe, seine humoristische Reverenz. Denn ganz ähnlich sei es ja für das menschliche Herz (so heißt es einige Seiten zuvor): Gäbe es für dieses nichts als den Augenblick, so könne man wohl der gelegentlichen Klage zustimmen: „um mich und in mir ist alles leer“.3 Ziehe man aber in Betracht, dass jeder Klagende über eine stattliche Vergangenheit und vielleicht auch noch gut bemessene Zukunft verfüge, so müsse man doch auch hier relativieren, ganz ähnlich wie in der nüchternen Bewertung der Natur: Mit beiläufiger Berufung auf Humboldt wird analogisierend geschlossen, dass auch „das leerste Leben den ← 7 | 8 → großen Wüsten in Indien [glichen], um welche waldige Ufer ewig grünen“,4 also doch auch von einem Menschen in tiefster Verzweiflung noch die Bemühung einer Gesamtperspektive abzufordern wäre, die ihn sein trostloses Einzelschicksal als Denkfehler oder jedenfalls doch als Selbsttäuschung erkennen ließe.
1.
Fernab von dergleichen Relativierungen noch des eigenen Unglücks werden im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm die Imaginationen des Trostlosen, Eintönigen und Öden aus der doppelten Bedeutung von „mangeln, leer sein“ und dem gothischen „vans“ bzw. mittelhochdeutschen „wan“ – also „wahnsinn, wahnwitz“5 abgeleitet. Offensichtlich ist Jean Pauls humoristische Verweisung des Öden in den Trost des Wirtshauslebens als eine spezifische Lesart zu verstehen (die rund hundert Jahre später in Robert Walsers Märchen Das Ende der Welt variiert wieder auftaucht).6 Seine Umwertung der Zuschreibungen dessen, was als verlassen, unbebaut, wüst, unfruchtbar und öde galt, erhält unter dem Eindruck zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als eine Neuinterpretation des Erhabenen eine andere Valenz. Der Kandidat im Kometen argumentiert weder in den Kategorien der Theodizee, in denen die „wüste und unvorstellbare Natur ein Übel“ war, noch mehr in denen der „Entübelung einer furchtbaren Natur“7 durch die kritische Moralphilosophie der Zeit. Kant hatte dem aus physisch ungefährdeter Distanz wahrnehmenden Subjekt eine „Macht der Einbildungskraft“8 zugestanden, die ihm den Triumph der Vernunft über die Angst angesichts der mit den Sinnen nicht zu fassenden Naturgewalten (wie drohenden Felsen, Vulkanen oder einem grenzenlosen Ozean) ein für allemal zu sichern versprach.
Diese Kantische Verpflichtung der Betrachter unermesslich weiter oder über alle Maßen wilder Landschaften auf die Vernunftideen wurde von Autoren wie Kleist, Jean Paul und Hoffmann zunehmend in Zweifel gezogen: Die sinnliche ← 8 | 9 → Erfahrung unwirtlicher Landschaften war Anfang des 19. Jahrhunderts kaum mehr durch die Behauptung von innerer Freiheit und Autonomie des Subjekts zu regulieren, sondern die Ödnis der Natur wurde nun zunehmend als menschliches Produkt und zugleich als Symptom innerpsychischer Zerrüttungen des Menschen verstanden. Eindrückliche literarische Beschreibungen von den zeitgenössischen Kriegsschauplätzen legen hiervon Zeugnis ab: Sowohl E.T.A. Hoffmanns Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden9 als auch Jean Pauls „Ernste Ausschweife“ im komischen Roman Der Komet mit dem Titel Der Regenbogen über Waterloos Schlachtfeld10 lassen zumindest deutliche Zweifel an der Möglichkeit moralischer Selbstbehauptung im