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Proust und der Krieg

Die wiedergefundene Zeit von 1914

von Uta Felten (Band-Herausgeber:in) Kristin Mlynek-Theil (Band-Herausgeber:in) Kerstin Küchler (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 226 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 22

Zusammenfassung

Proust ist ein genauer Archäologe der diskursiven und sensoriellen Spuren des Krieges, die er in seinem Romanwerk zu einem polyvalenten Rhizom montiert, das sich eindeutigen Zuweisungen willentlich entzieht. Vergeblich sucht man nach direkten Frontberichten des Ersten Weltkrieges oder Bildern zerstückelter Körper auf seinen Schlachtfeldern. Die in diesem Band versammelten Beiträge lesen den letzten Band des Proust’schen Romanwerks À la recherche du temps perdu als vielstimmige Archäologie des Ersten Weltkrieges, die aus einer epistemologischen, intermedialen, philologischen und erkenntnistheoretischen Perspektive analysiert wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorbemerkungen: Proust als Archäologe des Ersten Weltkrieges
  • Karlheinz Stierle - Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu
  • Volker Roloff - Der Krieg in der Perspektive des Erzählers und des Baron de Charlus
  • Angelika Corbineau-Hoffmann - Militarismus und Memoria: Die Figur des Robert de Saint-Loup
  • Luc Fraisse - Proust und der Erste Weltkrieg: literarische Zwiegespräche mit Joseph Reinach
  • Cécile Leblanc - Proust und die Musik der Kriegszeit: verschlüsselte Echos in Le Temps retrouvé
  • Walburga Hülk-Althoff - Kriegsstimmung vor 100 Jahren. Variationen von Schlafwandel und Schlaflosigkeit bei Proust, Zweig, Broch und Clark
  • Michel Gribenski - „De notre balcon“: Ästhetisierung des Krieges in Le Temps retrouvé?
  • Rebekka Schnell - Gestirne über bösen Häusern. Konstellationen des Krieges bei Marcel Proust und Paul Klee
  • Patricia Oster - Der Krieg in der filmischen Transposition von Le Temps retrouvé. Mediale Selbstreflexion
  • Karin Schulz - L’envie de parler de la guerre. Die textuelle (Un-)Sichtbarkeit des Krieges in der Konversation bei Marcel Proust
  • Autorinnen und Autoren

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Vorbemerkungen: Proust als Archäologe des Ersten Weltkrieges

Bei Proust ist man weit entfernt von den Schrecken der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, weit weg von zerstückelten Körpern und den Gerüchen verfaulender Kadaver, wie sie von Schriftstellern wie Ernst Jünger in ihren Werken beschworen werden.

Bekanntlich hat Proust, anders als andere Schriftsteller und Künstler seiner Zeit, den Krieg nie selbst auf dem Schlachtfeld miterlebt. Er ist vor allem ein Leser des Krieges, der mit Besorgnis die militärischen Theoriedebatten in den Tageszeitungen verfolgt: „Je m’ingurgite chaque jour tout ce que les critiques militaires français ou genevois pensent de la guerre“1. Auch wenn die Akribie, mit der Proust dabei seine Lektüre betreibt, seinesgleichen sucht, so ähnelt seine Situation doch der unsrigen heute, denn auch wir lesen größtenteils nur von den Kriegen in der Welt, lassen die flackernden Bilder einschlagender Raketen und Bomben an uns vorüberziehen, während uns der Krieg in seiner wahren Dimension verborgen bleibt.

Genau diese ambivalente Spannung zwischen der augenscheinlichen Distanz zum Kriegsgeschehen einerseits und der unstillbaren Neugier, jenes Unermessliche dennoch in seiner Tiefe auszuloten, andererseits scheint jedoch gerade einen stimulierenden Effekt auf die Kriegsdarstellung bei Proust auszuüben und spiegelt sich dementsprechend auch in der Recherche wider. So begegnet man beispielsweise Madame Verdurin bei der morgendlichen Lektüre der Kriegsnachrichten in der Zeitung, in der sie, von einer „douce satisfaction“ erfasst, die durch den Geschmack der Mischung aus Milchkaffee und Croissant hervorgerufen wird, von den tausenden Toten beim Untergang der Lusitania erfährt.2

Neben jener komisch-grotesk anmutenden Szene breitet Proust uns im letzten Band seines Romanwerks, Le Temps retrouvé, noch weitere diskursive Trümmer einer Archäologie des Ersten Weltkrieges aus, die im Zeichen einer Suche nach der Erfahrung des Krieges selbst stehen.

