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Das Ornamentum der Galerie dʼUlysse von Fontainebleau im gesellschaftlichen Kontext

Phase I

von Barbara Schmachtenberg (Autor:in)
©2015 Dissertation VI, 228 Seiten

Zusammenfassung

François Ier gilt als Hauptrepräsentant der Renaissancefürsten. Seine exzessive Bautätigkeit wurde, bezogen auf die erhaltenen Schlösser, kunsthistorisch intensiv bearbeitet. Die zerstörten Bauwerke, zu denen auch die Galerie d’Ulysse gehört, fanden in der deutschen Literatur dagegen bisher nur wenig Beachtung. Diese Untersuchung möchte das ändern. Sie analysiert – auf der Grundlage vorausgegangener französischer Forschungsarbeiten – das 1738 abgerissene Gebäude der Galerie und dessen erste Dekorationen (1537-1556). Da die Galerie keine repräsentativen Aufgaben zu erfüllen hatte, konnte Francesco Primaticcio den einzigartigen Freiraum, den aus Italien angeworbene Künstler während der Regierungszeit von François Ier genossen, nutzen, um in Frankreich italienische Renaissancekunst ohne beeinträchtigende Herrscherpanegyrik zu schaffen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einführung: Projekt, zeitliche Eingrenzung und Begriffsbestimmung
  • Das Projekt:
  • Zeitliche Abgrenzung
  • Der Begriff des Ornamentum
  • 2. Hauptteil
  • 2.1. Das Ornamentum des Außengebäudes
  • 2.1.1. Die Quellenlage
  • 2.1.2. Die Architektur
  • 2.1.3. Das Fassadenornamentum
  • 2.1.4. Das Dachornamentum
  • 2.1.5. Das Außenornamentum im Kontext
  • 2.1.5.1. Frühere Fassadenausgestaltungen der Schlösser des François Ier
  • 2.1.5.2. Das Fassadenornamentum der Galerie d’Ulysse im Vergleich
  • 2.1.5.3. Motive für die Wahl der Ornamentform
  • 2.2. Die formale Ausgestaltung des Innenraums
  • 2.2.1. Historische Genese der französischen Galeriebauten
  • 2.2.2. Die Gewölbekonstruktion
  • 2.2.3. Erste Korrekturen durch den Gipsverputz
  • 2.2.4. Die Unterteilung des Gewölbes in Kompartimente
  • 2.3. Das Thema des Innenornamentum
  • 2.4. Strukturierung der einzelnen Kompartimente
  • 2.4.1. Das Antikenvorbilds der Domus Aurea
  • 2.4.2. Strukturierung der Gewölbe 80 und 60 der Domus Aurea
  • 2.4.3. Kopie oder Variation der Gewölbestrukturierung der Räume der Domus Aurea?
  • 2.4.4. Die Bedeutung der Symmetrie bei der Umsetzung
  • 2.4.5. Das Material der Bilderrahmen
  • 2.4.6. Die Kassettierung der nicht-narrativen Kompartimentflächen
  • 2.5. Das narrative Ornamentum des Gewölbes
  • 2.5.1. Inhalte und Entstehungszeitpunkte
  • 2.5.2. Inhaltliche Zusammenhänge der Narrationen der Hauptfresken?
  • 2.5.3. Das Zentralbild: Tanz der Horen
  • 2.5.3.1. Formale Charakteristika
  • 2.5.3.2. Die Bildgestaltung
  • 2.5.3.3. Das Horen-Thema
  • 2.5.4. Die Nebenbilder des VIII. Kompartiments
  • 2.5.5. Die Hauptbilder der übrigen Kompartimente
  • 2.5.5.1. Die Götterversammlungen des I. und XIV. Kompartiments
  • 2.5.5.2. Die Poseidonfresken
  • 2.5.5.3. Die Apollonfresken
  • 2.5.5.4. Die Fresken der Göttinnen Athene und Aphrodite
  • 2.5.5.5. Die Bedeutung der astrologischen Zeichen
  • 2.5.5.6. Herrscherpanegyrik im Freskenprogramm?
  • 2.6. Das Grotteskenornamentum
  • 2.6.1. Ausmaße
  • 2.6.2. Medien
  • 2.6.3. Die Bildinhalte
  • 2.6.4. Untersuchungsergebnisse
  • 2.6.5. Historische Wurzeln der neuen Grotteskenmode
  • 2.7. Das Innenornamentum als Gesamtkunstwerk
  • 3. Schlussbetrachtung
  • 4. Verzeichnis der Abbildungen
  • 5. Verzeichnis der direkt verwendeten Literatur

