Minderheiten im sozialistischen Jugoslawien
Brüderlichkeit und Eigenheit
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsliste
- Vorwort
- Einleitung
- Die nationalen Minderheiten in den internationalen Beziehungen und der Gesetzgebung Jugoslawiens
- Tschechen und Slowaken
- Ruthenen und Ukrainer
- Magyaren
- Deutsche
- Rumänen und Aromunen
- Bulgaren
- Die Italiener
- Griechen
- Juden
- Roma
- Türken
- Kosovo-Albaner
- Albaner in Serbien, Mazedonien und Montenegro
- Epilog
- Quellen
- Sekundärliteratur
- Personenregister
- Summary
ASNOM (Antifašističko Sobranie za Narodno Osloboduvanje na Makedonija) – Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Mazedoniens
AVNOJ (Antifašističko veće narodnog oslobodjenja Jugoslavije) – Antifaschistischer Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens
DRO (Dobrudžanska revolucionna organizacija) – Dobrudschane Revolutionäre Organisation
DSE (Dimokratikos Stratos tis Ellados) – Demokratische Armee Griechenlands
EAM (Ethniko Apeleftherotiko Metopo) – Nationale Befreiungsfront
ELAS (Ellinikos Laikos Apeleftherotikos Stratos) – Griechische Volksbefreiungsarmee
EVOP (Epitropi Voithia sto Pedi) – Kommission des Ausschusses für Kinderhilfe
FNRJ (Federalna narodna republika Jugoslavija) – Föderative Volksrepublik Jugoslawien
FYROM (The Former Yugoslav Republic of Macedonia) – Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien
IRU (Romano Internacionalno Jekhetani Union) – International Roma-Union
JDC – Joint Distribution Committee
JRK (Jugoslovenski Crveni Krst) – Jugoslawisches Rotes Kreuz
KKE (Kommounistiko Komma Elladas) – Kommunistische Partei Griechenlands
Königreich SHS (Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca) – Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen)
KPČ – Kommunistische Partei der Tschechoslowakei
KPJ (Komunistička partija Jugoslavije) – Kommunistische Partei Jugoslawiens
NDH (Nezavisna država Hrvatska) – Unabhängiger Staat Kroatien
NOF (Narodno Osloboditelen Front) – Nationale Befreiungsfront
OF (Otečestven Front) – Vaterländische Front
PdD – Partei der Deutschen des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen
PDG (Prosorini Dimokratiki Kyvernisi Ellados) – Provisorische demokratische Regierung Griechenlands
SFRJ (Socijalistička federativna republika Jugoslavija) – Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien
SHS-Staat (Država Slovenaca, Hrvata i Srba) – Staat der Slowenen, Kroaten und Serben ← 7 | 8 →
SKJ (Savez komunista Jugoslavije) Bund der Kommunisten JugoslawiensCIC (Circolo Italiano di Cultura) – Italienischer Kultur-Zirkel
SKOJ (Savez komunističke omladine Jugoslavie) – Bund der kommunistischen Jugend Jugoslawiens
SNOF (Slavjanomakedonski Narodno Osloboditelen Front) – Slawomakedonische Befreiungsfront
TIGR (Revolucionarna organizacija Julijske krajine Trst-Istra-Gorica-Reka) – Revolutionäre Organisation der Julischen Mark Terst-Istra-Gorica-Rijeka
UÇK (Ushtria Çlirimtare e Kosovës) – Kosovarische Befreiungsarmee
UDBA (Uprava državne bezbednosti) – Staatssicherheitsdienst (Geheimpolizei Jugoslawiens)
UIIF (Unione degli Italiani dell’Istria e di Fiume) – Bund der Italiener aus Istrien und Fiume
UNSCOB (United Nations Special Committee on the Balkans) – Sonderausschuss der Vereinten Nationen für den Balkan
VMRO - (bulgarisch Vătrešna makedonska revolucionna organizacija; mazedonisch Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija) – Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation
VMRO-BND (Vătrešna makedonska revolucionna organizacija – Bălgarsko nacionaldo dviženie) – Bulgarische Nationale Bewegung
VRZO (Vătrešna revolucionna zapadopokrajinska organizacija) – Innere Revolutionäre Organisation der Westgebiete
VTRO (Vătrešna trakijska revolucionna organizacija) – Innere Thrakische Revolutionäre Organisation