In der Polyphonie der Stimmen des Krieges, die Proust dabei zu Gehör bringt, entfaltet sich vor uns zugleich eine Art sensorisches Gedächtnis all jener Wahrnehmungen, die die Zeitgenossen Prousts vor dem Hintergrund des Krieges beschäftigt ← 7 | 8 → haben. Ob Madame Verdurin den Gästen ihres Salons nun vorschlägt, dass diese vorbeikommen mögen, um über den Krieg zu sinnieren,3 und damit zeigt, dass der Krieg nicht nur neue Moden hervorbringt, sondern selbst zu einem angesagten Thema in den bürgerlichen Salons wird, oder in Gestalt der permissionnaires, den Soldaten auf Fronturlaub, die bei ihren Spaziergängen durch Paris die Daheimgebliebenen beobachten, die sich amüsieren, als ob es den Krieg gar nicht gäbe,4 – der Krieg tritt uns in der Recherche in vielfältigen Gewändern entgegen.

Er figuriert in den Gesprächen der Angestellten und Kunden in Jupiens Männerbordell und bildet den Hintergrund erotischer Spiele in den Darkrooms der Katakomben des nächtlichen von Bombenanschlägen heimgesuchten Paris; er schlägt die Gedanken des Erzählers in seinen Bann, der sich in anthropologischen und philosophischen Reflexionen einzelner Aspekte des Krieges ergeht, ohne dabei jedoch eine Wertung vorzunehmen. Generell lässt der Erzähler, ein Moralist in seinem Verlangen, das menschliche Herz zu durchdringen, die dargelegten Fragmente unkommentiert und schließt sie damit an jenen archäologischen Gestus an, der die Recherche bestimmt.

Die verschiedenen Modulationen jener Stimmen des Krieges bei Proust lassen sich am besten vor dem Hintergrund der bekannten Barthes’schen Metapher des Textes als „chambre d’échos“5 erfassen, in dem es weder eine dominante Stimme noch feststehende Bedeutungen gibt. Dies zeigt sich bereits in der Figurenkonzeption, die sich willentlich in ebensolchen Verzweigungen und Verästelungen verliert wie das textuelle Rhizom selbst. Eine Schlüsselrolle nimmt hierbei die Figur Robert de Saint-Loups ein, eines Kriegshelden, der zwar im Männer-Bordell Jupiens sein Ehrenkreuz verliert, jedoch als Märtyrer auf dem Schlachtfeld stirbt, um seine Kameraden zu retten, während er noch am Tag vor seinem Tode die von ihm verehrte deutsche Musik rezitiert. Ebenso wie Saint-Loup erweist sich auch der Baron de Charlus als eine Figur der tausend Zeichen, als ein Virtuose der Maskeraden, der sich nicht auf eine eindeutige Bedeutungszuweisung reduzieren lässt. Ganz im Zeichen eines europäischen Geistes beteiligt sich Charlus nicht an den neuen bürgerlich-nationalistischen Kulten seiner Zeit, sondern wirkt in seiner Mittlerstellung zwischen der französischen und der deutschen Kultur beinahe transnational, was ihm jedoch die Verachtung und den Hohn der nationalistisch eingestellten Salons, allen voran desjenigen der Verdurins, einbringt. Entsprechend der vielfältigen Schattierungen, in denen uns die Fragmente des ← 8 | 9 → von Proust skizzierten Diskurses über den Krieg entgegentreten, erhebt der vorliegende Band in diesem Sinne nicht den Anspruch, eine endgültige und eindeutige Antwort auf die Frage nach der Funktion des Krieges innerhalb des Proust’schen Romanwerkes zu geben, sondern versteht sich vielmehr als eine „boîte à outils“6 im Foucault’schen Sinne, derer sich die Leserinnen und Leser bedienen können, um den Verästelungen des Diskurses zu folgen.

