Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Einleitung
- Psychiatrische Zwangsbehandlungen – medizinisch notwendig oder unzulässige Gewalt? Institutionenethische Forderungen zum Schutz der Rechte von Personen mit psychischen Problemen
- Ärztlich assistierter Suizid bei psychisch Kranken
- Ethische Probleme in der Gerontopsychiatrie
- Restriktion oder Harm Reduction? Ethische Aspekte der aktuellen Rechtsprechung in der Substitutionsbehandlung
- Ethik in der Psychotherapie – einige Anmerkungen unter Berücksichtigung der Kunsttherapie
- Cognitive-behavioural psychotherapist as ethicist
- Beiträge zum Schwerpunkt Antoni Kępiński
- Antoni Kępiński (1918–1972) – Eine Skizze zu Biographie und Werk des polnischen Psychiaters, Psychologen und Philosophen
- Ethical foundation of Antoni Kępiński’s psychiatry
- Quellen
- Das sogenannte KZ-Syndrom. Versuch einer Synthese
- Der Begriff der Psychopathie und das Wertesystem
- Korrespondenzadressen der Autorinnen und Autoren
Psychiatrie und Psychotherapie sind Bereiche der medizinischen Praxis, die in besonderer Weise ethische Fragen aufwerfen. Dies liegt einerseits an der Komplexität und Varianz psychischer Störungen. Andererseits stellt die Vulnerabilität psychisch erkrankter Patienten* eine besondere ethische Herausforderung für die Bereiche Psychiatrie und Psychotherapie dar.1 Zentrale ethische Fragen sind dabei auf die Wahrung der Selbstbestimmung des Patienten und auf das Informierte Einverständnis des Patienten innerhalb des Patient-Arzt/Therapeut-Settings bezogen. Es geht um ein wohltuendes und nicht schadendes Handeln vonseiten des Arztes/Therapeuten. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass den einzelnen medizinethischen Prinzipien in Psychotherapie und Psychiatrie besondere Bedeutung zukommt. Die aktuelle Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zeigt,2 dass Fragen der Selbstbestimmung eine wesentliche Rolle in Psychotherapie und Psychiatrie spielen.
Patienten mit einer psychischen Störung verlieren durch ihre Krankheit nicht notwendig ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung des Patienten ist aber in zahlreichen Bereichen von Psychiatrie und Psychotherapie gefährdet. Wie aber ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung eines Patienten mit einer psychischen Störung zu bewerten und sicherzustellen? Ab wann darf und muss die Selbstbestimmung des Patienten eingeschränkt werden? Wie sind Zwangsbehandlungen ethisch zu beurteilen? Auch das Prinzip des Informed Consent stößt in der Psychiatrie und Psychotherapie immer wieder an Grenzen. Wie kann ein Informiertes Einverständnis eines Patienten zu einer psychiatrischen Behandlung ← 7 | 8 → sichergestellt werden? Unter welchen Bedingungen kann auf den Informed Consent beispielsweise im Rahmen von Zwangsmaßnahmen verzichtet werden? Und wie kann eine evidenzbasierte, informierte und partizipative Entscheidungsfindung innerhalb des Patient-Arzt/Therapeut-Settings herbeigeführt werden?
Unter Umständen scheint es kaum möglich, dem Patienten das zur vollen Aufklärung über eine Behandlung notwendige Wissen adäquat zu vermitteln, beispielsweise weil der Patient aufgrund einer fortschreitenden Demenz die ihm gegebenen Informationen sehr schnell vergisst. Dennoch ist der Patient durchaus in der Lage, seine Situation zu verstehen und zu beurteilen. Es ist fraglich, ob von einem Informed Consent gesprochen werden kann, wenn der Patient wichtige Informationen schnell vergisst oder unsicher ist, ob er sie versteht. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Umstand, dass von psychischen Störungen oftmals nicht nur das Wohl der Patienten selbst betroffen ist, sondern häufig auch das weiterer Personen. Gemeint sind beispielsweise das familiäre Umfeld, aber auch außenstehende Dritte, die gefährdet werden können. Das soziale Umfeld ist bei psychischen und somatischen Erkrankungen und Störungen von großer Bedeutung. Zugleich können bestimmte Informationen großen Einfluss auf den Bestand dieses Umfeldes haben, beispielsweise auf den Erhalt eines Arbeitsplatzes.3 Ärzte/Therapeuten müssen hier zwischen dem Wohl des Patienten und der Gefährdung Dritter abwägen. In welchen Fällen darf oder muss ein Arzt seine Schweigepflicht gegenüber Dritten brechen? Wie sollte in Fällen entschieden werden, in denen akute Behandlungsziele und langfristige Behandlungsziele einander widersprechen? Dies kann im Rahmen von Zwangsmaßnahmen der Fall sein. So etwa dann, wenn der akute Zustand des Patienten eine Zwangsbehandlung notwendig macht, obwohl damit die für langfristige Therapieziele enorm wichtige Bindung zwischen Patient und Arzt/Therapeut gestört wird. Auch im Fall von Entzugsbehandlungen kann ein kurzfristiges Ziel (Therapietreue durch fortgesetzten aber verringerten Konsum) einem langfristigen Therapieziel (kein Konsum) widersprechen.
