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Vom Ich erzählen

Identitätsnarrative in der Literatur des 20. Jahrhunderts

von Heribert Tommek (Band-Herausgeber:in) Christian Steltz (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 302 Seiten

Zusammenfassung

Narrative des Ich und des Selbst sind für die bürgerliche Kultur konstitutiv. Dieser Band beleuchtet, wie das Ich seit Rimbauds Fanal «Je est un autre» destruiert wurde. Nietzsches «Tod Gottes» entthronte das Ich. Ernst Mach erklärte es für «unrettbar», da er es auf seine einzelnen Elemente zurückführte, während Freud das Ich schließlich nach seinen Funktionen im psychischen Apparat zerlegte. Mit der Ich-Auflösung vollzog sich eine fundamentale metaphysische Krise. Die Beiträge zeigen, wie sich diese Auflösung als Katalysator für eine dynamisierte Modernisierung der Künste erwies. Denn paradoxerweise steht die Destruktion des Ich für eine neue, autonome Subjektkonstitution in der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Heribert Tommek, Christian Steltz - Vom Ich erzählen. Identitätsnarrative in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Einleitung
  • Corinna Schlicht - Das Leben ein Irrtum – Anagnorisis in den Einakterzyklen Arthur Schnitzlers
  • Christian Steltz - „Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein“ – Denormalisierungsangst und Normalisierungslust in Thomas Manns Tonio Kröger und Wilhelm Genazinos Mittelmäßiges Heimweh
  • Heribert Tommek - „Ein lose hängender Knopf“ oder die Lust, „eine reizende, kugelrunde Null im Leben zu sein“. Flüchtige Identität bei Robert Walser
  • Jürgen Daiber - „Das Ich und sein innerer Lärm“ – Kafka als Tagebuchschreiber
  • Christiane Dätsch - Verbergen als Geste der Entlarvung. Zu Ernst Weiß’ Roman Der Augenzeuge (1938)
  • Ursula Regener - Sehen, das sich blind stellt. Max Frischs Mein Name sei Gantenbein und die Schweizer Neutralität
  • Benjamin Kohlmann - Das Ich in der Revolte: Eine komparatistische Perspektive auf den Bildungsroman bei Jean-Paul Sartre, Doris Lessing und Peter Weiss
  • Katrin Max - Auf der Suche nach der Rebellion. Bürgertums-Imitatio als Adoleszenzerfahrung in der DDR-Literatur der 1970er Jahre (Plenzdorf, Brock, Kunze)
  • Verena Gold - ‚Abfall‘ und ‚Abschaum‘ – Identifizierung und Kategorisierung als Voraussetzung des Identitätsverlusts in Gisela Elsners Berührungsverbot und Ingeborg Bachmanns Malina
  • Isabella von Treskow - Fremdheitserfahrung und Fremdheitseffekte bei Natascha Wodin und Hélène Cixous
  • Katharina Boehm - ‚I am everyone‘: Kollektiv und Ich-Narrativ in Salman Rushdies Midnight’s Children und The Moor’s Last Sigh
  • Andreas Heimann - Unterm Strich viel Ich. Das Spiel mit Ich-Dissoziationen und der Raum des Realen in Jan Brandts Gegen die Welt und Terézia Moras Das Ungeheuer
  • Alexandra Pontzen - Autofiktion als intermediale Kommunikation: Französische und deutschsprachige Ich-Narrationen der Gegenwart im Vergleich (M. Houellebecq, T. Glavinic, G. Grass, F. Hoppe, M. Köhlmeier, D. Leupold und C. J. Setz)

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Heribert Tommek & Christian Steltz

Vom Ich erzählen. Identitätsnarrative in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Einleitung

„Identität“, „Ich“ und „Individualität“ – das sind Grundkategorien der abendländischen Kulturgeschichte: Im Ursprung ist das Ich ge- und besetzt von Jahwe: „Ich bin, der ich bin. Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14), dann wird das Ich ab der Neuzeit auch für den Menschen zentral: in der Philosophie spätestens seit Descartes’ „Cogito ergo sum“ (1641) und in der Literatur vor allem seit dem bürgerlichen Aufklärungszeitalter und seiner Idee von der (Selbst-)Bildung des Subjekts als intelligible Einheit. Die transzendentale Subjektphilosophie Immanuel Kants erhob das Subjekt zur wirklichkeitskonstituierenden Instanz. Johann Gottlieb Fichte setzte das Ich gar absolut: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns“,1 behauptete der Philosoph selbstbewusst.

