Venedig als Bühne
Seine Theatralität in der Literatur
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Die Theatralität Venedigs im historischen Kontext
- 1. Der Fall der Republik und die Konstituierung Venedigs als theatrale Stadt
- 2. Geschichtliche Hintergründe und theatrale Disposition
- III. Methodischer Teil
- 1. Theatralität: Bestimmung und Bedeutung des Begriffs
- 2. Theatralität in Literatur und Sprache
- 3. Die Theatralität des Raumes
- 4. Inszenierungen und ihre Strategien
- 5. Ästhetische und philosophische Krise am Ende des 18. Jahrhunderts und deren Auswirkung auf das Theatralitäts-Modell
- 6. Die „Abständigkeit des Menschen zu sich“. Theatralität als anthropologische Konstante
- 7. Theatralität in der Mimesis
- 8. Theatralisierung von „cultural performances“
- 9. Theatralität im Ritual
- 10. Die Theatralität der Maske
- IV. Inhaltlicher Teil
- 1. Die Theatralität des „traumhaften“ Venedig
- 2. Die Theatralität der Melancholie und des Verfalls: Das Venedig Lord Byrons und August von Platens
- 3. Die Theatralität der Décadence
- 4. Einsamer ‚Liebestod‘ eines ‚Leistungsethikers‘: Thomas Manns „Tod in Venedig“
- 4.1 Die Theatralität des Liebestods
- 4.2 Der theatrale Raum
- 4.2.1 Venedig als Bühne
- 4.2.2 Die Kulisse Venedig: Theatralische Charakteristik der Maske
- 4.3 Die Theatralisierung und ihre Auswirkungen
- 4.3.1 Der Gottesdienst im Markusdom: Theatralisierung im Genre der „cultural performances“
- 4.3.2 Dekonstruktive Theatralität. Unausweichliche Konsequenz des theatralen Prozesses
- 4.4 Venedigs theatralische Attribute
- 4.4.1 Die Verkörperung der Todesgestalten in ihrer Maskenhaftigkeit
- 4.4.2 Die venezianische Gondel als konstituierendes Element „theatraler“ Räume
- 4.5 Die Décadence im theatralen Venedig
- 4.5.1 Aschenbach als Décadent
- 4.5.2 Die Décadence und ihr theatraler Ausdruck in der Maske
- 4.6 Venedig und der Lido als dramaturgische und sich ergänzende Gegensätze
- 4.7 Ein Vertreter des „bürgerlich-apollinischen Künstlertums“ und seine theatralische Konstituierung
- 4.7.1 Das Wesen Aschenbachs in der „strukturalen“ Theatralität
- 4.7.2 Die Fremdbestimmung Aschenbachs als „virtueller Zuschauer seiner selbst“
- 4.8 Die Theatralität des kommunikativen Ausdrucks
- 4.8.1 „Stumme“ Theatralität zwischen Aschenbach und Tadzio
- 4.8.2 Die Theatralität des „grand acteur utopique“ bzw. „grand acteur hétérotopique“
- 5. Theatralität und Sinnenfreude in Hugo von Hofmannsthals „Der Abenteurer und die Sängerin“ oder „Die Geschenke des Lebens“
- 5.1 Hofmannsthal und die Memoiren des Casanova
- 5.2 Der „Abenteurer“ und die „Sängerin“ als theatrale Figuren in der theatralen Stadt Venedig
- 5.2.1 Baron Weidenstamm als poetisch-theatralische Umgestaltung der Person Casanovas
- 5.2.2 Vittorias Auftritt: Die Opernbühne als semantische Bühne und theatraler Raum
- 5.2.3 Theatralität der Tragik: Die Vergänglichkeit des „Abenteurers“
- 5.2.4 Theatralische Metaphorik in der Sprache des „Abenteurers“