Diese und weitere Fragen bildeten den Hintergrund für die Tagung „Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie“, die vom 24. bis 25. Juli 2013 stattfand.4 Auf Einladung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in ← 8 | 9 → Polen und Deutschland (https://blogs.urz.uni-halle.de/medizinethik) traf sich ein internationaler und interdisziplinärer Wissenschaftlerkreis in Frankfurt (Oder). Im Mittelpunkt der Arbeit des Arbeitskreises, der 2012 gemeinsam von Florian Steger (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Jan C. Joerden (Europa-Universität Viadrina) und Andrzej M. Kaniowski (Uniwersytet Łódzki) gegründet wurde, stehen aktuelle medizinethische Fragestellungen. Vor allem die Anwendung medizin- und bioethischer Theorien in der Praxis bilden einen Kern der Arbeit des Interdisziplinären Arbeitskreises. Bei der ersten Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises in Halle (Saale) standen Fritz Jahr (1895–1953) und dessen Schriften im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.5 Der protestantische Pfarrer Fritz Jahr bestimmte bereits 1926 den Begriff der Bioethik in einer umfassenden Weise und hob dabei auf Fragen des Umganges des Menschen mit den Tieren und Pflanzen ab. Jahrs 1926 erstmals formulierter Bioethischer Imperativ lautet: „Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen!“6 Dieser Begriff unterscheidet sich fundamental vom bisher etablierten Begriff der Bioethik nach Van Rensselaer Potter (1911–2001) sowie André Hellegers (1926–1979), der vor allem medizinethische Fragen umfasst.7 Fritz Jahr hingegen forderte nicht nur einen verantwortungs- und respektvollen Umgang mit den Menschen, sondern erweiterte diese Forderung auf den Umgang mit Tieren und Pflanzen unabhängig von deren Nutzen.
Im Verlauf der zweiten Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises in Frankfurt (Oder) nahmen Antoni Kępiński (1918–1972) und dessen Arbeit einen zentralen Stellenwert ein. Der polnische Psychiater und Philosoph sowie sein Werk ← 9 | 10 → haben insbesondere in Polen eine hohe Bedeutung8 und werden zunehmend auch in Deutschland rezipiert.9 Für Kępińskis Arbeit zentral ist seine Theorie der Psyche als Informationsmetabolismus.10 Analog zum Energiemetabolismus, der Verarbeitung von Energie durch den Körper, sieht Kępiński die Psyche als informationsverarbeitende Struktur. Diese Struktur ist die Basis individueller Werteordnungen und ermöglicht zugleich eine Orientierung des Menschen in seiner Umwelt.11 Psychische Störungen sind nach Kępiński Ausdruck einer fundamentalen Störung dieser Werteordnungen, in deren Folge Patienten die Fähigkeit verlieren, Informationen zu verarbeiten und in adäquate Handlungen umzusetzen. Kępińskis Werk wird in Polen vielfach rezipiert. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen dabei Kępińskis medizinethische Beiträge zur Psychiatrie. In diesem Kontext widmete Kępiński dem Patient-Arzt/Therapeut-Verhältnis in der Psychiatrie und Psychotherapie große Aufmerksamkeit.12 Eine internationale Rezeption von Kępińskis Arbeiten konnte sich bisher kaum entwickeln, zumal bisher nur wenige seiner Aufsätze ins Englische übersetzt wurden.13 ← 10 | 11 →
Der vorliegende Band ist in zwei Teile gegliedert und geht auf das beschriebene Desiderat ein. Im ersten Teil des Bandes haben wir Beiträge zusammengestellt, die aus deutscher oder polnischer Perspektive Fragen von Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie aufgreifen. Der zweite Teil des vorliegenden Bandes fokussiert auf Antoni Kępiński und dessen Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen in der Psychiatrie und Psychotherapie. So eröffnen den zweiten Teil des Bandes Beiträge zu Kępiński und seinem Werk. Diese Ausführungen werden ergänzt um Beiträge von Kępiński, die wir in deutscher Sprache abdrucken. Damit soll ein weiterer Schritt hin zu einer stärkeren Rezeption Kępińskis in Deutschland unternommen werden.