Kriegsgeschehen erkennen. Die Annahme, dass Feldherren und Kriegshelden auch angesichts eines gesellschaftlichen Zustands äußerster Verwüstung noch dafür einstehen könnten, mit erhabener Heroik11 das Sittengesetz den Sieg davontragen zu lassen, schien angesichts einer nun neu definierten Kriegslandschaft der Ödnis zumindest erschüttert. Auch für den Betrachter trostloser Leichenfelder war der Kantische Entwurf einer subjektzentristischen Theorie des Erhabenen kaum noch tauglich. Hoffmann selbst war ein entgeisterter Augenzeuge der Schlacht von Dresden am 26. und 27. August 1813, in der die russischen, preußischen und österreichischen Verbände durch die Truppen Napoleons vernichtend geschlagen wurden. Seine Vision geht auf das Gehörte nicht weniger als auf das Gesehene zurück, auf die Sinneseindrücke eines Zeugen, der auf den „dampfenden Ruinen des Feldschlößchens stand“ und hinabsieht „in die mit blutigen Leichen, mit Sterbenden bedeckte Ebene“.12 Was er so „oft im Traum gesehn“, so heißt es in einer Tagebucheintragung Hoffmanns vom 29. August 1813, „ist mir erfüllt worden – auf furchtbare Weise.“13 Trotz einer distanzierten erhöhten Beobachterposition kann er auf die für den Eindruck des Erhabenen notwendige innere Abstandnahme nicht mehr rechnen.
Darüber hinaus wird in dieser Vision das Gesehene nicht durch den Hinweis auf einen Traum ‚irrealisiert‘ und somit zurückgenommen, wie es in Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (1796; in: Sie ← 9 | 10 → benkäs) noch ausdrücklich in einer berühmt gewordenen Fußnote14 geschieht. Hoffmanns Vision überträgt vielmehr die Position des Christus in blasphemischer Potenzierung des Jean Paulschen Experimentalnihilismus auf den Tyrannen, den Feldherrn Napoleon, der nicht nur einen ‚gestirnten Himmel über uns‘ leugnet, sondern jeglichen Sinnhorizont außerhalb seiner Macht: Das Zeugnis der öden Ebene des Sterbens wird vom berichtenden Augenzeugen in einer Vision dramatisiert: Der in ihr sprechende „Tyrann“ leugnet in seiner Hybris – wenn auch aus anderen Motiven als der klagende Christus – jeden Raum über sich und proklamiert in seiner verblendeten Selbstüberhebung das Nichts: „öde ist der finstere Raum da droben, denn ich selbst bin die Macht der Rache und des Todes“,15 so spricht er die Ermordeten und Verzweifelten an. Die von ihm gedachte Ödnis über sich wird ihm schließlich zum ‚horizontalen‘ Verhängnis, zum Fluch des Tyrannen, denn selbst die subterrane Bestattung, eine Hoffnung auf Erlösung in der heimatlichen Erde der Menschen bleibt ihm verwehrt: „aber im öden Raum ist dein Sein ewige Qual“, so lautet das Urteil seiner Verdammung, und während der Tyrann sich im „wahnsinnigen Verlangen“ umschaut, gibt es auf der irdischen Ebene seines Mordens für ihn nun auch keinen menschlichen „Ton des Trostes“, der „das dumpfe Schweigen der furchtbaren Öde“ unterbricht. Auch in Jean Pauls Waterloo-Text wird dem Triumph der Feldherren eine deutliche Absage erteilt: Über dem Schlachtfeld erscheint ein Regenbogen, als „wolle der Himmel die blutige Erde mit dem linden Verband aus Farben umschließen“,16 und es wird ausdrücklich betont, dass dieser nicht für die Siegenden, sondern für „die brechenden Augen“ der Gefallenen stehe, als ein mahnender „Friedens-Bote am Himmel“.
2.