YTO (Ypiresia Taxeos Omadas) – Ordnungsdienst der Kommune
ZAVNOH (Zemaljsko antifašističko vijeće narodnog oslobođenja Hrvatske) – Antifaschistischer Landesrat der Volksbefreiung Kroatiens
Prag ist seit zwei Jahrhunderten ein wichtiger Ort der Produktion von Wissen über Südosteuropa und insbesondere die südslawischen Gebiete der Region. Erwähnt werden kann der slowakische Dichter, Philologe und Historiker Pavel Jozef Šafárik (1796–1861), der von 1833 bis zu seinem Tode in Prag wirkte und wesentliche Arbeiten über die Entwicklung der Sprache und Literatur der Südslawen und ihrer Geschichte verfasste.1 Als Zensor, Kustos und schließlich Leiter der Prager Universitätsbibliothek genoss er privilegierten Zugang zu wissenschaftlicher und künstlerischer Literatur; noch wichtiger für sein Wissen über und seine Begeisterung für die Südslawen war allerdings sein Wirken als Direktor und Lehrer des serbisch-orthodoxen Gymnasiums in Novi Sad (1819–1833). Mit Schriften zur serbischen Mundart, zu mittelalterlichen südslawischen Sprachdenkmälern, zur glagolitischen Schrift und Literatur und schließlich seiner dreibändigen Geschichte der südslawischen Literatur gehört er zu den Begründern der modernen Slawistik und insbesondere der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den südslawischen Sprachen. Zwei Generationen jünger, aber ebenfalls in Prag (und später in Wien), sollte Konstantin Jireček (1854–1918) mit den für seine Zeit wegweisenden Arbeiten über balkanische und insbesondere serbische und bulgarische Geschichte seit dem Mittelalter zu einem der Gründungsväter der südosteuropäischen Geschichte werden. Ähnlich wie Šafárik verband auch Jireček Theorie mit Praxis: Von 1879 bis 1881 leistete er als Generalsekretär im Ministerium für Volksaufklärung des 1878 aus der Taufe gehobenen modernen bulgarischen Staates wichtige Aufbauarbeit für das bulgarische Schulwesen, im Zeitraum von 1881 bis 1882 sogar als Minister. Sein wissenschaftliches Schaffen wurde als „detailreich und auf gründlichem, auch philologischem Quellenstudium fußend“, als eine „nüchtern-objektive Historiographie, die sich großen Gesten und spekulativen Werturteilen versagt“, qualifiziert.2
Diese im 19. Jahrhundert grundgelegte und mit entsprechenden Professuren an der Karls-Universität Prag institutionalisierte Tradition ist heute noch lebendig, ← 9 | 10 → wie der vorliegende Band unter Beweis stellt. Prag, oder allgemeiner gesagt, die Tschechische Republik ist noch immer ein Ort, wo exzellente Forschung über den Balkan betrieben wird. Der Lehrstuhl für südslawische und balkanistische Studien an der Philosophischen Fakultät und das Institut für Internationale Studien an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität versammeln Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, die über Südosteuropa und seine einzelnen Länder arbeiten und regelmäßig interessante Publikationen vorlegen. Diese weisen aus der Perspektive des benachbarten und an Expertise zu Südosteuropa ebenfalls nicht armen deutschsprachigen Wissenschaftsraumes leider ein kleines Manko auf: Sie sind zumeist auf Tschechisch und somit dem typischer Weise des Tschechischen nicht mächtigen deutschsprachigen Südosteuropaexperten nicht zugänglich – wohingegen die polyglotten Kolleginnen und Kollegen in der Tschechischen Republik die deutschsprachige Forschung sehr wohl rezipieren. So viel zu den Nachteilen und Beschränkungen, zu denen ein numerisch großer Sprachraum führt… Umso erfreulicher ist es daher, wenn ein so wichtiges Buch wie das vorliegende Grundlagenwerk über Minderheiten im sozialistischen Jugoslawien ins Deutsche übersetzt wird, wofür der Herausgeberin und den Herausgebern, den Übersetzern und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds großer Dank gebührt.