Die Moderne, die sich literarisch schon um 1800 ankündigt und sich Ende des 19. Jahrhundert durchsetzt, ist dagegen von einem Dissoziationsprozess geprägt. Dieser greift die Identität, die autonome Selbstbegründung des Subjekts, im Innersten an, setzt sie heteronomen Bestimmungen aus und erklärt schließlich das Ich zur „unrettbaren“ Kategorie, wie es Ernst Mach in seinen Schriften ausgeführt und sein Verehrer Hermann Bahr in einem Essay auf die griffige Formel gebracht hat.2 Das Ich erkennt sich in der gespiegelten Selbstanschauung nicht mehr wieder. Es ist jetzt keine Substanz, sondern bloß noch Bündel von Sinneselementen. „Unrettbar“ ist die transzendentale Ich-Einheit, weil sie sich im Zuge der Säkularisierung und der Ausdifferenzierung des Wissens zu mannigfaltigen Funktionen gewandelt hat. Der von Ernst Cassirer 1910 beschriebene Wandel ← 7 | 8 → vom Substanz- zum Funktionsbegriff 3 macht also auch vor dem Ich-Begriff nicht halt. Die Psychoanalyse und ihre wissenschaftliche Objektivierung des Unbewussten weisen die Identität des Subjekts als permanent gefährdeten Energien-Haushalt aus. Bei Freud wird das Ich zu einer Instanz des psychischen Apparates, eingeklemmt zwischen Es und Über-Ich.4 Das Ich wird zur permanenten Schaltstelle, zum Bindungsfaktor der psychischen Vorgänge. Das Ich übernimmt eine Funktion, die mit Abwehroperationen darauf ausgerichtet ist, die Triebvorgänge zu binden und mit dem Über-Ich vereinbar zu machen. Auf den berühmten Befund einer Kränkung des Ich, da es nicht mehr „Herr im Hause“ sei, folgt die ebenso berühmte Forderung „Wo Es war, soll Ich werden“.5 Das Ich ist also nicht vorgängig gegeben, sondern Produkt einer progressiven Beherrschung des Es, seine Wegführung vom Lustprinzip und seine Hinführung zum Realitätsprinzip.

Aber diese Hinführung zum Realitätsprinzip scheitert häufig, bleibt auf halbem Wege stecken. Das kommt der Kunst entgegen. Denn die künstlerische und literarische Moderne schreibt in jede Form des rationalistischen Synthese- und Identitätsdenkens eine Differenz ein: von der Abweichung bis zum ganz Anderen. „Je est un autre“ hatte Rimbaud schon 1871 in einem Brief an einen Freund prophezeit und es waren immer die Künstler im Allgemeinen und die Dichter im Besonderen, die für das Nicht-Identische besonders sensibel waren und daraus den Antrieb für ihr künstlerisches Schaffen gewannen. Die Auflösung des Identitätsdenkens, die für eine Auflösung jeglicher Metaphysik stand, erwies sich als Katalysator für eine dynamisierte Modernisierung der Künste. Denn das transzendentale Vakuum, die Unhaltbarkeit des Substanz-Denkens, schuf neue Möglichkeitsräume und Dynamiken – nicht der zeitenthobenen Synthesen, sondern neuer Narrationen, d. h. Funktions- und Relationssetzungen, die sich in der Zeit entwickeln. Die Moderne des 20. Jahrhunderts bedeutet also ein relationales und funktionales Denken, das neue künstlerische Formen unter die Bestimmung der Zeit setzt. Ihre Speerspitzen sind die Avantgarden, die sich am weitesten in das Gebiet der Dissoziationen ← 8 | 9 → vorwagen. Sie sind ohne den Stachel der Differenz und die Beschleunigung der Zeit nicht denkbar – Identitätsdenken und Avantgarde sind daher unvereinbar.

In einer paradoxen Formulierung könnte man nun sagen, dass gerade die Auflösung des Identitätsdenkens und des Ich die Erzählung eines neuen künstlerisch-autonomen Subjekts möglich machte. Was von nun an erzählte, waren die ‚Elemente‘ selbst, das Unbewusste, die Strukturen und die Funktionen. Der Ich-Verlust führte so gesehen – entgegen Hofmannsthals Chandos-Brief 6 – nicht zum Verlust, sondern zum Gewinn einer neuen Sprache. So begründete Freuds Traumdeutung (1900) eine Hermeneutik der Sprache des Unbewussten. Die Dichter der Wiener Moderne nutzten seine Anleitung zur Dekodierung der Traumarbeit und lasen sie gleichsam rückwärts, um neue poetische Verdichtungen und Verschiebungen zu produzieren. Die internationalen historischen Avantgarden – allen voran der Dadaismus und Surrealismus – entwickelten auf dieser Grundlage und angesichts des Ersten Weltkrieges und der rasanten Entwicklung der Technik und Medien neue Narrative jenseits einer Subjekt-Objekt-Beziehung. Was erzählte, war ein subjektiviertes Objekt, das von einem objektivierten Subjekt nicht mehr klar zu unterscheiden war. ‚Es‘ sprach, ‚Es‘ erzählte, das ‚Es‘ wurde zum neuen Erzählsubjekt. Der rationalen Kontrolle entzogen, schien es einer neuen narrativen Notwendigkeit zur folgen, so in einem stream of consciousness oder in einer écriture automatique. Die Notwendigkeit der ‚Es‘-Narrationen stand dabei zugleich für eine Kunstautonomie.