Am Beginn des ersten Teiles dieses Bandes steht der Beitrag von Sigrid Graumann. Darin thematisiert Graumann die strukturellen Bedingungen von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. Sie argumentiert, dass aus ethischer Sicht eine Mehrheit dieser Zwangsmaßnahmen nicht gerechtfertigt sei. Diese seien ohnehin nur als ultima ratio mit sehr strengen Kriterien zu rechtfertigen. Graumann führt aus, dass ein Großteil dieser Zwangsmaßnahmen unter geeigneten strukturellen, also räumlichen, zeitlichen, personellen und konzeptionellen Bedingungen vermieden werden könnten. Die angesprochene Thematik diskutiert sie auf der Grundlage des kantischen Begriffes der Menschenwürde und der daraus abgeleiteten Prinzipien der Autonomie, Fürsorge, Nichtschädigung und Gerechtigkeit. Sie fordert eine notwendige größere Reform psychiatrischer Versorgung und eine Reduktion von Zwangsmaßnahmen auf das notwendige Mindestmaß.
Christian Hick und Axel Karenberg geben in ihrem Beitrag zum ärztlich assistierten Suizid bei psychisch Kranken einen Überblick über den aktuellen Diskussionsstand zum PAS (= physician-assisted suicide) und die praktischen Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern. Daran anschließend diskutieren sie die Argumente für und gegen den PAS bei psychiatrischen Patienten. Hick und Karenberg unterscheiden hierbei zwischen genuin psychiatrischen Erkrankungen, somatischen Erkrankungen mit psychiatrischer Komorbidität und Demenzen. Während sie im ersten Fall einen PAS aus ethischer Sicht für nicht zulässig halten, unterscheidet sich für die Autoren ein PAS bei psychiatrischen Begleiterkrankungen und Demenzen nicht von dem PAS bei anderen Patienten, insofern der Patient entscheidungsfähig ist.
Den in zunehmendem Maße bedeutsamen Bereich der Gerontopsychiatrie stellt Thomas Reuster in seinem Beitrag Ethische Probleme in der Gerontopsychiatrie ins Zentrum. Reuster betont die Eigenheiten der in der Gerontopsychiatrie stark repräsentierten Erkrankungen, wie zum Beispiel Demenz. Diese würden in ihrem Verlauf zu einer Veränderung der Fähigkeit zur personalen Selbstbestimmung bis zu ihrem völligen Ausfall führen. Daher müsse das Prinzip der Selbstbestimmung des Patienten hinter das Prinzip der Fürsorge treten. Der Gefahr eines ← 11 | 12 → dadurch entstehenden paternalistischen Patient-Arzt-Verhältnisses sei durch die Einführung des Prinzips der Achtung der Würde zu begegnen. Im bisherigen auf Beauchamp und Childress beruhenden Vier-Prinzipien-Ansatz sei dieses Prinzip nicht vertreten. Der Vier-Prinzipien-Ansatz gehöre, so Reuster, dementsprechend erweitert.
Auf einen weiteren wichtigen Teilbereich psychiatrischer Praxis hebt Annemarie Heberlein in ihrem Beitrag Substitutionsbehandlung oder Harm-Reduktion? Ethische Aspekte der aktuellen Rechtsprechung in der Substitutionsbehandlung ab. Heberlein untersucht die derzeitigen rechtlichen Bestimmungen zur Substitutionsbehandlung auf der Grundlage der ethischen Kriterien der Benefizienz, des Nicht-Schadens, der Selbstbestimmung des Patienten und der Gerechtigkeit. Der erwiesenen Wirksamkeit der Behandlung in Bezug auf den Gesundheitszustand von Opiatabhängigen steht der enge rechtliche Rahmen entgegen. Dieser schränkt nach Heberlein die therapeutischen Möglichkeiten enorm ein und begrenzt damit die Behandlungsfreiheit des Arztes. Die Argumente der Ärzte wie des Gesetzgebers werden insbesondere hinsichtlich der Schutzverpflichtung gegenüber den Patienten diskutiert. Heberlein macht deutlich, dass sich die derzeitige Rechtslage negativ auf Therapieziel und -verlauf auswirke. Insbesondere die Verpflichtung zur Abstinenz scheine häufig ein großes Hindernis für die Therapietreue des Patienten zu sein.