Dieser Band verdeutlicht eine weitere Kontinuitätslinie in der „böhmischen“ Forschung über Südosteuropa, ein Merkmal, das wie oben notiert schon auf Jireček zutraf: die Mischung aus grundlegender Sympathie für die Region und ihre Menschen mit empirisch tief fundierter, in neutralem und zurückhaltendem Duktus vorgetragener Sachkenntnis; selbst bei einem Thema wie der Lage von Minderheiten, das nicht nur historisch, sondern auch gegenwärtig zu Aufgeregtheiten führen kann. Diese Verbindung stellt die produktive Synthese einer spezifischen, empirisch verankerten Wissenschaftstradition mit der unter tschechischen und slowakischen Denkern seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu beobachtenden Begeisterung für den Balkan dar. Letztere ist auch nicht weiter verwunderlich: Basierend auf der Affinität der Sprachen und politisch motiviert durch panslawische Ideen, aber auch begründet durch die gemeinsame Existenz in der Habsburger-Monarchie entdeckten tschechische und slowakische Literati in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Südslawen als Brüder im Geiste. Die Habsburger machten sich diese Nahbeziehung und die daraus entstehenden Kenntnisse für ihre eigenen Zwecke dienlich, indem sie etwa Tschechen als Beamte ins 1878 besetzte und später annektierte Bosnien und Herzegowina entsandten. Aus dem österreichisch-ungarischen Kontext entstanden auch die politisch-ideologischen Bewegungen, welche die Verbindung auch nach 1918 aufrecht erhielten: Tschechoslowakismus ← 10 | 11 → und Jugoslawismus teilten nicht nur konzeptionelle Grundlagen, sondern auch die Funktion als offizielle Staatsideologien von zwei Nachfolgestaaten der Habsburger-Monarchie, der ersten Tschechoslowakischen Republik sowie des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Kgr. Jugoslawien), wobei letzteres auch Landesteile umfasste, die nicht zu Österreich-Ungarn gehört hatten. Beide Staaten wiesen eine Reihe vergleichbarer Problemlagen auf – wobei der Umgang mit ethnischer, sprachlicher und regionaler Diversität zu den wesentlichen Herausforderungen gehörte. Angesichts dieser Ähnlichkeiten waren sie auch politisch eng verbunden, als Mitglieder der Kleinen Entente. In dieser Situation war es nicht verwunderlich, dass in Prag die rege Produktion von Wissen über die Südslawen, fokussiert auf Jugoslawien, anhielt.
Die beiden Nationsbildungsprozesse gingen abrupt zu Ende, als die beiden Staaten von Nazi-Deutschland 1938 bzw. 1941 überfallen und einem brutalen Besatzungsregime unterworfen wurden. In beiden Ländern war nach dem Zweiten Weltkrieg die Welt eine andere als vor der deutschen Besatzung; die politische Landschaft hatte sich radikal verändert; in beiden Staaten gelangten kommunistische Parteien an die Macht. Im Jahr 1948 kam es zwar zum Bruch zwischen dem sozialistischen Jugoslawien und den restlichen Ländern des Ostblocks, aber schon unter Chruschtschow erfolgte eine Wiederaufnahme der Beziehungen der Sowjetunion und im Gefolge auch der ČSSR mit Jugoslawien. Sowohl auf politischer als auch auf wissenschaftlicher Ebene gab es eine kontinuierliche gegenseitige Wahrnehmung, wobei in den 1960ern Jugoslawien von tschechoslowakischen Reformern als mögliches Vorbild für einen eigenständigen, menschlicheren Weg zum Sozialismus angesehen wurde. In Prag erscheinende Publikationen beschäftigen sich beispielsweise mit der Arbeitsselbstverwaltung, den Spezifika der sozialistischen Entwicklung und der föderalen Verfassungskonstruktion Jugoslawiens.