Die in diesem Band versammelten Beiträge, die sich der Kriegsdarstellung bei Proust dabei aus einer transdisziplinären, intermedialen, philologischen und erkenntnistheoretischen Perspektive heraus nähern, eint somit der Versuch, die Figuration des Krieges in der Recherche nicht lediglich als thematisches Element zu begreifen und ihr im Sinne einer Motivschau nachzuspüren, sondern die spezifische Proust’sche Erfahrung und Wahrnehmung des Krieges in den wahrnehmungsästhetischen, epistemologischen und poetologischen Gesamtzusammenhang des Romanprojekts einzuordnen. Auch wenn die Beschäftigung mit der Kriegsthematik in der Proustforschung zunächst eine eher untergeordnete Rolle spielte, aus der in den 1990er und 2000er Jahren jedoch einige einschlägige Studien7 hervorgehen, so kann man nun 100 Jahre nach jenem Schlüsselereignis beobachten, dass das Thema letztlich doch ein reichhaltiges Forschungsfeld der Proustianer geworden ist.8

KARLHEINZ STIERLE zeigt u.a., inwiefern das im Zeichen neuester Technik stehende Jetzt des Krieges für Marcel eine im Vergleich zur Zeitenthobenheit der Erinnerung konträre Zeiterfahrung darstellt und wie sich letztlich beide Zeitgestalten in seinem Schreibprojekt zu einem kohärenten Zeitwerk zusammenfügen. ← 9 | 10 →

VOLKER ROLOFF subsumiert unter dem Begriff der „Metamorphosen“ die komplexen Veränderungen, die der Krieg verursacht und die nicht nur das gesellschaftliche Gefüge, sondern auch das Romanprojekt in seiner Komposition und Struktur nachhaltig beeinflussen. Als Schlüsselfiguren dieser Modifikationen im Roman hebt er neben dem Erzähler besonders Charlus und Gilberte hervor.

ANGELIKA CORBINEAU-HOFFMANN untersucht die Funktion der Figur Robert de Saint-Loups für die Komposition und die Poetik der Recherche und zeigt, inwiefern der Krieg durch Saint-Loups Biographie in seiner kollektiven, historischen Dimension im Roman hervortritt.

LUC FRAISSE befasst sich in seinem Beitrag mit den intensiven Lektüren, mit denen Proust den Ersten Weltkrieg tagesaktuell verfolgt. Besonders die im Figaro erscheinende Militärchronik des Historikers Joseph Reinach hat, wie der Autor darlegt, einen ebenso nachhaltigen wie zwiespältigen Widerhall in der Recherche gefunden, wobei Proust dieser Lektüre gleichermaßen geschichtsphilosophische wie auch stilistische Impulse abringt.

Auch CÉCILE LEBLANC widmet sich Prousts aufmerksamer Presseschau, allerdings in Bezug auf die musikalischen Debatten der Kriegsjahre. Auf dem Gebiet der Musik wird, wie die Autorin an verschiedenen Beispielen zeigt, nicht nur der nationale Konflikt mit dem deutschen Kriegsgegner ausgetragen und reflektiert, auch der Krieg selbst liefert neue Klangkulissen, die in die musikalische Zukunft weisen.

WALBURGA HÜLK-ALTHOFF rehabilitiert in ihrem Beitrag die literatur- und erst recht geschichtswissenschaftlich lange vernachlässigte Denkfigur der „Stimmung“, um der literarischen Evokation des Krieges nachzuspüren, dessen Wirklichkeit sich bei Proust – ebenso wie bei anderen zeitgenössischen Autoren – vermittels Metaphorisierungen, Schichtungen und Überblendungen zu einer nur künstlerisch möglichen vue d’ensemble verdichtet.

Dem spezifischen Proust’schen Wirklichkeitsentwurf widmet sich auch MICHEL GRIBENSKI, wenn er fragt, ob die „beauté esthétique“, von der in der Recherche angesichts der Kriegshandlungen über Paris die Rede ist, tatsächlich von einer Ästhetisierung des Krieges zeugt oder ob die ästhetische Dimension des Krieges bei Proust nicht viel eher Teil seiner künstlerischen Erfassung der Wirklichkeit und somit in das poetologische Gesamtprogramm des Romans einzuordnen ist.