- 5.2.5 Die Verschmelzung Vittorias und ihres Gesangs mit dem theatralen Venedig
- 5.3 Venedig, die Stadt des „Abenteurers“
- 5.3.1 Der „zehnfache Venezianer“
- 5.3.2 Der theatralische Mythos vom Ursprung Venedigs in der Erzählung Weidenstamms
- 5.3.3 Sinnliche Theatralität. Venedig als personifizierte „Geliebte“ und märchenhaft-theatrale Kunststadt
- 5.3.4 Düstere Theatralität. Der „Abenteurer“ als ehemaliger Gefangener in den Bleikammern
- 5.4 Theatralisch konnotierte Spiegelungen
- 6. Hofmannsthals theatrales Venedigbild in seinem Romanfragment „Andreas oder die Vereinigten“
- 6.1 Der theatralische Symbolwert Venedigs
- 6.2 Maskenhaftigkeit in der ehemaligen Stadt Casanovas
- 6.3 Die Theatralität des Kulissenwechsels: Venedig und der Finazzerhof
- 6.3.1 Die theatrale Doppelbödigkeit Venedigs und ihre Konsequenz für Andreas’ Charakter
- 6.3.2 Die theatrale Stadt zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit
- 6.4 Die Theatralität des negativen Bildungsromans
- 6.5 Die Theatralität der bröckelnden Fassade eines „realistischen“ Venedig: Vergleich mit anderen Werken der Venedigliteratur
- 7. Die vielschichtige Theatralität der Venedig-Gedichte Rainer Maria Rilkes
- 7.1 Die Theatralität der Totenstadt: „Venedig I–IV“
- 7.2 Die Theatralität der „willensstarken“ Stadt. „Spätherbst in Venedig“ und „San Marco“
- 7.3 Die theatrale Personifizierung Venedigs als verführerische Frau: „Die Kurtisane“, „Venezianischer Morgen“ und „Die Laute“
- 7.4 Venezianisch-theatralische Casanova-Figur im Totenreich. „Der Abenteurer“
- 8. Die Theatralität Venedigs und der „Einbruch der modernen Welt“ in den Romanen „Die Rote“ von Alfred Andersch, „Wer war Edgar Allan?“ von Peter Rosei und „Mistlers Abschied“ von Louis Begley
- 9. Die theatrale Bühne Venedig in Anbetracht der Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs. Alfred Andersch’ Roman „Die Rote“
- 9.1 Trügerische Illusion und existentielle Bedrohung in der theatralen Lagunenstadt
- 9.2 Venedig als Falle: Marginalität und „theatrale“ Heterotopie
- 9.3 Der theatrale „Zauber“ Venedigs
- 9.4 Apokalyptische Vision und Endzeitgedanken. Venedig als Bühne für Auschwitz
- 9.5 Die Theatralität der „Roten“
- 9.6 Theatrales Doppelgängerspiel: Eine zweite Rothaarige
- 9.7 Die theatralisch-verbrecherische Maske Kramers
- 9.7.1 Die Maske Kramers als Pendant zur venezianischen Maske
- 9.7.2 Die Maske Kramers in Kohärenz zur theatralen Maskenhaftigkeit Venedigs
- 9.8 O’Malley, Franziska und Kramer im dramaturgisch-theatralen Kontext
- 9.9 Zwischen Illusion und Desillusion: Fabio Crepaz und die Theatralität des Theaters La Fenice
- 9.10 Illusionistische Theatralität: Das nächtliche und musikalische Venedig
- 10. Die Theatralität des „schönen“ und „verwahrlosten“ Venedig in Peter Roseis Roman „Wer war Edgar Allan?“
- 10.1 Das Labyrinth der Gassen als theatrale Ursache für den Ich-Verlust des namenlosen Helden
- 10.2 Verwirrendes theatrales Maskenspiel. Edgar Allan als „Alter Ego“?