1. Einführung:

Projekt, zeitliche Eingrenzung und Begriffsbestimmung

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Abb. 1: Jacques Androuet Du Cerceau, Fontainebleau, von Süden gesehen, ca. 1579

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Abb. 2: Jacques Androuet Du Cerceau, Fontainebleau, von Norden gesehen, ca. 1579 ← 1 | 2 →

Das Projekt:

Die ‚Galerie d‘Ulysse’ wurde ab 1537 als Aufstockungsbau des vorher schon bestehenden einstöckigen Gebäudetrakts der Südseite des neuen Schlosshofs, der ‚Cour basse’, später wegen der dort aufgestellten, aus weißem Gips gefertigten Pferdestatue ‚Cour du cheval blanc’ genannt, errichtet. Sie hatte eine Länge von mehr als 150 Metern und war im Innern 6,25 m breit. Im Osten endete sie neben dem ‚Pavillon des Poêles’, im Westen schloss sie an die ‚Grotte des Pins’ an.1

Anfangs war sie mehr oder weniger namenlos, denn um sie zu bezeichnen, fehlten noch nicht durch andere Bauten des Schlosses besetzte Adjektive. Zwar entstand hier die größte (la plus grande) Galerie Frankreichs, aber da die später als ‚Galerie François Ier’ bezeichnete erste Galerie bereits ‚Grande Galerie’ genannt wurde,2 fiel diese Bezeichnung für die zweite, nun entstehende aus. Man behalf sich mit rein örtlichen Bezeichnungen wie ‚Galerie de la cour basse’, und später, als die Pferdestatue auf dem neuen Schlosshof aufgestellt worden war, ‚Galerie de la cour du cheval blanc’. Erst 1547, als der Bauherr François Ier verstorben war, wurde das Adjektiv ‚grande’ für die zweite Galerie des Schlosses frei, weil die bisherige ‚Grande Galerie’ nun im Andenken an die unverdrossene Bautätigkeit des Verstorbenen in ‚Galerie François Ier’ umbenannt wurde. Die heute gebräuchliche Bezeichnung ‚Galerie d‘Ulysse’ für den hier zu untersuchenden Gebäudetrakt wurde erst nach deren zusätzlicher Ausgestaltung mit Szenen der Odyssee, d.h. ab 1555/56 verwendet. Da sie sich dann aber einbürgerte und bis heute in der Fachliteratur als Bezeichnung für den hier zu untersuchenden Bautrakt verwendet wird, soll sie trotz ihrer wegen der zeitlichen Abgrenzung dieser Arbeit zugegebenen Fragwürdigkeit verwendet werden.

Der Neubau wurde im Vergleich mit anderen Bauprojekten zügig vorangetrieben, vielleicht auch, weil er vor der Ankunft des Kaisers Karl V. im Winter 1539 fertiggestellt sein sollte. Der erwartete hohe Gast sollte ursprünglich im angrenzenden ‚Pavillon des Poêles’ residieren und wohl nicht auf eine unfertige Baustelle blicken müssen. Auch könnte deren Aussenfassade mit ihrem noch zu beschreibenden Ornamentum als indirekter politischer Hinweis für den Kaiser gedacht gewesen sein.3 Tatsächlich betrug die gesamte Bauzeit nur knapp drei Jahre, der Zeitplan wurde also eingehalten. ← 2 | 3 →