Florian Steger geht in seinem Beitrag Ethik in der Psychotherapie – einige Anmerkungen unter Berücksichtigung der Kunsttherapie auf die Gefahr der Verletzung ethischer Prinzipien im psychotherapeutischen Alltag ein. Er umreißt verschiedene Konfliktfelder. Dazu zählen neben dem Gebot der Schweigepflicht und der möglichen Einflussnahme Dritter Fragestellungen aus dem Bereich der Kunsttherapie. Die Kunsttherapie eröffne keine grundständig neuen ethischen Fragestellungen, stelle aber hinsichtlich der Frage nach dem Umgang mit Patientenarbeiten einen von der Psychotherapie verschiedenen Bereich dar. Auch die möglichen Konfliktfelder im Zusammenhang mit Grenzen und Transparenz im Patient-Therapeut-Verhältnis und der Vergabe von Therapieplätzen sind Gegenstand des Beitrages. Abschließend wird der Bereich der sexuellen Identität in den Blick genommen und ein professioneller, offener und vor allem nicht pathologisierender Umgang mit sexueller Diversität eingefordert. Steger zeigt, dass Ethik in Bezug auf die umrissenen Konfliktfelder nicht nur eine konfliktlösende Funktion besitzt, sondern vielmehr präventiv Konflikte zu vermeiden hilft. Zu einer professionellen Haltung des Therapeuten gehöre dessen ethische Reflektionsfähigkeit. Insbesondere in der Aus-, Fort- und Weiterbildung sollten die umrissenen Fragen Gegenstand einer vertieften Auseinandersetzung sein. ← 12 | 13 →
Katarzyna Marchewka und Bartłomiej Dobroczyński stellen mit ihrem Beitrag Cognitive-behavioural psychotherapist as ethicist verschiedene Konzepte professioneller Rollen vor. Um ein asymmetrisches oder gar hierarchisches Patient-Arzt/Therapeut-Verhältnis zu vermeiden, müsse sich der Therapeut auch als Philosoph und Ethiker verstehen. Marchewka und Dobroczyński beziehen sich hierbei vor allem auf die Konzepte von Karl Jaspers (1883–1969) und Alan Tjeltveit. In beiden Konzepten wird der Einfluss der Weltsicht des Therapeuten auf die Therapie und das Patient-Arzt/Therapeut-Verhältnis hervorgehoben. Dieser Einfluss ist weder hintergeh- noch vermeidbar und muss daher reflektiert werden. Der Therapeut findet sich in Situationen wieder, in denen seine Kompetenz als Ethiker und Philosoph gefragt ist. Diese Rolle bringt andere Anforderungen und Konsequenzen mit sich als die Rolle als Therapeut. Diese Rollen voneinander zu unterscheiden und zwischen ihnen zu vermitteln, mache die ethische und philosophische Kompetenz des Therapeuten aus.
Im zweiten Teil des vorliegenden Bandes stehen Person und Werk des polnischen Psychiaters und Philosophen Antoni Kępiński im Zentrum. Den Anfang machen hierbei Manuel Willer, Maximilian Schochow und Florian Steger in ihrem Beitrag Antoni Kępiński (1918–1972) – Eine Skizze zu Biographie und Werk des polnischen Psychiaters, Psychologen und Philosophen. Auf Basis der auf Deutsch beziehungsweise Englisch zugänglichen Texte Kępińskis und der dazu vorliegenden Sekundärliteratur rekonstruieren die Autoren die Biographie Kępińskis und die Grundzüge seines Werkes. Im Zentrum stehen dabei Kępińskis Forschung zum Auschwitzsyndrom und dem Informationsmetabolismus. Geprägt durch die eigenen Erfahrungen in der Lagerhaft hat Kępiński ab 1959 die psychischen Folgen der Lagerhaft untersucht. Die hierbei untersuchten Symptome und Krankheitsbilder fasste er unter dem Begriff des „Auschwitz-Syndroms“ zusammen und nahm damit das bis heute weit verbreitete und viel diskutierte Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung vorweg. Des Weiteren stellen die Autoren Kępińskis Modell der Psyche als Informationsmetabolismus vor und umreißen die daraus resultierenden ethischen Konsequenzen für die psychiatrische Praxis und medizinische Forschung.