- 11. Ein Todkranker in der theatralen ‚Nekropole‘: „Mistlers Abschied“ von Louis Belgley
- 11.1 Mistlers „Lieblingsstadt“. Intertextuelle und theatrale Referenzen zu Thomas Manns „Tod in Venedig“
- 11.2 Gescheiterte Konstituierung des Selbst durch Inszenierung. Mistler als „tragische Gestalt“
- 11.3 Die Theatralität zermürbender Märtyrer-Assoziationen
- 11.3.1 Theatralische Identifikation mit der Darstellung des Tizian-Gemäldes „Die Leiden des heiligen Laurentius“
- 11.3.2 Anklage und Blasphemie: Theatralische Entsprechungen
- 11.4 Inszenierung des Todes auf der Toteninsel San Michele
- 11.5 Theatralische Todessymbolik im Bucintore-Ruderclub
- 11.6 Die Theatralität der Vergänglichkeit in der ehemals glanzvollen Stadt Venedig
- V. Schlussbetrachtung
- VI. Bibliographie
- Literatur zu den Theatralitätstheorien
- Quellen- und Forschungsliteratur des methodischen Teils
- Radiovortrag
- Quellenliteratur des historischen und inhaltlichen Teils
- Forschungsliteratur des inhaltlichen Teils
- Zur Venedigliteratur im Allgemeinen
- Literatur zu historischen und kunsthistorischen Fragen
„(…) Venedig (…), es sitzt am Ufer des Meeres wie eine schöne Frau, die mit dem Tage erlischt; der Abendwind weht durch ihr duftendes Haar; sie stirbt, berührt von aller Anmut und allem Lächeln der Natur (…).“1
François-René Vicomte de Chateaubriand: «Mémoires d’outre-tombre»
Das aus der Spätromantik stammende Zitat Chateaubriands lässt erahnen, was Venedig auch heute noch nachgesagt wird: Dass es sich bei der geheimnisvollen Lagnenstadt um eine zutiefst „theatrale“ handelt, welche mit ihrer märchenhaften orientalischen Schönheit, ihren verfallenden Palästen und in ihrer Eigenschaft als Wasserstadt, die im Meer zu versinken droht, ein Faszinosum von unwiederstehlicher Anziehungskraft darstellt. Das Stadtbild Venedigs lädt zu theatralen Assoziationen regelrecht ein, wie beim Anblick der berühmten Bauwerke am Canal Grande und der Piazza San Marco wohl kaum jemand bestreiten wird. Wie sehr aber auch die abgelegenen und einfachen Gegenden Venedigs von Theatralität geprägt sind, soll unter anderem in dieser Untersuchung geklärt werden. Daraus lässt sich schon erahnen, dass es sich bei dem Phänomen der Theatralität um ein ausgesprochen komplexes handelt, dessen Reiz aber gerade auf einer oft nur schwer fassbaren Vielfältigkeit beruht, die wiederum den Charakter der Stadt im wesentlichen bestimmt. Diesen Umstand machte sich die fiktionale Literatur insbesondere seit der Romantik über das Fin de siècle bis annähernd zur Gegenwart zunutze. Warum dies so ist und auf welche Weise Theatralität dabei eine Rolle spielt, sowie was diese innerhalb der fiktionalen Venedigliteratur bewirkt und inwieweit die Lagunenstadt sich dabei als Bühne konstituiert, soll in dieser Untersuchung unter Einbeziehung ausgewählter Beispiele an epochen- und genreübergreifender Literatur von europäischen, wie zum Beipiel deutschen, aber auch amerikanischen Werken geklärt werden.