Der an die ästhetische Erfahrung gebundene Topos der Ödnis wird spätestens unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege aus dem Kontext der genrebildenden Reiseliteratur herausgelöst und auf die kaum mehr auf Distanz zu haltende Wahrnehmung der Totenacker des Kriegs übertragen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts erhält die Unwirtlichkeit der Landschaften somit nicht nur durch Na ← 10 | 11 → turforscher eine neue Definition: Deren wissenschaftliche Untersuchungen hatten dem Anthropozentrismus eine nicht unwesentliche narzisstische Kränkung zugefügt, mit der die Position des Menschen als einer Krönung der Schöpfung zumindest in Frage gestellt war. Kaum weniger fällt ins Gewicht, dass die Schrecken der Kriegsschauplätze zu Symptomen einer Zeit werden, in der Ödnis auch als Zeichen ‚selbstverschuldeter Unmenschlichkeit‘ verstanden werden muss, somit überhaupt in einen Schuldzusammenhang gebracht wird, in dem Opfer und Täter tendenziell unkenntlich und ununterscheidbar werden – Georg Trakls berühmtes Gedicht Grodek (1914) führt diese Tendenz zu Beginn des Ersten Weltkriegs schließlich in eine ästhetische Dimension, in der auch und gerade die idyllische Landschaft durchgängig von Schuld und Gewalt kontaminiert zu sein scheint.
Die Werke der bildenden Kunst haben mit ihren Darstellungen der Ödnis auch für die Literatur das Terrain vorbereitet. Der Einfluss etwa des italienischen Malers Salvator Rosa17 auf die literarischen „Nachtstücke“ Anfang des 19. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen. E.T.A. Hoffmann erwähnt die „rauhe[n] Wüstenlinien“ in der Jesuiterkirche in G., der anonyme Maler-Erzähler im Sandmann (1816) nimmt Elemente dieser Faszination in seine Reflexion hinein und in der Novelle Signor Formica (1821; in Die Serapionsbrüder) erhält der Maler gar eine handlungsbestimmende Position. Sand, Steppe, Heide und Eis18 gehören somit zu den zentralen Topoi nicht nur der äußeren, sondern auch der ‚inneren Ödnis‘, jener Terrains des Unbewussten, die ihr Imaginationspotential nicht selten der bildenden Kunst verdankten und insbesondere mit dem Beginn der traumtheoretischen Arbeiten und Traumprotokolle Anfang des 19. Jahrhunderts ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerieten. Sie gehören zum wesentlichen Repertoire des Unheimlichen, das – aus Freudscher Perspektive – mit Schuld- und Angstgefühlen aufs engste verbunden ist. Nach dessen auf Schelling zurückgehender und an Hoffmanns Sandmann entwickelter Definition ist das Unheimliche, das gleichermaßen Anteile des Vertrauten wie auch des Fremden in sich trägt, auf ein plötzliches Hervortreten eines ‚Verborgenen‘, eines Verdrängten zurückzuführen. Die romantische Faszination erotisch aufgeladener unbewuss ← 11 | 12 → ter Steinwelten,19 denen noch in Tiecks Runenberg (1804) die Ebene als Terrain der Frömmigkeit und des Seelenheils gegenübergestellt wird, ist hingegen auf den literarischen Richtplätzen des Traums im 20. Jahrhundert kaum mehr zu finden. Bereits in der berühmten dritten Traumerzählung Rahel Levin Varnhagens von 1812 wird vielmehr der öde Ort einer „dürre[n], vegetationslose[n], sandsteinige[n] Erde“ genannt, die „sich in wirklichem Sande verlief“; eine „unselig[e] Fläche“, auf der nichts zu sehen sei und von ihr als „nichtswürdige[r] Ort“20 bewertet wird. Diese Spur könnte zweifellos bis zu Kafka – und im späteren 20. Jahrhundert dann auch zu Bachmann Todesarten-Projekt und Anne Dudens Erzählung Das Judasschaf (1985) – weitergeführt werden. Einer Tagebuchnotiz Kafkas ist zu entnehmen, dass er in seinem frühen Prosastück Der Plötzliche Spaziergang (1913; in: Betrachtung) zunächst ein radikales „Erlebnis“ (der Selbstbegegnung) beschreiben wollte, „das man wegen seiner für Europa äußersten Einsamkeit nur russisch nennen kann.“21 Nicht zufällig sollte diese Assoziation topisch gewordener Ödnis zunächst auch den Titel „Einförmigkeit“ tragen.