Ein Gleiches gilt für die neuen Formen des depersonalisierten Erzählens, wie auch für die Grammatiken, Materialien und Medien, die in der Folge die Leerstelle des narrativen Subjekts einnahmen. Der russische Formalismus und der französische Strukturalismus formulierten sprachgestützte Grammatiken der Subjekt-, Sinn- und Wahrheits-Konstitution und der französische Nouveau Roman überführte diese Grammatiken in neue Narrative der Objektwelt ohne wahrnehmendes Subjekt. Zeitgleich entdeckten die amerikanische Beat-Generation und allgemein die postmodernen Theorien das Erzählpotenzial der Materialwelt der Populärkultur und der neuen Medien. Was hier erzählte, kam nicht aus einer Substanz-Tiefe, sondern aus einer Ästhetik der Oberfläche. Analog zur Warenproduktion pluralisierten sich die Subjekt-Identitäten und sie wurden gleichermaßen ‚flach‘. Die neuen Subjekte konstituierten sich in den Flächen und Zwischenräumen der Dinge, Medien und Lebensstile. Da hier Kontingenz und permanenter ← 9 | 10 → Wandel herrscht, wurde das Ich endgültig zur ‚flüssigen‘, transitorischen Identität.7 Manche Theoretiker der Postmoderne behaupten, dass hier das Anliegen der Avantgarde, die Überführung der Kunst in das Leben, massenhaft realisiert wurde; „Je est un autre“ als massenhafte, postmoderne Identität, als Produkt einer technischen Reproduzierbarkeit?

Eine andere Variante der sich nicht mehr aus einer Tiefenstruktur herausbildenden Subjekt-Konstitution stellen die flexibel-normalistischen Identitätsentwürfe dar.8 Identität ist hier ein permanentes Feststellungs- und Überprüfungsverfahren, ob man sich noch innerhalb des ‚Normalen‘ bewegt oder ob man die flexiblen Grenzen des Normalen unter- bzw. überschreitet. Diese Interdiskurse des Normalen (im Unterschied zum Normativen) nehmen in der Literatur insbesondere die Narrativ-Form der ‚(nicht-)normalen Fahrt‘ durch normalistische ‚Kurvenlandschaften‘ an.9 Subjekt-Bildungen resultieren hier nicht aus einer individuellen Tiefe, sondern aus einer Abgleichung mit Durchschnittswerten des Normalen in der Breite.10

Doch die produktive Auflösungsbewegung eines souveränen personalen Erzähl-Subjekts innerhalb der modernen Literatur erzählt nur die halbe Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der von Roland Barthes und Michel Foucault verkündete ‚Tod des Autors‘11 und die von Enzensberger angeregten Diskussionen um den ‚Tod der Literatur‘ von 196812 radikalisierten die Infragestellung der künstlerischen Autonomie. Der Autor-, Literatur- und Text-Begriff öffnete sich für die horizontale Ausdifferenzierung der Arbeitswelt, der Wissensgesellschaft mit ihren Diskursen und für die Alltagskultur mit ihren mannigfaltigen Sinn-Stiftungen. Die Auflösung des Autor-Subjekts führte im Dokumentarismus und in der politisch orientierten Literatur der sechziger und siebziger Jahre, die die Tradition des sozialistischen Realismus und Bildungsromans weiterführten,13 zu neuen, kollektiven Identitäten. ← 10 | 11 → Und in der Annäherung an die Alltagskultur prägte sich im deutsch-deutschen literarischen Feld eine Literatur der ‚Neuen Subjektivität‘ aus, die das Ich und seine Subjektkonstitution wieder als angestrebtes, oft aber an den Einwirkungen gesellschaftlicher Zwänge und Gewalt scheiterndes Projekt ins Zentrum des Schreibens rückte.14

Es lässt sich also eine gewisse Wiederkehr des Erzählsubjekts als personale oder kollektive Identität feststellen. Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint die personale Subjekt-Kategorie im Kontext eines ‚neuen Erzählens‘ eine regelrechte Renaissance zu erfahren. So hat sich in der französischen Gegenwartsliteratur das neue Genre der autofiction durchgesetzt, einer Umwertung der Autobiographie mit Mitteln der literarischen Fiktionalisierung.15 In Deutschland ist in den neunziger Jahren zunehmend die Rede von einer ‚Rückkehr des Autors‘,16 die auch eine ‚Rückkehr zum erzählenden Ich‘ in fiktiven oder tatsächlichen Autobiographien zu beinhalten scheint. Das neue Erzählen der Gegenwartsliteratur beruft sich auf eine ‚Rückkehr zur Realität‘ und zu den geschlossenen narrativen Diskursen, den Geschichten (récits). Auffällig ist nun, dass diese – zumindest in der französischen und deutschen Gegenwartsliteratur – proklamierte ‚Rückkehr‘ mit einer Bevorzugung realistischer Schreibverfahren und mit einer Absage an modernistisches Schreiben verbunden ist.17