Seit 1996 wird in einer Kooperation von verschiedenen deutschen Universitäten im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein umfassendes Schwerpunktprogramm mit dem Thema Theatralität als kulturelles Modell für die ← 13 | 14 → Kulturwissenschaften durchgeführt. An ihm sind ca. 30 Projekte aus mehr als 15 Disziplinen und Universitäten beteiligt2 Die aus diesen Forschungen gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse finden insofern Eingang in diese Arbeit, als damit der Theatralität in der Venedigliteratur auf den Grund gegangen werden soll, mit dem gleichzeitigen Bestreben, den Begriff der Theatralität innerhalb dieses Kontextes einzuordnen und zu definieren. Dabei werden folgende, im Rahmen des Schwerpunktprogramms entstandene Abhandlungen berücksichtigt, welche, wie sämtliche der in dieser Reihe inzwischen zwölf erschienenen Bände, von Erika Fischer-Lichte herausgegeben wurden: Inszenierung von Authentizität (2000), Verkörperung (2001), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften (2004) und Diskurse des Theatralen (2005). Der ebenfalls von Fischer-Lichte herausgegebene Band Theatralität und die Krisen der Repräsentation (2001) hingegen ist nicht in der Reihe des Schwerpunktprogramms erschienen, sondern im Rahmen der „Germanistischen Symposien“, welche im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und in Verbindung mit der „Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte“ ins Leben gerufen wurden, während wiederum die von der gleichen Herausgeberin stammende Abhandlung Theater im Prozeß der Zivilisation (2000) zwar nicht primär den Gegenstand der Theatralität, sondern lediglich den des Theaters beinhaltet, jedoch die von Fischer-Lichte verfasste Einleitung „Theatergeschichte als Körpergeschichte“ den in dieser Arbeit vertretenen theatralen Grundgedanken, welcher als solcher nach Ansicht von Roland Barthes eben nicht in einer unmittelbaren Affinität mit einer institutionalisierten Form von Theater steht, gleichfalls vertritt. Zusätzlich zu den genannten Werken werden in diese Arbeit noch weitere Untersuchungen anderer Autoren zum theatralen Phänomen mit einbezogen, welche hierbei einen massgeblichen Stellenwert einnehmen und wiederum im Rahmen des Forschungsprogramms Theatralität entstanden sind, allerdings nicht unter der Herausgeberreihe Fischer-Lichtes. Dabei handelt es sich um folgende Abhandlungen: Szenographien (2000), herausgegeben von Gerhard Neumann, sowie Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte (2003), herausgegeben von Ethel Matala de Mazza und Clemens Pornschlegel. Der Band Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen ← 14 | 15 → Mediendispositiv (2009) hingegen, herausgegeben von Kirsten Kramer und Jörg Dünne, siedelt sich genau am Schnittpunkt zweier Forschungsbereiche an mit dem Ziel, diese miteinander zu verknüpfen und in einen übergreifenden Untersuchungszusammenhang zu stellen, wobei es, unter der Einbeziehung verschiedener Aspekte von Theatralität, um eine Neu-Perspektivierung raumtheoretischer Positionen, einschließlich medienwissenschaftlicher Fragen, geht.3
In Anbetracht des komplexen und vielfältigen Angebots des in dieser Arbeit verwendeten Materials zum Thema Theatralität und den sich daraus ergebenden verschiedenen Interpretationsansätzen zu den Begrifflichkeiten sowie dem breiten Spektrum an Möglichkeiten, diesem von mehreren Ebenen aus zu begegnen, erweist sich eine knappe, konkrete Definition als ausgeschlossen. Vielmehr zeigt sich die Notwendigkeit, dass der Begriff der Theatralität in einem wesentlich weitläufigeren Zusammenhang betrachtet werden muss. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die in Frage kommenden Definitionen zu bündeln und davon ausgehend deren Bedeutungen und die daraus sich ergebenden Konsequenzen zu bestimmen und jeweils in einen entsprechenden Bezug zur Venedigliteratur zu setzen. Hierbei kommt auch der Konstituierung Venedigs als Bühne eine entsprechende Funktion zu, da die Lagunenstadt als solche innerhalb des theatralen Kontextes in der Venedigliteratur unwillkürlich einzuordnen ist.