Der Bauherr der neuen Galerie war eindeutig François Ier. Die Frage nach einem direkt verantwortlichen Architekten ist aber umstritten. Immer wieder erwähnt wird Gilles de Breton, der aber in den ‚comptes’4 und von Serlio nur als ‚maçon’ bzw. ‚muratore’ bezeichnet wird.5 Gilles le Bretons’ Präsenz in Fontainebleau ist seit dem 1. August 1527 nachgewiesen, und zwar durch den Eintrag einer Zahlung für ‚ouvrages de maçonnerie’.6 Am 28. April 1528 wird er mittels Eintrags in die ‚comptes’ zum Bauleiter von Fontainebleau ernannt.7 Auch für die Zeit der Errichtung der Galerie (1537-40) ist seine Präsenz nachgewiesen. Ein leitender Architekt war zu dieser Zeit noch nicht am Hofe tätig.8 Obwohl ein Maurer, auch wenn er Leiter der Bauwerkstatt war, sicher nicht über die notwendige theoretischen Vorbildung und schon gar nicht über Kenntnisse der neuen, am italienischen Vorbild sich orientierenden Bauformen verfügte, gilt er als der Hauptverantwortliche für die Baumaßnahmen. Beraten wurde er wohl von den dem Hofe zugehörigen Humanisten. Das nehmen zumindest Prinz und Eschenfelder an.9 Ab 1530/32 werden Rosso Fiorentino und Francesco Primaticcio bei den Baukonzeptionen mitgewirkt haben. Sie waren zwar in erster Linie für die dekorative Ausgestaltung des Schlosses zuständig, führende Künstler galten aber zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch als Experten für darüber hinausgehende Aufgaben, wie z.B. ephemere Festdekorationen, Gartengestaltung, Skulptur, Bronzeguss und Architekturentwürfe. Die künstlerischen Sparten waren personell noch nicht so getrennt wie in den nachfolgenden Jahrhunderten. Die ‚Galerie François Ier’ zeigt dies zumindest im dekorativen Bereich, in dem Rosso Fiorentino unter Mitarbeit seiner Werkstattgehilfen Freskomalerei mit Relief ← 3 | 4 → darstellungen, Mosaiktechnik und Plastik kombinierte. Auch Primaticcio war derart vielseitig beschäftigt. Louis Dimier bezeichnet ihn deshalb als „pittore, scultore ed architecto a uno stesso tempo’.10 Er erwähnt darüberhinaus, dass der Künstler später als Architekt für die ‚Guisa’ arbeitete, für den ‚Cardinal di Lorena’ die Grotte von Meudon baute und von Catarina de’ Medici 1559 zum ‚direttore delle Fabriche Reali’ ernannt wurde, was nach Dimier als Krönung seiner Laufbahn anzusehen sei, da er von nun an nur noch als leitende Aufsicht, auch über die königlichen Architekturen, tätig war.11 Offensichtlich wurde den führenden italienischen Malern, Bildhauern und Stuckateuren auch die Planung von Architekturen überantwortet. Rosso und Primaticcio werden sich zumindest dafür eingesetzt haben, dass die neue Galerie mit einem Tonnengewölbe ausgestattet wurde, was in Frankreich bis dahin nicht üblich gewesen war. Sowohl die Galerie François Ier als auch der Ballsaal haben flache, kassettierte Holzdecken. Bisher waren für langgestreckte Räume – wie Galerien oder Räume mit Loggiencharakter – in Frankreich diese Kassettendecken, meist kunstvoll aus Holz geschnitzt, verwendet worden. Beide Künstler können ihre theoretischen, auf die Architektur bezogenen Kenntnisse, die Voraussetzung für die Beratertätigkeit waren, nur aus der unmittelbaren Anschauung italienischer Bauten und aus der vorhandenen Literatur bezogen haben. Hier galt Vitruv12 als Grundlage, aber verbreiteter, weil leichter lesbar und neueren Datums war Albertis ‚De re aedificatoria’,13 an dem der Autor bis zu seinem Tod 1472 gearbeitet hatte und das sein Bruder posthum den Medici gewidmete, sicher in der Hoffnung, dass diese die Schrift durch Drucke verbreiten würden. Dies geschah auch: 1485 erschien die erste lateinische Druckfassung in Florenz, 1511 eine in Straßburg, 1512 eine weitere in Paris. Schon vorher kursierten italienische Teilübersetzungen, von denen sich heute noch eine in der Biblioteca Ricardiana erhalten hat. Bevor die Inflation der Architekturtraktate mit Serlio, Vignola, Philibert Delorme etc. einsetzte, war die Schrift Albertis diejenige, die neben Vitruv die Architektur der französischen Renaissance wohl am stärksten beeinflusste. Die lateinische Version von ‚De re aedificatoria’ war dabei für die gebildeten Franzosen kein Lesehindernis, da La ← 4 | 5 → tein hier bis 1539 Amtssprache war14 und von der Oberschicht verstanden wurde. Auch Rosso und Primaticcio hatten Lateinkenntnisse. In dieser Arbeit wird daher auf diese Schrift noch häufiger Bezug genommen.