Angesichts des skizzierten wechselhaften Narrationsprozesses – vom ‚unrettbaren‘ zum scheinbar ‚wiedergefundenen‘ Ich – zielt das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes darauf, Vorstudien für eine Reflexion der Entwicklung von Identitätsnarrativen und narrativen Subjektkonstitutionen im 20. Jahrhundert zu präsentieren. Anhand der Frage nach der Evolution von Identitätsnarrativen ließe sich nicht nur eine Geschichte der poetologischen Verfahren, sondern auch eine Genealogie der Literatur als spezifische Wahrnehmungs- und Wissensform schreiben, die zwischen ästhetischer ‚Moderne‘ und ‚Realismus‘ zu pendeln scheint.18 Wenn ← 11 | 12 → man nun das ‚unrettbare‘ und das ‚wiedergefundene‘ Ich, die die heuristischen Pole des umrissenen Spektrums darstellen, auf einer Metaebene als Selbstverhältnis und Selbstverständnis der Literatur bestimmt, so stellt sich die Frage, ob das ‚unrettbare Ich‘ der Literatur tendenziell nicht für eine Moderne steht, während das ‚wiedergefundene Ich‘ in der Literatur einen Realismus anzeigt? Wenn die klassische Moderne, die Avantgarden und das postmoderne Schreiben für ein Differenz-Denken standen, heißt das, dass das neue realistische Erzählen wieder ein Identitäts-Denken inthronisiert? Aber ist die klare Opposition zwischen ‚Identität‘ und ‚Differenz‘ in narrativen Zusammenhängen überhaupt haltbar? Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst der Begriff der ‚Identität‘ im Zusammenhang mit dem der ‚Narration‘ genauer reflektiert werden.

Zum Grundbegriff der Identität: allgemeine Bestimmungen der kollektiven und personalen Identität im 20. Jahrhundert19

Als Grundbegriff der abendländischen Kultur ist der ‚Identitäts‘-Begriff in zahlreichen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften zentral: Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Ethnologie, Kulturanthropologie, die Kulturwissenschaften und Geschichtswissenschaften, die Philosophie wie nicht zuletzt die Literaturwissenschaft kommen nicht ohne diesen Grundbegriff aus. Es handelt sich aber um einen schillernden, diffusen Begriff: Er bezeichnet kein reines, göttliches ‚Mit-sich-eins-Sein‘ (wie im platonischen Ideenhimmel als Garant für Identität), sondern er erweist sich stets als ‚irdisch‘, in sozialen und zeitlichen Verhältnissen. Dabei ist Identität mit normativen Aufforderungen verwoben, die sich mit menschlichen Praxisformen koppeln. Diese führen, wie Norbert Elias in Über den Prozess der Zivilisation (1939) und Michel Foucault z. B. in Wahnsinn und Gesellschaft (1961) gezeigt haben, zu zunehmend verinnerlichten Kontroll- und Disziplinardispositiven. Das Streben nach Subjektkonstitution und das Werden des Subjekts führen in einer Dialektik der Aufklärung einerseits zur Idee der Freiheit und Autonomie des Subjekts, andererseits zum subjectum im wörtlichen Sinne: zum ‚Unterstellten‘, ‚Unterworfenen‘, zum ‚Untertan‘.20

Die ‚Feststellung der Identität‘ (etwa bei der Polizei und auf jedem amtlichen Formular) erfolgt im doppelten Sinne: sowohl als Wahrnehmungsakt wie auch als ‚Fixierung‘, als Festschreibung. Identität setzt sich aus einem Bündel von Zwängen ← 12 | 13 → praktisch verbindlicher Feststellungen zusammen. Sie ist daher eine Fremd- und noch mehr eine Selbstverpflichtung, die- oder derselbe zu sein und zu bleiben. So beinhalten z. B. Geschlechteridentitäten permanente Aufforderungen zur Einübung einer diskursiv und sozial strukturierten Gender-Identität, wie Judith Butler herausgestellt hat.21 Dass soziale Identitäten mit einem verinnerlichten sozialen Zwang in Relation zu anderen Positionen zu tun haben, hat insbesondere Pierre Bourdieu gezeigt.22 Der praktisch-soziale Sinn dafür, was sich für einen ‚schickt‘ und was nicht, prägt noch die Bestimmung der persönlichsten Eigenschaften: ‚Das bin ich‘ – ‚Das bin ich nicht‘.

Der wissenschaftliche Diskurs, der ‚Identität‘ von ‚Nicht-Identität‘ oder dem ‚Nicht-Identischen‘ emphatisch und oft mit einer Präferenz für letzteres trennt, wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Es gibt eigentlich nicht ‚den‘ theoretischen Identitätsbegriff, sondern vielmehr mannigfaltige Gebrauchsweisen, so z. B. in der Psychoanalyse, in der empirischen und sprachanalytischen Philosophie, in den Handlungs- und Gesellschaftstheorien etc. Grundsätzlich lässt sich aber zwischen personaler und kollektiver Identität unterscheiden.23