Während der fortschreitenden Arbeit an dieser Untersuchung hat es sich herausgestellt, dass, neben den unter anderem im Rahmen des Schwerpunktprogramms entwickelten Theorien, welche dazu dienen, die Theatralität in der Venedigliteratur zu ergründen, diese einer gewissermaßen persönlichen Betrachtungsweise gleichfalls bedarf. Dies mag zum einen an einer grundsätzlich theatralen Disposition der geheimnisvollen und mythenumrankten Lagunenstadt Venedig liegen, welche dieser bereits seit jeher anhaftet, aber zum anderen ← 15 | 16 → auf der Tatsache beruhen, dass die Idee einer Verknüpfung der Venedigliteratur mit dem Phänomen der Theatralität eine rein analytische Einschätzung nicht mehr ausreichend erscheinen lässt. Vielmehr muss Venedig eine genuine, theatrale Wirkung, als eine in der Dichtung häufig thematisierte, ihrem Wesen nach nicht konkretisierbare, jedoch immer faszinierende Irrealität, zugestanden werden. Insofern kann Theatralität hier also nicht separat von Venedig, wie es auch in der entsprechenden fiktionalen Literatur zum Ausdruck kommt, betrachtet werden, sondern als eines durch die theatrale Lagunenstadt sich vermittelndes, stets variierendes und vor allem auch nicht fassbares Element, welches ständig Imaginationen unterworfen ist und diese ebenso hervorruft.
Gleichzeitig jedoch wird darauf Wert gelegt, die in diese Arbeit eingeflossenen Erkenntnisse zum Phänomen der Theatralität in einen sinnvollen Kontext zur Venedigliteratur zu stellen und die theatralen Theorien bewusst in der Hinsicht einzusetzen, um die außergewöhnliche poetische Bedeutung des Schauplatzes Venedig zu erklären und dem Faszinosum der theatralen Lagunenstadt ein Stück näher zu kommen.
Neben den Forschungsergebnissen, unter anderem zum Schwerpunktprogramm Theatralität, werden zur Erhellung des theoretischen Konzepts in der vorliegenden Arbeit noch weitere Theorien hinzugezogen, die für eine weiterführende Untersuchung zur Theatralität Venedigs ebenfalls von wesentlicher Bedeutung sind. Zum einen handelt es sich um das Konzept der Heterotopie von Foucault, das sich vor allem im Sinne einer theatralen Raumkonstitution der Lagunenstadt als relevant herausstellt. Zum anderen erweisen sich Elemente aus Gilles Deleuze’ Differenz und Wiederholung, welche auf dem Prinzip der Maskenhaftigkeit beruhen, als entscheidend für die Erforschung von Theatralität in der Venedigliteratur, und dies insbesondere auch deshalb, als der Lagunenstadt bekanntermaßen ein Hang zum Maskenwesen inhärent ist. Zudem wird in diesem Zusammenhang der in der allgemeinen Forschung zur Venedigliteratur sehr häufig erörterte philosophische Aufsatz „Venedig“ von Georg Simmel aus seinem Band Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze herangezogen, da Simmel hier seine persönliche Vorstellung zur Masken- bzw. Kulissenhaftigkeit Venedigs artikuliert und insofern, wie auch Deleuze, mit seiner Argumentation einer weiteren Erklärung zur Theatralität Venedigs durchaus dienlich ist. Der Aspekt der Maskenhaftigkeit steht mit dem der Theatralität in einem unmittelbaren Bezug, was sich anhand verschiedener Anhaltspunkte in der Venedigliteratur nachweisen lässt und sich im Laufe dieser Untersuchung erhärtet. ← 16 | 17 →
Was die Forschungsergebnisse des Schwerpunktprogramms und weitere theoretische Untersuchungen zum Thema Theatralität betrifft, erscheint es sinnvoll, vor allem die Abhandlungen zu berücksichtigen, die speziell für die Erforschung der Theatralität in der fiktionalen Venedigliteratur, bzw. eine dazu in dieser Arbeit getroffenen literarischen Auswahl, besonders geeignet sind. Unter anderem handelt es sich hierbei um mehrere Beiträge Fischer-Lichtes, so z. B. um ihren Aufsatz „Theatralität – Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften“ in dem von ihr herausgegebenen Band Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Einen weiteren wesentlichen Aspekt zur Erläuterung der Theatralitätstheorien stellen die Beiträge von Neumann in seinem Band Szenographien dar, der sich bei seiner Konzeption wiederum auf theoretische Entwürfe von Barthes beruft. Was die von Neumann vertretene Position vor allem auszeichnet, ist, dass er sich überwiegend auf eine Theatralität der Sprache bezieht. Ferner ist auch der Beitrag von Matala de Mazza und Pornschlegel in ihrem Band Inszenierte Welt von Wichtigkeit, als die beiden Autoren sich darin mit dem von Aristoteles in seiner Poetik entwickelten Konzept der Mimesis auseinandersetzen und daraus ihre Vorstellung einer gewissermaßen „strukturalen“ Theatralität begründen, die sich auf die entstehenden Zeichen einer fiktionalen Wirklichkeit beruft.