Ethische Fragen in Bezug auf die psychiatrische Praxis und Forschung greift Paweł Łuków in seinem Beitrag Ethical foundation of Antoni Kępiński’s psychiatry auf. Łuków betont, dass mit Kępińskis „Philosophie der Medizin“ moderne Entwicklungen, insbesondere die Enthumanisierung der Medizin, zu kritisieren seien. Als Enthumanisierung der Medizin versteht der Autor die zunehmende Ökonomisierung der Medizin ebenso wie die Abwendung von individuellen Patientenbiographien hin zu einer Kategorisierung individueller Erkrankungen. ← 13 | 14 → Dies sei nicht nur in der Organisation und Funktionsweise moderner Medizin begründet, sondern vor allem in einem Selbstbild, das Ärzte/Therapeuten als Träger eines nicht-normativen Wissens versteht. Das Konzept einer auf moralisch neutralem Wissen beruhenden therapeutischen Praxis stoße jedoch im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie an seine Grenzen. Łuków argumentiert, dass Kępiński zufolge die therapeutische Praxis moralisches Wissen einbeziehen müsse, da die Informationsverarbeitung der Psyche auf moralischen Werten beruht.
Den Band schließen zwei Beiträge von Antoni Kępiński selbst ab. In seinem Text Das sogenannte Auschwitzsyndrom, 1970 in der polnischen Zeitschrift Przegląd Lekarski erschienen und 1994 erstmals auf Deutsch zugänglich gemacht14, umreißt Kępiński die bisherigen Ergebnisse seiner Forschung zu den psychiatrischen Folgeerkrankungen der Lagerhaft. Neben den Schwierigkeiten der Forschung, die beispielsweise in der unmöglichen Nachvollziehbarkeit der Erfahrungen der ehemaligen Häftlinge liegen, zeigt Kępiński die Erfolge und Ergebnisse der Forschung und fordert eine Aufnahme des „Auschwitz-Syndroms“ in die Gruppe der internationalen Krankheits-Klassifizierung. Das Ziel dieser Forschung war damit eine Erleichterung der Begutachtung und Anerkennung der psychischen Spätfolgen der Lagerhaft – im Hinblick auf die bis heute beschämende Umgangsweise mit Überlebenden der Vernichtungs- und Konzentrationslager ein leider nach wie vor sehr aktuelles Anliegen.
Der zweite in diesem Band veröffentlichte Text Kępińskis liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Es handelt sich um das erste Kapitel aus Kępińskis Buch Psychopatie,15 das zu Kępińskis Hauptwerken zählt. Der hier übersetzte Text bietet eine hervorragende Grundlage, um sich Kępińskis Modell der Psyche, dem Informationsmetabolismus zu nähern. Die Psyche konstituiert sich zwischen den Spannungsfeldern von Veränderbarkeit und Unveränderbarkeit und dem Drang bzw. der Notwendigkeit einer Klassifizierung von Erfahrungen und Eindrücken. Kępiński versteht die Psyche als Aufbau von Werteordnungen, die mit den Werteordnungen der Außenwelt kollidieren bzw. mit diesen alltäglich konfrontiert werden. In dieser Konfrontation strebt die Psyche nach einem Erhalt der eigenen Werteordnung, um Entscheidungen zu treffen, die der Außenwelt zwar gerecht werden, die eigene Integrität aber nicht verletzen. Daher ist immer wieder eine Anpassungsleistung der Psyche von Nöten, die nur in begrenztem Maße möglich ist, ohne das komplexe ← 14 | 15 → System von Werteordnungen nachhaltig zu stören. Die Konfrontation mit einer Erfahrung, die nicht mit der eigenen Werteordnung vereinbar ist, führt zu einer Verletzung der bestehenden Werteordnungen. Der Mensch ist dann außerstande, sich in seiner Umwelt zu orientieren und ihr angemessene Entscheidungen zu treffen. Kępińskis Theorie der Psyche und der Psychopathien stellt die individuelle Erfahrung des Patienten in den Vordergrund und betont die konkrete Erfahrung des Patienten als Ursprung psychischer Erkrankungen.
Details
- Seiten
- 231
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653059113
- ISBN (MOBI)
- 9783653965636
- ISBN (ePUB)
- 9783653965643
- ISBN (Hardcover)
- 9783631663936
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05911-3
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Juli)
- Schlagworte
- Medizinethik Patientenselbstbestimmung Antoni Kepinski Auschwitz-Syndrom
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 231 S., 6 Tab.