Wenn auch die geistige Urheberschaft des Neubaus nur mit Hilfe begründeter Annahmen festgestellt werden konnte, so steht doch fest, dass das Konzept für dessen Ornamentum zunächst den beiden führenden Künstlern, Rosso und Primaticcio, nach dem Tod Rossos (1540) allein Primaticcio zugeschrieben werden kann. Da der Aufstockungstrakt als Bauwerk vor 1540 fertig wurde, sind Rosso und Primaticcio gemeinsam für dessen Außenornamentum zuständig, während das später begonnene Innenornamentum ausschließlich von Primaticcio verantwortet wird. Da Primaticcio bis 1570 lebte und auch bis zum Ende seines Lebens arbeitete, konnte er das gesamte Ornamentum der Galerie gestalterisch zu Ende führen. Er hatte sich dabei auf mehrere sukzessive Auftraggeber und deren unterschiedliche Erwartungen einzustellen: nach dem Tod von François Ier auf dessen Sohn und Nachfolger Henri II (1547-1559), danach auf die Könige François II (1559-1560) und Charles IX (1560-1574).

Nach ihrer Fertigstellung galt die Galerie d‘Ulysse über zwei Jahrhunderte als die berühmteste Galerie Frankreichs. Durch den Abriss 1738 geriet sie aber mehr und mehr in Vergessenheit, obwohl sich einige Wissenschaftler, wie z.B. Dimier15, noch mit ihr beschäftigten. Dimier sammelte die vorhandenen Quellen, ordnete und interpretierte sie teilweise. Aber erst durch die Forschungen von Sylvie Béguin, Jean Guillaume und Alain Roy wurde sie wirklich wieder zum Leben erweckt.16 Den Autoren kam bei dieser Arbeit zugute, dass sie in leitenden Positionen arbeiteten und dadurch die Möglichkeit der Auffindung der noch existierenden schriftlichen und bildlichen Quellen weit besser ausgeschöpft werden konnte, als es Personen hätten leisten können, die nicht über ein derartiges Netzwerk verfügen.

Die die Architektur betreffenden Quellen wurden von Jean Guillaume zu grafischen Rekonstruktionen, auch Restitutionen genannt, umgeformt, die noch vorhandenen Bildquellen lokalisiert. Ikonografische Gesamtanalysen wurden nur ansatzweise geliefert. ← 5 | 6 →

Die Veröffentlichung zog in Frankreich eine wissenschaftliche Diskussion nach sich, insbesondere von Claude Mignot17 und Françoise Boudon/Jean Blécon18. Die Autoren unternahmen es, einige der Forschungsergebnisse zu revidieren; so z.B. die Anzahl der Fresken des Odysseezyklus (nach Mignot statt der behaupteten achtundfünfzig doch ursprünglich sechzig, wie es auch in Vasaris Viten steht), deren Anordnung, die zusätzlichen trompe-l’œil-Fenster der Südseite, Anzahl und Standorte der Kamine etc. Deren Überlegungen haben die Forschungsarbeit des Béguin-Teams nur komplettiert, nicht aber zerstört.