Was die „räumliche“ Theatralität betrifft, ist wiederum der Beitrag von Dünne und Kramer in dem von ihnen herausgegebenen Band Theatralität und Räumlichkeit evident, denn gerade in Bezug auf Venedig, in seiner speziellen Eigenschaft als Wasserstadt und in Anbetracht seines beeindruckenden geschichtlichen Hintergrundes, ist eine nähere Untersuchung der theatralen Räumlichkeit sowohl auf topologischer als auch auf semantischer Ebene unabdinglich. Zudem birgt diese die Möglichkeit, die Theatralität der Lagunenstadt als eine speziell venezianische aufgrund ihres räumlichen Charakters in ihrer poetischen Auswirkung zu erkennen.
Ein weiterer wichtiger Akzent sind die Gedanken Hans-Georg Soeffners in seinem Aufsatz „Die Wirklichkeit der Theatralität“ in dem von Fischer-Lichte herausgegebenen Band Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Soeffner geht von einer grundsätzlichen Inszenierung des eigenen Selbst aus, wobei er sich auf die von Helmuth Plessner entwickelten Theorien stützt. Da die in dieser Arbeit verwendeten Werke von fiktionaler Venedigliteratur wiederholt das Schicksal von Figuren erzählen, die sich in einer persönlichen oder existentiellen Krise befinden – so zum Beispiel Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Tod in Venedig – und die sich in der Lagunenstadt, als einem imaginären bzw. theatralen Raum, offenbart, dient Soeffners Konzept dazu, das komplexe ← 17 | 18 → und gefährdete Wesen des jeweiligen Protagonisten besser nachvollziehen zu können.
Wie in dem Kapitel Die Theatralität Venedigs im historischen Kontext zum Fall der Republik und die Konstituierung Venedigs als theatrale Stadt ausführlich erläutert wird, wurde die Entwicklung der Venedigliteratur durch den Untergang der einst mächtigen venezianischen Metropole im Jahre 1797 in einer Weise begünstigt, dass geradezu von einer „Initialzündung“ die Rede sein kann. Die verfallende und verlassene Lagunenstadt eröffnete, nach mehr als tausend Jahren glanzvoller Geschichte, nun in unnachahmlicher Weise einen Raum für poetische Imaginationen, so dass die fiktionale Venedigliteratur sich von da an unaufhaltsam zu entwickeln begann. Ein Prozess, der sich von den Anfängen in der Romantik über die Zeit des Fin de siècle bis in die Literatur der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart fortsetzte. Aus diesem Grund konzentriert sich die Auswahl der in dieser Arbeit verwendeten fiktionalen Venedigliteratur auch annähernd auf diese gesamte Zeitspanne. Dies bringt die Herausforderung mit sich, dass einige Werke nicht mit einbezogen werden können, was, aufgrund einer geradezu unerschöpflichen Fülle an Material, allerdings auch dann kaum möglich wäre, wenn diese Arbeit weniger epochenübergreifend ausgerichtet wäre. Die literarische Auswahl erfolgte jedoch nach Gesichtspunkten, nach denen die Theatralität Venedigs und die Funktion der Stadt als Bühne möglichst präzise in ihren Eigenarten und komplexen Auswirkungen nachgewiesen und untersucht werden soll, wobei insbesondere auch auf epochenspezifische Merkmale geachtet wird.