Zu den Wegbereitern dieser literarisierten Ebenen der Ödnis gehören Stifters Novellen, insbesondere die Darstellung der Puszta in der Erzählung Brigitta (1844/47). Eine der wohl eindrucksvollsten Passagen dieser Erzählung visualisiert im Kapitel „Steppenhaus“ das Unheimliche als ‚fotografische Nahaufnahme‘ einer Heidelandschaft, die im Abendlicht nur noch als Wahrnehmungstäuschung, als ‚Negativ‘, als Schattenriss der Natur wahrzunehmen ist: „Ein Grashalm der Hai ← 12 | 13 → de steht wie ein Balken gegen die Glut, ein gelegentlich vorüber gehendes Thier zeichnet ein schwarzes Ungeheuer auf den Goldgrund.“22 Von hier scheint es nicht mehr weit bis zum expressionistischen Film, etwa zu Murnaus Außenaufnahmen für den Nosferatu-Film (1922), der das Unheimliche des Grafen Orlok auf eine imaginierte Landschaft der Ödnis überträgt, die in ihrer Unwirtlichkeit nun allerdings kaum noch zu übertreffen ist: Das Drehbuch verzeichnet als (vorgesehene) Orte des Films neben dem „Karpathenurwald“23 am slowakischen Vratna Pass und dem Meer bei Helgoland auch die Landschaft der Lüneburger Heide.
3.
Das literarhistorische Initial einer Erschütterung des Betrachterstatus setzt aber Kleist in seinem berühmten Essay Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft,24 in dem die verstörende Leere von Caspar David Friedrichs Bild Mönch am Meer (1810), das einen Skandal auf der Berliner Akademieausstellung ausgelöst hatte, nun in dessen wirkungsästhetischer Radikalität auf das Prinzip der Darstellung übertragen wird. Dass „das Herz“ bei der Betrachtung der eintönigen Seelandschaft Friedrichs – wie es in Kleists Essay heißt – einen „Anspruch an das Bild machte“ und einen „Abbruch“ erfuhr, den einem nicht die Natur, sondern „das Bild tat“, nimmt nicht nur zentrale Fragen einer modernen Medienästhetik ins Visier. Er thematisiert die Vision eines Betrachters, vor dem die gemalte leere Landschaft „wie die Apokalypse“ daliege. Gefragt wird nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Darstellung, der jede Distanzierungsfähigkeit abhanden gekommen ist und die die Betrachterposition ins Bild hineinzieht. Friedrichs Seelandschaft wirkt als Realität – so formuliert es Gernot Müller –, die „keine Gegenstände mehr vorführt“, sondern „vielmehr ein Wahrnehmungsprinzip ← 13 | 14 → ohne Inhalte“ sei und die „totale Empfindung fassungsloser Leere“25 realisiere. Die Reflexion der Empfindungen schließt das Paradox einer im Augenblick der Wahrnehmung sich selbst inexistent wissenden Betrachterposition ein. Sie ist somit als fundamentaler Widerspruch gegen Kants ‚Firmung‘ des Subjekts in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu verstehen. Denn dieser hatte dort gerade die logische Unmöglichkeit einer in der ersten Person sprechenden Selbstnegierung zu erweisen versucht.26
Diese paradoxe Wahrnehmungsposition wird zum Signal für eine neue Qualität der Darstellung von Ödnis, die ohne die Vision einer menschlichen Vakanz, einer Natur ohne Menschen kaum gedacht werden kann. Christa Wolfs ‚Tschernobyl-Erzählung‘ Störfall. Nachrichten eines Tages (1987) gehört zu den Texten, die die ‚schuldhaft gewordene‘, kontaminierte Natur über eine Erzählerstimme bezeugt, die sich auch grammatikalisch in die paradoxe Position einer zukünftigen Nichtmehr-Existenz – eines futurum perfectum – begeben muss. Die Darstellung öder Landschaften ist somit weit mehr auf einen präzisen Umgang mit den narrativen Tempusformen angewiesen, gilt nicht selten als eine poetologische Herausforderung, als Arbeit vor allem an der Erzählzeit. Auch in dieser Hinsicht radikalisiert Wolfs Störfall die Tradition einer Literatur nicht nur der Endzeit, sondern auch des Posthumanen, die nach 1945 in der deutschsprachigen Literatur zu einem Topos geworden ist. Um nur das prominenteste Beispiel unter vielen zu nennen: Arno Schmidt, der obsessive Jean Paul-Leser, verlegt in seiner Erzählung Schwarze Spiegel (1951; in: Brand’s Haide) die Imagination der letzten Menschen in die Ödnis der Lüneburger Heide.