In der neueren deutschen Fachliteratur zum französischen Schlossbau und dessen Ornamentum wurde die Galerie d‘Ulysse trotzdem meist nur kurz oder gar nicht erwähnt.19 Im Vordergrund der Schriften stehen die heute noch erhaltenen Bauteile, wie z.B. die Galerie François Ier, der Ballsaal, die Porte Dorée. Das erstaunt, denn durch die ‚archäologischen’ Arbeiten der aufgeführten Autoren ist es möglich geworden, sich ein Bild von dem Bauwerk und deren wegweisender Ausgestaltung zu machen. Ein Vergleich mit den Ausstattungen der französischen Galerien der nachfolgenden Jahrhunderte macht deutlich, dass hier ein künstlerisches Werk geschaffen worden war, das unsere Sicht auf die französische Renaissance der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verändern muss, denn das Ornamentum stellt das Ergebnis eines neuen Konzepts dar, das sich weitgehend ohne Vermischung mit französischen Traditionen an italienischem Kunstschaffen orientierte und – was besonders wichtig ist – kaum direkt-repräsentative Hinweise enthält. Möglich wurde dies nur durch die relative Freiheit, die die emigrierten italienischen Künstler aufgrund des speziellen Patronagesystems, das unter François Ier entwickelt wurde, genossen. Es existierte nur während der Regierungszeit von François Ier und wurde unter den nachfolgenden Königen nach und nach durch eine stärker politisch gesteuerte Kunst ersetzt. ← 6 | 7 →

Die hier vorgelegte Arbeit beabsichtigt, das Konzept der Ornamentierung der Galerie d‘Ulysse auf der Basis der Forschungsergebnisse des Béguin-Teams und der revidierenden Ergänzungen durch Mignot und Boudon/Blécon zusammenzuführen und zu einem hermeneutischen Verstehen zu erweitern.20 Hierfür werden die Schwerpunkte anders gesetzt, als das bisher der Fall gewesen ist. So wird z.B. das Grotteskenornamentum als ein relativ eigenständiger Bereich der Deckenausgestaltung analysiert und die astrologischen Zeichen innerhalb der Fresken werden in ihrer Bedeutung für die Bildaussage näher untersucht. Darüberhinaus wird versucht, einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den großen Fresken der Decke aufzuspüren. Auch sollen die vermuteten Motive für die Ornamentierungsentscheide zur Diskussion gestellt werden. Das Schwergewicht liegt somit nicht auf zusätzlicher Quellensuche. Die von den Kunsthistorikern gesammelten Quellen enthalten zwar Lücken, die sich aber wohl nicht mehr schließen lassen. Wie bei einem sehr komplizierten Puzzle, das nicht mehr vollständig erhalten ist, können sie jedoch durch begründete Annahmen ergänzt werden. Es ist klar, dass diese Ergänzungen – wissenschaftlich gesehen – nicht unproblematisch sind. Es wird aber versucht, diese Annahmen wenigstens indirekt abzusichern.

Zeitliche Abgrenzung

Der Bau der neuen Galerie und sein Außenornamentum wurden – wie bereits erwähnt – vor 1540 fertig. Wann mit dem Innenornamentum begonnen wurde, ist umstritten. In der älteren Fachliteratur wurde vermutet, dass Primaticcio sofort nach der Fertigstellung des Gebäudes mit der Ausgestaltung begann.21 Betrachtet man aber die vielfältigen anderwärtigen Tätigkeiten Primaticcios in den ersten Jahren nach seiner Ernennung, so erscheint dies unwahrscheinlich. 1540 reiste er nach Italien, um dort antike Skulpturen für den König zu erwerben bzw. Abgüsse von unverkäuflichen antiken Meisterwerken zu erstellen. Hierbei ← 7 | 8 → erwies er sich als derart geschäftstüchtig, dass er in den folgenden Jahren Experte für Antiken am französischen Hof wurde und im Auftrag des jeweiligen Königs 1543, 1544, 1545, 1546, 1550-51 und 1563 erneut nach Italien gesandt wurde. Zwischen 1541 und 1544 dekorierte er die Gemächer des Königs und seiner Favoritin, leitete den Bau der Bäderanlagen, gestaltete teilweise selbst die Ornamentierung der ‚Porte Dorée’ und schuf die ‚Grotte des Pins’.22 Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass die Innendekorationen der neuen Galerie direkt im Anschluss an die Fertigstellung des Gebäudes begonnen wurden. Vermutlich wurde erst nach 1544 damit angefangen.