Auf Prousts Tableau des Sternenhimmels über Paris nimmt auch REBEKKA SCHNELL Bezug, die es der Bildwelt Paul Klees gegenüberstellt und zeigt, inwiefern sowohl Proust als auch Klee – im Wechselspiel von Bild und Text – den Krieg als eine dem Himmel über der Stadt eingeschriebene Wahrnehmungsspur sichtbar machen, die sich über die kosmische Ordnung des alten Sternenhimmels legt. ← 10 | 11 →

Eine ebenfalls intermediale Fragestellung verfolgt der Beitrag von PATRICIA OSTER. Sie demonstriert, wie es Raoul Ruiz in seiner Verfilmung von Le Temps retrouvé gelingt, die bei Proust angelegte Palimpseststruktur der Erinnerung in filmische Bilder zu übertragen, wobei er – unter dem Vorzeichen von Sehen und Nichtsehen – die medialen Bedingungen des Films selbst hinterfragt.

KARIN SCHULZ schließlich beleuchtet, auf welche Weise der Krieg in die Konversationskultur im Salon von Mme Verdurin hineinwirkt und wie Proust den Einbruch des Außergewöhnlichen des Krieges in die gesellschaftliche Gewohnheit des Salons narrativ ausgestaltet.

Die Publikation ist aus dem Kolloquium Proust et la guerre. Le temps retrouvé de 1914 hervorgegangen, das am 27.05.2014 an der Universität Leipzig stattfand. Wir bedanken uns bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die anregende Diskussion sowie bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Unser besonderer Dank gilt dem Institut français d’Allemagne, das unsere Veranstaltung unterstützt hat.

Leipzig, Februar 2016
Uta Felten, Kristin Mlynek-Theil, Kerstin Küchler


1 Reinhard Hohl, „Proust et la Grande Guerre – Proust und der 1. Weltkrieg“, in: Proustiana XXIII, Frankfurt a.M., Insel, 2005, S. 93–121, hier S. 105.

2 Vgl. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, 3 Bde., hg. v. Pierre Clarac und André Ferré, Paris, Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, 1954–1966, Bd. III, S. 772f.

3 Vgl. Proust, 1954–1966, Bd. III, S. 730.

4 Vgl. in diesem Zusammenhang die Analyse von Volker Roloff in diesem Band.

5 Roland Barthes, Roland Barthes par Roland Barthes, Paris, Seuil, 1983, S. 78.

6 Gilles Deleuze, „Les intellectuels et le pouvoir. Entretien entre Michel Foucault et Gilles Deleuze“, in: Arc 49, Mai 1972.

7 Thomas Klinkert, Lektüren des Todes bei Marcel Proust (Sur la lecture IV), Köln, Marcel Proust Gesellschaft, 1998; Marion Schmid, „Ideology and Discourse in Proust: The making of ‘Charlus pendant la guerre’“, in: The Modern Language Review, Bd. 94, Nr. 4, 1999, S. 961–977; Brigitte Mahuzier, „Proust écrivain de la Grande Guerre. Le front. L’arrivée de la question de la distance“, in: Bulletin Marcel Proust 52, 2002, S. 85–100.

8 Brigitte Mahuzier, Proust et la guerre, Paris, Honoré Champion, 2014; Philippe Chardin, Proust écrivain de la Première Guerre mondiale, Dijon, Éditions universitaires, 2014; Alexis Eideneier/Reiner Speck (Hg.), Marcel Proust und der Krieg, Köln, Biblioteca Proustiana, 2015; Jürgen Ritte, Wolfram Nitsch, Proust und der Krieg (Internationales Kolloquium in Köln, organisiert von der Marcel Proust Gesellschaft im Jahr 2015); Hiroya Sakamoto, „Mobilität und Mobilisation: der Erste Weltkrieg aus Prousts Sicht“, in: Matei Chihaia/Katharina Münchberg (Hg.), Marcel Proust: Bewegendes und Bewegtes, Paderborn, Fink, 2013.

Details

Seiten
226
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631694725
ISBN (MOBI)
9783631694732
ISBN (PDF)
9783653062014
ISBN (Hardcover)
9783631666937
DOI
10.3726/978-3-653-06201-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Erster Weltkrieg Literatur Film Bildkunst Musik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 226 S., 4 farb. Abb., 11 s/w Abb.

Biographische Angaben

Uta Felten (Band-Herausgeber:in) Kristin Mlynek-Theil (Band-Herausgeber:in) Kerstin Küchler (Band-Herausgeber:in)

Uta Felten ist Professorin für französische, frankophone und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Leipzig. Kristin Mlynek-Theil und Kerstin Küchler sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für französische, frankophone und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Leipzig.

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