Auch auf dem Terrain des Films sind die zahlreichen Ansätze, eine neue Qualität der landschaftlichen Ödnis in Bilder zu fassen, kaum noch zu überschauen: Tarkowskys von fernem Hundegebell untermalte und für die filmische Darstellung topisch gewordenen einsamen Weiten in Stalker (1979) und Opfer (1986), David de Vries’ eindrucksvoller Dokumentarfilm Life after people (2008) und schließlich auch Lars von Triers Melancholia (2011), in dem das landschaftliche Korrelat der Schwermut über Bildzitate einschlägiger Werke der Genremalerei, der Romantik und der abstrakten modernen Kunst in Szene gesetzt wird. Auf der Handlungsebene geht es in diesem Film um das riskante Wagnis, eine innere Leere, den horror vacui einer Depression in die kosmische Sphäre des sog. Planeten „Melancholia“ zu projizieren. Auf vorherberechneter Umlaufbahn kehrt dieser ← 14 | 15 → schließlich zurück, um alles irdische Leben zu vernichten, nicht ohne noch kurz vor dem großen Knall als malerische Bild-Oberfläche in abstraktem Farbenrausch ästhetisiert zu werden. Diese Ästhetik des am Horizont über dem Meer aufgehenden Planeten mit seiner alle Hoffnung verödenden Wirkung zeigt – anders als etwa noch in Jules Vernes Autour de la Lune (1872), dem das Titelbild unseres Bands (mit der Originalunterschrift „Cette plaine ne serait qu’un immense ossuaire“) entnommen wurde – keineswegs eine steinerne Schädelstätte. Er sieht vielmehr der aus der Astronautenperspektive betrachteten betörend blauen Erde, die er verschlingen wird, auf den ersten Blick täuschend ähnlich. Dass schließlich eine der wichtigsten Einstellungen des Films einen romantischen Fensterblick auf das letzte Bild des Weltenbrands imaginiert, also eine Wahrnehmungsinstanz besetzt, die in Wirklichkeit nicht mehr möglich wäre, kann als Reverenz an die paradoxe Perspektivik in der Nachfolge Caspar David Friedrichs verstanden werden. Der Film Melancholia transformiert die Geschichte einer Landschaftsästhetik des Öden, die auf einer Einziehung der Distanz zwischen dem Betrachter und seinem Objekt der Betrachtung beruht, in eine paradoxe filmische Optik: In dieser wird die Wahrnehmung nächster Nähe und die der fernsten Ferne zusammengeführt und so ein Bildeindruck von ‚totaler‘ Abstraktion erzeugt. Zweifellos gehört es zur Ironie des Films, dass auf diese Weise der kantische Impetus des Erhabenen gerade im Augenblick größter physischer Gefahr zurückgewonnen wird.
4.