Zunächst sind es die beiden Dichter August von Platen und Lord Byron, deren von der Lagunenstadt inspirierte, spätromantische Lyrik Gegenstand der Untersuchung ist. In ihren Gedichten tritt Venedigs Disposition sowohl als theatrale als auch als Totenstadt hervor, wobei beide Aspekte einander entsprechen, wie dies anhand der Theorien zur Theatralität und Maskenhaftigkeit in dieser Arbeit entsprechend verdeutlicht werden soll. Diese Tendenz zeigt sich in exemplarischer Weise auch in den Briefen und Schriften des regelmäßig in Venedig weilenden Komponisten Richard Wagner sowie in den Briefen und in dem der Lagunenstadt gewidmeten ‚Gondellied‘ des Venedig-Liebhabers Friedrich Nietzsche, und setzt sich im Fin de siècle in fast noch intensiverer Weise fort, so vor allem in der wohl berühmtesten Novelle der Venedigliteratur, Manns Tod in Venedig, aber auch in Hugo von Hofmannsthals Romanfragment Andreas und in modifizierter Form gar in seinem Drama Der Abenteurer und die Sängerin. Speziell in jenem tritt eine Casanova-Gestalt in Erscheinung, welche von einer erheblich theatralischen Konnotation grundsätzlich nicht zu trennen ist. Genauso manifestieren sich Züge und Kennzeichen einer Casanova-Gestalt im Andreas-Roman, worauf ← 18 | 19 → in dieser Untersuchung ebenfalls eingegangen wird. Das zweiteilige Gedicht Der Abenteurer von Rainer Maria Rilke hingegen hebt die Casanova-Gestalt ganz explizit hervor. In weiteren Gedichten wiederum, Venedig I–IV, thematisiert der Dichter, noch ganz in der Tradition Byrons, die theatrale Totenstadt, während er in seiner etwa zehn Jahre später entstandenen Venediglyrik aus seinen Neuen Gedichten bzw. Der neuen Gedichte anderer Teil mit der Thematisierung eines wieder erstarkten Venedig ein Gegenbild zu der von Lethargie und Melancholie geprägten Lagunenstadt entwirft, wobei er diese in äußerst theatralischer Weise als schöne Frau personifiziert. Bei diesen Gedichten genauso wie bei der Venedigliteratur im Fin de siècle im allgemeinen spielt dabei eine grosse Rolle, dass die Lagunenstadt in jener Epoche ein „Symbol der Décadence“ darstellt, was diese nicht nur in ihrer Verbundenheit mit dem Tod – was Rilke eben auch zu dem Entwurf eines Pedants herausfordert – sondern zugleich in ihrer theatralischen Disposition bestätigt und sogar darin bestärkt.
Von diesem Standpunkt aus gesehen ist es nicht verwunderlich, dass die Todesthematik sowie massive Bedrohungs- und Existenzproblematiken auch die Venedigliteratur von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart durchziehen, wobei jene in teils apokalyptischen Ausmassen auf die Lagunenstadt projiziert werden. Dies hängt demzufolge mit den beiden Weltkriegen und dem beispiellos erschütternden Ereignis des Holocaust zusammen, aber auch den allgemeinen zivilisatorischen Bedrohungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie mit der sich vermittelnden Kälte und dem Egoismus einer modernen Gesellschaft und der daraus resultierenden Vereinzelung des Menschen. Bei der Wahl Venedigs als literarische Projektionsfläche gerade in der „zeitgenössischen“ Venedigliteratur dürfte aber auch eine nicht unerhebliche Rolle spielen, dass die Existenz der Lagunenstadt vor allem in der jüngeren Zeit immer mehr gefährdet ist und dies nicht nur deshalb, weil trotz vieler Renovierungs- und Reparaturmassnahmen, ihr Verfall immer mehr fortschreitet, sondern ebenso wegen der unabsehbaren Folgen des Massentourismus sowie dem damit verbundenen rücksichtslosen Vorgehen der Schifffahrtsgesellschaften, die mit viel zu großen Ozeanriesen unmittelbar an die Stadt heranfahren und diese in ihren längst maroden Grundfesten erschüttern. Jene Gefahr erhält noch weitere Brisanz aufgrund der Tatsache, dass immer wieder