Nachdem Primaticcio viele Jahre lang in untergeordneten Positionen gearbeitet hatte – seit 1527 in der Werkstatt Giulio Romanos in Mantua, danach unter Rosso in Fontainebleau – wird er sein erstes großes eigenständiges Werk nicht begonnen haben, ohne ständig anwesend sein zu können. 1547, im Todesjahr von François Ier, war jedoch erst die erste Hälfte der Gewölbedekoration vollendet.23 Das ergibt sich aus schriftlichen Äußerungen der Augenzeugen Père Pierre Dan und Pierre Guilbert, die bemerkten, dass das Emblem des Königs, der Feuersalamander, nur bis zur Mitte in die Deckendekoration eingefügt war. Der Arbeitsprozess wurde nach dem Tod des Königs vermutlich unterbrochen, da die ausführenden Künstler auch für die Begräbnisausgestaltung des Verstorbenen und die Dekorationen für die Krönungsfeierlichkeiten des neuen Königs, Henri II, zuständig waren. Danach wurde er aber – mit Ausnahme der Fresken des VIII. Kompartiments – ohne erkennbare Abänderungen zu Ende geführt. Der Nachfolger von François Ier, der drittgeborene Sohn Henri, der nur durch den Tod des Erstgeborenen (1536) und den des zweiten Sohnes (1544) König geworden war, setzte zunächst die von seinem Vater bereits in Gang gesetzten Ausgestaltungarbeiten des Schlosses fort, um an den Ruhm des als ‚père des arts ← 8 | 9 → et des lettres’ bezeichneten François Ier anzuknüpfen und so seine eigene Position zu stärken.24

Das Deckenornamentum wurde in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts fertiggestellt, nicht aber erst in den Sechzigern, wie bisher wegen der von Père Dan erwähnten Chiffre Charles’ IX am westlichen Ende des Gewölbes, angenommen wurde. Dieses ist vermutlich bei späteren Restaurierungsarbeiten eingefügt worden. Aus technischen Gründen (Staubentwicklung bei der Bearbeitung der Stuckaturen, Farbspritzer etc.) konnte erst nach Fertigstellung der Decke mit dem Wändeornamentum begonnen werden. Der Auftraggeber für den Odysseuszyklus, mit dem die Wände dekoriert wurden, war Henri II, wie aus dessen Monogramm in dem Bild am Eingang der Galerie hervorgeht25. Der Zeitpunkt des Beginns der Arbeit an den Fresken gilt als abgesichert, seit ein Schreiben des spanischen Gesandten Gaspar de Vega an Felipe II vom 16. Mai 1556 aufgefunden wurde, in dem er berichtet, dass in der Galerie heftig gearbeitet werde.26 Seine Bemerkung kann sich zu diesem Zeitpunkt nur auf die Wände beziehen.

Das Ornamentum der Wände bestand nach Abschluss aller Arbeiten von unten nach oben betrachtet aus der

Details

Seiten
VI, 228
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653053654
ISBN (MOBI)
9783653967890
ISBN (ePUB)
9783653967906
ISBN (Paperback)
9783631662571
DOI
10.3726/978-3-653-05365-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Fassadenausgestaltung Domus Aurea Grottesken Ilias Homer Frührenaissance
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. VI, 228 S., 111 s/w Abb.

Biographische Angaben

Barbara Schmachtenberg (Autor:in)

Barbara Schmachtenberg studierte im Erststudium Wirtschaftspädagogik und Romanische Sprachen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Nach einer mehrjährigen Assistenzzeit und ihrer ersten Promotion unterrichtete sie im schulischen Oberstufenbereich und studierte im Anschluss Kunstgeschichte. Nach dem Magisterexamen absolvierte sie ein zweites Promotionsstudium.

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