Alle Beiträge dieses Sammelbands gehen auf ein gemeinsames Projekt im Rahmen einer durch den DAAD geförderten Germanistischen Institutspartnerschaft zwischen der Humboldt-Universität Berlin und der Comenius-Universität Bratislava zurück.27 Die drei Themenschwerpunkte des Bands nehmen die wichtigsten Fragen mehrerer intensiver Arbeitstreffen während der jährlich stattfindenden deutsch-slowakischen Herbst-Colloquien in Bratislava, Pezinok und Kežmarok auf. Leitend war für die Diskussion zwischen den am Projekt beteiligten deutschen und slowakischen LiteraturwissenschaftlerInnen die Orientierung an einem Phänomen, das nach 1989 deutlich in Erscheinung trat: gemeint ist die „nachbeitrittsdeutsche Horizontöffnung nach Osten“ – so formuliert es Erhard Schütz in seinem grundlegenden und viele Aspekte der gemeinsamen Arbeit akzentuierenden Beitrag. ← 15 | 16 →
Der erste Themenbereich des vorliegenden Bands gilt – unter dieser besonderen historischen Prämisse – den Zeit- und Raumbildern der Ödnis. Beschreibungen von Reisen nach Osten oder ‚in den Osten‘ reflektieren – so ERHARD SCHÜTZ – nach dem Fall der Grenzen in der deutschsprachigen Essayistik (am prominentesten bei dem österreichischen Autor Karl-Markus Gauß) die diffusen Projektionen auf eine landschaftliche tabula rasa. Sie führen nicht selten an ein vermeintlich idyllisches – sowohl räumlich als auch zeitlich konnotiertes – ‚Ende der Welt‘, bezeichnen die Topographie scheinbar vergessener oder ausgelöschter Spuren der Gewalt gegen Nationen oder Ethnien bzw. markieren die Gewalt dieses Vergessens selbst.28 Die den Beitrag strukturierenden Kapitelüberschriften wie „Zone“, „Grenzen“, „Transit“, „Winkel“, „Wildnis“ oder „Ränder der Welt“ nehmen diese Problematik mit je neuem Anlauf in den Blick. Der Beobachtung, dass Imaginationen landschaftlicher Ödnis – z. B. im neueren Film – im Fokus eines drohenden Verlusts von Zukunft ästhetisiert werden, korrespondiert bei Schütz ein entgegengesetzter Befund: Scheinbar unwirtliche, aber angeblich ‚naturbelassene‘ östliche Landschaften erweisen sich für ihn als Projektionsflächen der Gegenwart. Sie stehen im Zeichen der Geschichtsvergessenheit, sind als „kontaminierte Landschaften“ (Martin Pollack) der Vergangenheit zu lesen, als Erinnerungsschauplatz der Vernichtung wie etwa in Ransmayrs und Pollacks Reise durch eine im Zeichen der sog. „Aktion Weichsel“ stehenden Geschichte Polens und der Ukraine in der Erzählung Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette (2011); oder auch – um ein neueres Beispiel hinzuzufügen – in Katja Petrowskajas Buch Vielleicht Esther (2014), das eine fingierte Erinnerung auf der Spurensuche29 der Erzählerin in der Schlucht des Massakers von Babij Jar von 1941 beschreibt.
Diese Imaginationen vom ‚Ende der Welt‘ werden durch historische literarische Berichte von Reisen in die russische Steppe vorbereitet. ANDREAS DEGEN weist auf diesen Zusammenhang mit einem vorangestellten Motto aus Johannes Bobrowskis Gedicht Die Sarmatische Ebene (1956) hin. Als Topos rückt das Bild der Steppe im 19. Jahrhundert u. a. bei Stifter, Sacher-Masoch oder Ernst Barlach in den Blick. Ihr imaginäres Potential ist nun allerdings ebenfalls nicht mehr über die idealistische Erhabenheitskonzeption Kants zu fassen. Neben der unermesslichen Raumdimension und extremen Einförmigkeit kommt für die Steppe ein weiteres Differenzkriterium – etwa in Unterscheidung zur Ebene – in den Blick: die Verringerung der ästhetischen Distanz des Betrachters zur wahrgenommenen ← 16 | 17 → Landschaft, die vor allem auf den Verlust eines erhöhten Standpunkts zurückzuführen sei. Gerade aus diesem Grund ermöglicht die Steppe extreme – ihre Defizienz steigernde – Imaginationsräume wie die des „Horizonts“, des „Himmels“ – und schließlich, im temporalen Modus, die der „Vergangenheit“.