Kollektive Identitäten wie ‚Gruppe‘, ‚Staat‘, ‚Nation‘ sind keine leiblichen, sprach- und handlungsfähigen Subjekte, sondern imaginäre Größen, soziale Konstrukte mit Wirklichkeitswirkungen.24 Als lebenslanger Prozess changiert das Projekt der Identitätsbildung, in dem einzelne Individuen „stets aufs Neue [hinterfragen], wer sie (geworden) sind und sein möchten“,25 zwischen diesen beiden Identitätsformen. Personale Identitäten sind per se vorläufig. Sie lassen sich als ein Versprechen verstehen, das erst noch durch die entsprechende Lebenspraxis eingelöst werden muss. Über das Gelingen von personalen Identitätsentwürfen entscheiden dann aber nicht zuletzt die Reaktionen aus dem sozialen Umfeld. Daher stehen die personale und die kollektive Identität in einem dynamischen Feld verschiedener Wechselwirkungen, deren genaue Beschaffenheit in den Identitätstheorien seit jeher kontrovers diskutiert wird. Einerseits herrscht landläufig die Auffassung vor, dass kollektive aus personalen Identitäten abgeleitet werden, womit dem Konzept der personalen Identität eine zeitliche und sachliche Priorität ← 13 | 14 → eingeräumt wird.26 Demgegenüber steht die Einschätzung, dass es die Vorstellungen einer kollektiven Identität sind, welche für das Subjekt konstitutiv seien.

Trotz der unbestreitbaren Wechselwirkungen liegt in der Literatur, der eine besondere Subjektivierungsfunktion zukommt, der Schwerpunkt häufiger auf der personalen als auf der kollektiven Identitätsproblematik. Aber was macht eine personale Identität aus? Wie oben skizziert, sind Identitätsbegriff und -denken insbesondere für die Entwicklung seit der Neuzeit kennzeichnend. Descartes, um 1641 formulierter Grundsatz „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ begründete eine Subjektphilosophie, die im deutschen Idealismus mit Kant, Fichte, Schelling und Hegel dominant wurde. Dem Zeitalter des Identitätsdenkens entspricht die Episteme der ‚Repräsentation‘, die Foucault in Die Ordnung der Dinge dem 17. und 18. Jahrhundert zugeordnet hat.27 Im Zeitalter der ‚Repräsentation‘ konnte der Mensch sich als Souverän nur indirekt, über die Repräsentationssysteme wie das höfische Ritualverhalten, die Malerei oder eben auch die Literatur, sehen. Abgelöst wurde das repräsentative Identitätsdenken im 19. und 20. Jahrhundert vom Zeitalter des ‚Menschen‘. Foucault interessierte sich bekanntlich für die „Archäologie der Humanwissenschaften“ (so der Untertitel seines Buches), d. h. für die Psychologie, Soziologie, Kulturgeschichte, Ideengeschichte und Wissenschaftsgeschichte. Hierbei handelt es sich um Disziplinen, welche die Selbst-Repräsentationen des Menschen zum Ausgangspunkt ihrer Forschungen machen.28 Die Humanwissenschaften sind durch eine selbstbezügliche Historisierung gekennzeichnet. Zwischen den Wörtern und den Dingen sei nun laut Foucault ein Riss entstanden und der anthropologische Fragehorizont, was der Mensch sei, habe sich verselbständigt, totalisiert und in allen Wissenschaften ausgebreitet. Foucault wirft schließlich die Frage auf, ob der Mensch als Entität wirklich noch existiere,29 ob er nicht vielmehr in und durch die Humanwissenschaften seit langem dissoziiert und verschwunden sei. Das berühmte Sinnbild am Ende der Ordnung der Dinge, dass der Mensch wie ein am Meeresufer in den Sand gezeichnetes Gesicht verschwindet, veranschaulicht die Hauptthese vom Passagencharakter der Episteme ‚Mensch‘ und damit auch seiner Identität.30 An ihre Stelle treten nach Foucault die ← 14 | 15 → so genannten ‚posthumanen‘ Diskurse der Wissensgesellschaft und die Bio-Politik moderner Staaten.31

Das ist die Prognose einer Auflösungsbewegung, die mit dem Eintritt des 20. Jahrhunderts beginnt. Die Identitätsnarrative dieses Jahrhunderts erzählen also von der Auflösung der Episteme ‚Mensch‘. Die grundlegende Unruhe eines in Bewegung geratenen Selbst zeigt sich nicht nur in den humanwissenschaftlichen Diskursen, sondern auch in der konkreten alltagsweltlichen Selbsterfahrung der Menschen in den modernen, westlichen Gesellschaften. Identität-Konstruktionen werden zu einem notorischen Projekt, das sich im Lauf des 20. Jahrhunderts immer mehr Personen in modernen Gesellschaften zu eigen machen (müssen): Es gilt Antworten zu finden auf prekäre Identitätsfragen im Zuge der Deontologisierung und Enttraditionalisierung, der funktionalen Differenzierung und Pluralisierung, der Individualisierung, Temporalisierung und Dynamisierung der kontingenten Lebensverhältnisse.32 Diese ‚Antworten‘ sind sozial vermittelt und an eine Lebenspraxis und Lebensgeschichte gekoppelt. Hier zeigt sich die Verbindung zur narrativen Organisation, wie noch näher auszuführen ist.