Pläne kursieren, die Lagune auszubaggern, um den überdimensionalen Kreuzfahrtschiffen den erforderlichen Tiefgang zu verschaffen. Die schlimmen Folgen eines solch rücksichtslosen Vorgehens für die Stadt lassen sich leicht absehen. Ähnlich verhält es sich mit den Auswirkungen industrieller Gifte von der benachbarten Stadt Mestre, mit welchen Venedig konfrontiert wird, so dass, abgesehen von der Verschandelung durch hässliche Fabrikanlagen, ← 19 | 20 → welche der Lagunenstadt daraus ebenfalls erwächst, jener, nach dem politischen Untergang der Republik vor über 200 Jahren, ein ähnliches Schicksal noch einmal, aber mit erheblich katastrophaleren Konsequenzen droht. Diese Tendenz kristallisiert sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verstärkt heraus, falls es nicht noch gelingt, jene verhängnisvolle Entwicklung mit energischen Massnahmen aufzuhalten.4
In Alfred Andersch’ Ende der fünfziger Jahre entstandenem Roman Die Rote zeichnet sich der Einfluss der Schrecken des vergangenen Krieges ganz direkt ab, indem dieser sich durch die Theatralität der Lagunenstadt auf beklemmende Weise offenbart. Hingegen bewirkt in Peter Roseis Anfang der neunziger Jahre erschienenem Roman Wer war Edgar Allan? die Theatralität Venedigs den Niedergang eines namenlosen Helden, wobei die Lagunenstadt als solche kaum noch mit den für sie typischen Kennzeichen hervortritt und größtenteils nur aufgrund der von ihrem theatralen Charakter ausgehenden, überaus verhängnisvollen Sogwirkung zu verorten ist. In dem Roman des amerikanischen Autors Louis Begley, Mistlers Abschied, wiederum geht es um einen nach aussen hin stark wirkenden Geschäftsmann, der jedoch unheilbar an Krebs erkrankt ist und sich für die letzte Zeit seines Lebens nach Venedig flüchtet.
Um das komplexe Phänomen der Theatralität Venedigs in der Literatur in seiner ganzen Bandbreite erfassen zu können, erschien es sinnvoll, die Arbeit in drei Teile zu gliedern. Am Anfang steht die Historie Venedigs, anhand derer, ausgehend vom Zeitpunkt des Unterganges der Republik im Jahre 1797 als Startschuss für die Entwicklung der fikionalen Venedigliteratur, diese hinsichtlich ihrer Theatralität und der Eigenschaft Venedigs als Bühne untersucht werden soll. Ferner ist es ein Anliegen des historischen Teils dieser Arbeit, mit einer Rekapitulation der venezianischen Geschichte von ihren Anfängen bis zum Fall der Republik, einer grundsätzlich theatralen Disposition der Lagunenstadt nachzugehen, um deren spätere Theatralisierung in der Literatur, nach der Entmachtung der Republik, aus dieser Position heraus besser nachvollziehen zu können.
Der zweite, methodische Teil hingegen befasst sich mit den Theatralitätstheorien, die unter anderem im Rahmen des Schwerpunktprogramms entwickelt worden waren, wobei darauf geachtet wird, diese soweit wie möglich auf die Venedigliteratur zu beziehen, und so die Konzeption einer spezifisch venezianischen Theatralität zu ermöglichen. Dazu dienen auch die von Simmel und Deleuze vertretenen Vorstellungen von Masken- bzw. Kulissenhaftigkeit, aufgrund ← 20 | 21 → derer eine theatrale Konstituierung Venedigs in diesem Sinne ebenfalls festgestellt werden kann, und die sich zudem mit den Theatralitätstheorien des Schwerpunktprogramms und daran sich anknüpfenden Positionen verbinden lassen.
Details
- Seiten
- 288
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653053029
- ISBN (MOBI)
- 9783653968170
- ISBN (ePUB)
- 9783653968187
- ISBN (Hardcover)
- 9783631662427
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05302-9
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (März)
- Schlagworte
- venezianische Theatralität theatrale Stadt weltbühne
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 288 S.