Die beiden folgenden Detailstudien dieses ersten thematischen Schwerpunkts nehmen nicht die Imaginationen und Projektionen der Reisenden aus dem Westen auf dem Weg nach Osten, sondern umgekehrt die literarische Bearbeitung des Topos vom Ende der Welt aus der Sicht einer ‚sich selbst überlebt habenden‘ DDR in den Blick: Am Beispiel von Judith Schalanskys mit Illustrationen versehenem Bestseller Der Hals der Giraffe (2011) entwickelt JAKOB CHRISTOPH HELLER die Frage nach der literarischen Funktion disanthropischer Imaginationen. Die Vorstellung einer Welt ohne menschliches Leben sei im Sinne des Gedankenexperiments einer erzählenden Selbstnegation grundsätzlich auf paradoxe Zeitentwürfe verwiesen. Die Literarisierung von Landschaft unter der Prämisse der Abwesenheit eines sie betrachtenden Subjekts ist somit ein Problem für die „Logik der Fiktionen“. Die Protagonistin in Schalanskys Roman, eine Radikalbiologin, imaginiert Orte nach dem Aussterben des Menschen, Landschaften, die in der gedachten Zeitraffung des Evolutionsprozesses als Resultat eines „rasenden Stillstands“ erscheinen. Ihre Imagination endet (auch hier) in dargestellter Malerei, also in narrativer Raumkunst. Hellers im Nebensatz geäußerte These, dass der disanthropische Imaginationsraum – anders etwa als die Figur des ‚letzten Menschen‘ – über keine ethische Dimension verfüge, bedürfte einer ausführlicheren Untersuchung. Denn sie führt ins Zentrum der Frage, ob nicht jedes Denken einer menschlichen Vakanz noch als Verweisung auf ein Humanum gedacht werden müsse.
Für Christa Wolfs Erzählung Wüstenfahrt (1999), die dem Amerika-Konvolut von Stadt der Engel (2010) zugehört, stellt sich diese Frage unter umgekehrten Vorzeichen. SABINE EICKENRODT liest diese späte Erzählung über eine Irrfahrt in die kalifornische Mojave-Wüste in Korrespondenz zu den beigefügten menschenleeren Wüsten-‚Stilleben‘, Reproduktionen von Materialbildern des Nagelkünstlers Günter Uecker, also im Wechselbezug von Text und Bild. Im Rekurs auf das textstrukturierende Raum- und Zeitmodell eines (westlichen) Wüstenlabyrinths erhält das leitende Thema der Zeitknappheit eine poetologische Dimension, in der Zeit nur noch im Modus der abgeschlossenen Vergangenheit erzählt zu werden vermag. Zitierte heilsgeschichtliche Bezüge – etwa zu Dantes Divina Commedia – tragen ebenso wie intertextuelle Reprisen aus Christoph Geisers Wüstenfahrt (1984) und permanente Verweise auf Film und Fotografie dazu bei, in diesen auffällig ‚heiter berichteten‘ Verirrungen einen narrativen, psychischen ← 17 | 18 → und zivilisatorischen Zustand des ‚Außer-sich-Seins‘ zu zeigen. Dieser wird in Christa Wolfs Erzählung aufs engste an die Frage gebunden, welche Folgen die Verdrängung von individueller und kollektiver Schuld für den diagnostizierten Zustand einer utopielosen Gesellschaft hat.
5.
Details
- Seiten
- 286
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653057157
- ISBN (MOBI)
- 9783653966275
- ISBN (ePUB)
- 9783653966282
- ISBN (Hardcover)
- 9783631661468
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05715-7
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Mai)
- Schlagworte
- Disanthropie Menschenleere Labyrinth Landschaftsästhetik
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 286 S., 6 farb. Abb., 4 s/w Abb.
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