Es gibt heute einen weitgehenden Konsens darüber, insbesondere in den kulturwissenschaftlichen Diskursen, dass Identität als Konstrukt und stets nur als vorläufiges, transitives Resultat einer lebenslangen Entwicklung zu verstehen sei. Identität erscheint damit „prinzipiell als etwas Aufgegebenes und zu keinem Zeitpunkt als etwas Gegebenes“.33 Daraus wird aber oft vorschnell und simplifizierend auf den Konstruktionscharakter der Identität geschlossen. Als Kernbestimmung eines modernen Begriffs personaler Identität lässt sich dagegen festhalten: Identität ist nicht bloß Konstruktion, sondern vor allem Aspiration. Der Philosoph Gernot Böhme definiert personale Identität als eine „kontrafaktische Unterstellung, die faktisches Humangeschehen ermöglicht“.34 Dabei bleibt aber „personale Identität“ ← 15 | 16 → stets „,Fluchtpunkt‘ einer sozialen Praxis, in deren Rahmen der Einzelne ins Verhältnis zu sich selbst tritt und sein Handeln am Horizont der erwünschten Autonomie des eigenen Selbst orientiert“.35

So gesehen ist Identität prinzipiell unvollständig, unvollendet und sich wandelnd. Renn und Straub bestimmen daher das moderne Selbst als transitorische Identität. Diese besteht in dem „Paradox einer Einheit, die unabschließbar, entzweit, ungreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreicht bleibt“.36 Wenn Identität immer aspiriert, angestrebt und imaginiert ist, so ist mit ihr ein normativer und sozialer Anspruch verbunden, den Personen an sich und andere stellen. Wenn aber Identität als Aspiration innerhalb eines normativen Horizonts situiert ist, so gehören Aspiration und Selbstentzug zusammen. Insbesondere im 20. Jahrhundert gilt, dass für die persönliche Identität Differenzialität und Selbstentzug in einer prozessualen Dimension konstitutiv sind. Moderne Identitäten sind transitorisch; ihre Existenzgrundlage speist sich aus Differenzialität und Selbstentzug.37 Dieses Konzept der personalen Identität verträgt sich nicht mit einer entweder psychologisch oder auch sozial interpretierten Totalität. Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, zur Selbstreflexion, Selbstironie und Selbstkritik, die auch zentrale Kennzeichen einer autonomen Kunst sind, steht einem stillgestellten Identitätsdenken und einem politischen Totalitarismus grundsätzlich entgegen. Ein aspirativ gefasstes Selbst ist immer eine Relation, eine Struktur oder Form der kommunikativen und praktischen Selbstbeziehung: das Sich-zu-Sich-Verhalten ist Ausdruck einer Form, in der sich aber auch ein existenzielles Leiden ausdrücken kann, wie Søren Kierkegaard in Zusammenhang mit der seelischen „Krankheit zum Tode“, der Verzweiflung, bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte.38 ← 16 | 17 →

Moderne Identitäten im 20. Jahrhundert sind also stets transitiv, als Aspiration innerhalb eines kommunikativen, praktischen und existentiellen Selbstverhältnisses zu verstehen. Sie sind von äußeren und verinnerlichten Norm-Horizonten und Abweichungen geprägt. Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz sind Anforderungen an das Selbst, das aber permanent Differenzerfahrungen macht.39 Kontinuität betrifft die zeitliche, diachrone Dimension personaler Identität (die Entwicklung) und zusammen mit der Konsistenz stellt sie die Aufgabe einer temporalen Einheit. Die ‚Lebensgeschichte‘ als Denken von Kontinuität beinhaltet damit unweigerlich einen Begriff von Veränderung, ein Denken eines als Werden konzipierten Seins. Ähnliches gilt für die Kategorie der Kohärenz, die weniger auf einer diachronen als auf einer synchronen Ebene angesiedelt ist: Es ist ein Streben nach einem ‚stimmigen Zusammenhang‘, nach einer Struktur, die sich aus miteinander verträglichen Elementen zusammensetzt. Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz sind also Synthese-Anstrengungen von Heterogenem. Sie sind aspirierte Fluchtpunkte einer komplexen Bearbeitung von Kontingenz-Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Streben nach einer intelligiblen Einheit des Selbst-Verhältnisses. Die jeweiligen ‚Aushandlungen‘ von Konsistenz, Kohärenz, Normen und Ordnungssystemen unterliegen schließlich der Zeit und sind daher wandelbar. Die in der Zeit ‚ausgehandelten‘ Antworten auf die Identitätsfrage sind diskursiver, symbolisch-narrativer und praktischer, d. h. performativer und körperlich-präsentischer Art. Identität ist tägliche Praxis, Rollenverhalten im sozialen Raum und temporale Organisation. Damit ist das enge Verhältnis zwischen personaler (bzw. kollektiver) Identität und Narration angezeigt.

Formen der Identitätsnarration

Wie unmittelbar ‚Identität‘ und ‚Narration‘ zusammenhängen, hat Paul Ricœur in seinem Buch Das Selbst als ein Anderer ausgeführt.40 Er unterscheidet hier eine ‚idem‘- und eine ‚ipse‘-Identität: Die ‚idem‘-Identität bezeichnet die Beständigkeit einer Substanz in der Zeit, also ‚Selbigkeit‘ (frz. mêmeté, engl. sameness). Dagegen meint die ‚ipse‘-Identität eine Binnenperspektive, ein Selbstverhältnis des Subjekts, also ‚Selbstheit‘ (frz. ipséité, engl. selfhood). Hier geht es um die Kontinuität einer Person in der Zeit.41 Narrationen stellen diese Kontinuität als ← 17 | 18 → ‚Lebenszusammenhang‘, als Handlungs- und Reflexionszusammenhang in einer zeitlichen Ordnung, her. Der Begriff der narrativen Identität impliziert eine Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit42 und die Literatur hat verschiedene Möglichkeiten, diese Dialektik oder zumindest ihre Spannungen darzustellen, wie z. B. in der gleitenden Unterscheidung zwischen einer hetero- und einer homodiegetischen Stellung der Erzählinstanz.43 Die Narration dient der komplexen und oft widersprüchlichen Vermittlungsbemühung im Selbstverhältnis: So erweist sie etwa in Max Frischs Roman Stiller (1954) zunehmend die ‚Selbigkeit‘ des Ich-Erzählers mit Stiller und zugleich dokumentiert sie die zunehmende Differenz-Erfahrung von der ‚Selbstheit‘.44

Die enge Verbindung zwischen einer Identitätskonstruktion als transitorische Differenzerfahrung und der Artikulation personaler Identität in modernen Narrationen transzendiert den konkreten Zeitbezug. Schließlich erweist sich die Narration als selbstreflexives Dokumentationsverhältnis, wie Renn und Straub betonen:

Als eine sprachliche Form der Artikulation der personalen Identität, die sich in Einzelhandlungen realisiert und bestätigt bzw. entdeckt und erfährt, die zugleich aber die partikularen Kontexte bestimmten Handelns überschreitet, kommt daher die Narration in Betracht. Denn der narrative (Zeit-)Horizont transzendiert zugleich die lokale Enge einzelner Handlungssituationen, trägt bei zu der Bestimmung ihrer Bedeutungen durch die Vereinigung der Geschichte zu einem variablen, aber vereinigtem Zeithorizont, eröffnet mit der komplexen Beziehung zwischen erzählten und erzählenden Personen reflexive Türen zur Arbeit am personalen Selbstbezug und stellt dadurch schließlich eine Alternative zu einem rein deskriptiven Sprachgebrauch dar. Wenn also die Person sich in Handlungen realisiert und dokumentiert, ist die Erzählung (auch) die das Selbst reflexiv realisierende Dokumentation der dokumentierenden Realisierung der Person, d. h. das Medium des aktiven und zugleich artikulierenden Selbstverständnisses.45

Über die Artikulation, Performanz und reflexive Dokumentation des Selbstverhältnisses hinaus ermöglicht die literarische Narration eine fiktionale Probehandlung, eine Erprobung von Identitäten, die im Unterschied zur faktualen Identität nicht der Bestimmung einer Referenzialisierbarkeit und Verifizierbarkeit, d. h. letztlich der leiblichen Präsenz, untersteht. Gleichwohl sind der literarischen Syntheseleistung zur Herstellung von Identität die Bestimmung ← 18 | 19 → der Zeit und ein permanenter Kampf gegen die Kontingenz eingeschrieben. Es geht um die Umwandlung kontingenter, lebensgeschichtlicher ‚Daten‘ in, wenn nicht Notwendigkeit, so doch in Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz. In modernen Identitätsnarrativen sind jedoch häufig die narrativen Ebenen destabilisiert. Unzuverlässiges Erzählen, Spannungen zwischen dem erzählten und Erzähl-Ich und der fließende Wechsel zwischen der homo- und heterodiegetischen Stellung des Erzählers sind ihre Kennzeichen. Den zwei grundsätzlichen Formen fiktionaler Probehandlungen – der Narration und der Performanz – gemäß, werden im vorliegenden Band neben den Prosagattungen des Bildungsromans, des Tagebuchs46 und der (Auto-)Biographie auch dramatische Texte als besondere Ausprägungen von Identitätsnarrativen thematisiert. Der Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch auf der Narration und damit auf Prosatexten.

Resümees der Beiträge

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes fokussieren – chronologisch geordnet – verschiedene Aspekte der Identitätsnarrative vom beginnenden 20. bis zum angehenden 21. Jahrhundert. Im ersten Beitrag untersucht Corinna Schlicht unter dem Titel Das Leben ein Irrtum – Anagnorisis in den Einakterzyklen Arthur Schnitzlers ein gemeinsames Merkmal der Schnitzler’schen Einakter, das sie in der Kollision von Fremd- und Selbstbild gegeben sieht, welche die verschiedenen narrativen Lebensentwürfe der Figuren als Peripetie ins Wanken bringt. Aus diesem Blickwinkel werden auf dem Theater narrative Lebensentwürfe vorgeführt, deren illusionärer Charakter offengelegt wird. Aus einer kritischen Reflexion des aristotelischen Anagnorisis-Begriffs heraus markiert Schlicht eben jene Umschlagspunkte in den Einaktern Der Puppenspieler, Das Bacchusfest, Stunde des Erkennens und Die Frau mit dem Dolche, in denen sich Lebenslügen, Identitätskonstrukte, Fehleinschätzungen und das Scheitern von Identitäten als Ohnmachtserfahrung des spätmodernen Subjekts offenbaren.

Christian Steltz nimmt in seinem Beitrag „Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein“ – Denormalisierungsangst und Normalisierungslust in Thomas Manns Tonio Kröger und Wilhelm Genazinos Mittelmäßiges Heimweh die Wechselwirkungen zwischen individueller und kollektiver Identität in den Blick und untersucht, inwieweit literarische Figuren in ihrer Subjektivation von Identitätsentwürfen übergeordneter Gruppen abhängig sind. Am Beispiel von Thomas Manns früher Künstlernovelle Tonio Kröger (1903) wird ein Phänomen nachgezeichnet, das ← 19 | 20 → sich interdiskursanalytisch als ,Normalisierungslust‘ bezeichnen lässt, während Wilhelm Genazinos Roman Mittelmäßiges Heimweh (2007) zur Veranschaulichung der tiefgreifenden Auswirkungen von ‚Denormalisierungsangst‘ auf die Identitätsbildung des modernen Subjekts herangezogen wird.

Heribert Tommek geht in seinem Beitrag „Ein lose hängender Knopf“ oder die Lust, „eine reizende, kugelrunde Null im Leben zu sein“ der Darstellung ‚flüchtiger‘ Identitäten in drei Romanen von Robert Walser nach: Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909). Durch die Verweigerung gegenüber der gesellschaftlichen Einordnung wird dem bürgerlichen Glauben an die Trias von Subjekt-Identität, Besitz und Erbe eine Absage erteilt. Stattdessen tragen die Figuren einen Identitätsentwurf als Aspiration in sich. Deren Fluchtpunkt steht im ironisch-augenzwinkernd und zugleich melancholisch gezeichneten Ideal des ,verkleinerten‘, ,dienenden‘ und ,vergessenen‘ Menschen. Was diese Entwürfe einer ‚flüchtigen‘ Identität vom konservativen Ideal der Wiederherstellung der Lebenseinheit in der (Neu-)Romantik unterscheidet, ist zweierlei: Erstens werden sie in ihrer Ambivalenz der Stärke und der Schwäche gegenüber den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens gezeigt. Zweitens ist die angestrebte Identität der offenen Möglichkeiten immer inszeniert und verbleibt in der Gestalt des negativen Verweises und Aufschubes. Damit repräsentiert Walser eine paradoxe Autorposition der Moderne, deren Selbst-Behauptung gerade in der Selbst-Aufhebung besteht.

Jürgen Daiber verfolgt in seinem Aufsatz „Das Ich und sein innerer Lärm“ – Kafka als Tagebuchschreiber die These, dass Kafkas Projekt, über das Tagebuch-Schreiben eine stabile Identität zu schaffen, in einer unauflöslichen Ambivalenz verbleibt. Das Tagebuch als Instrument einer radikalisierten und schriftlich fixierten Selbstbeobachtung steigert bei Kafka nicht nur die Einsicht in die Mechanismen der eigenen Psyche und die Momente gelingenden, ,glücklichen Schreibens‘, sondern auch den Zweifel daran, die eigene Identität über gesteigerte Introspektion stabilisieren zu können. Je mehr das Ich über sich erfährt, desto größer ist seine Verwirrung. Erst mit der eruptiv geschriebenen Erzählung Das Urteil (1912) gelingt Kafka nach eigener Einschätzung zum ersten Mal ein Text, in dem die permanente und zerstörerische Selbstbeobachtung durch eine Erfahrung des Bei-Sich-Seins aufgehoben wird. Dieser wie ein Komet vorübergehende Moment eines ‚glücklichen‘ Schreibens besteht bezeichnender Weise darin, den ‚inneren Lärm‘ der Psyche im Moment seines Untergangs im gesellschaftlichen ‚Verkehrslärm‘ zum Ausdruck bringen zu können.

Details

Seiten
302
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065398
ISBN (ePUB)
9783653955071
ISBN (MOBI)
9783653955064
ISBN (Hardcover)
9783631669402
DOI
10.3726/978-3-653-06539-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Gegenwartsliteratur Subjektkonstitution Moderne Literatur nach 1945
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 302 S., 2 farb. Abb., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Heribert Tommek (Band-Herausgeber:in) Christian Steltz (Band-Herausgeber:in)

Heribert Tommek lehrt als akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Regensburg. Seine Forschungsinteressen umfassen u.a. J.M.R. Lenz und die Gegenwartsliteratur. Christian Steltz lehrt als akademischer Rat am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Regensburg. Er forscht u.a. zum Drama der Gegenwart und zur Intermedialität.

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Titel: Vom Ich erzählen
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304 Seiten