Wie wir wissen, wurden diese Hoffnungen durch die Intervention des Warschauer Paktes 1968 jäh beendet, und das konnte, trotz der entsprechenden Bemühungen Dubčeks, natürlich auch Tito nicht verhindern.3 Was vom Prager Frühling an Reform blieb, die Föderalisierung der Tschechoslowakei, die fortan eine tschechische und eine slowakische Teilrepublik aufwies, ähnelte jedoch frappant der jugoslawischen Verfassungsrealität der 1960er Jahre. Obwohl die jugoslawische Führung die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei ablehnte, entwickelten sich die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den 1970ern und 1980ern positiv. Eine Folge, aber zugleich bestärkende Kraft war die zunehmende Bedeutung von tschechoslowakischen Gästen für die boomende ← 11 | 12 → jugoslawische Tourismusindustrie. Die jugoslawischen Fremdenverkehrswerber vermittelten den badelustigen Bewohnern des eben nur bei Shakespeare am Meer liegenden Böhmen die Vorzüge der sonnigen Adria.4 Das kroatische Arbeitsamt versuchte tschechoslowakische Gastarbeiter für die Hotels am Meer anzuheuern, nachdem lokal die Arbeitskräfte aufgrund der starken Abwanderung nach Westeuropa knapp geworden waren. Die Existenz einer tschechischen und einer slowakischen Minderheit in Jugoslawien stellte einen weiteren Faktor für das gegenseitige Interesse dar. Und auf wissenschaftlicher Ebene existierte in den 1970er und 1980er Jahren eine tschechoslowakisch-jugoslawische Historikerkommission, die sich auf ihren Tagungen unter anderem mit Fragen der „nationalen und sozialistischen Bewegungen in der Geschichte der Tschechoslowakei und Jugoslawiens“,5 aber auch mit der osmanischen Periode und dem „Volksbefreiungskampf“ gegen Nazi-Deutschland beschäftigte.
Das Ende des Staatssozialismus sollte die Analogien in der historischen Entwicklung nicht beenden, denn beide Föderationen überlebten den Untergang der kommunistischen Herrschaft nicht lange: Jugoslawien zerfiel 1991/92, die Tschechoslowakei zum Jahresende 1992 – mit dem dramatischen Unterschied, dass letztere sich friedlich auflöste, Jugoslawien aber in einer Reihe von Kriegen zerbrach, die bis 1999 andauerten und deren Folgen heute noch nicht überwunden sind. In beiden Fällen war es evident, dass Fragen der nationalen Identität und deren politische Mobilisierung durch nationalistische Bewegungen – ohne die Vielzahl anderer Faktoren, wie sozioökonomischer und außenpolitischer ignorieren zu wollen – zu den wesentlichen Gründen des Staatszerfalls gehörten. Und in beiden Fällen mussten die politischen Eliten und Bevölkerungen der neuen Staaten eine Erfahrung machen, die ihre Vorgänger schon 1918 gemacht hatten: Mit der Auflösung eines größeren Staatsgebildes verschwinden nationalitätenpolitische Problemlagen nicht einfach. Vielmehr blieb die Frage des Verhältnisses zwischen Mehrheitsbevölkerung und ethnischen Minderheiten von Bedeutung für alle Nachfolgerepubliken auf dem Gebiet der einstigen tschechoslowakischen bzw. jugoslawischen Föderation – nach innen, um nachhaltig inklusive Demokratien zu entwickeln und nach außen, um den Anforderungen der Mitgliedschaft in der Europäischen Union gerecht zu werden. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Südosteuropa-Expertinnen und -Experten in Tschechien ein besonderes ← 12 | 13 → Sensorium für ethnische Beziehungen und Minderheitenfragen entwickelt haben – der vorliegende Band ist eine vorzügliche Manifestation dessen. Zumal die moderne Nationalismusforschung ohnehin einen ihrer Geburtsorte in Prag hat.
Ein kurzes Vorwort kann einem so gewichtigen Buch wie diesem nicht gerecht werden. Zum einen bietet es einen reichhaltigen Fundus von Informationen, die es zu einem regelrechten Handbuch der Situation von Minderheiten im sozialistischen Jugoslawien machen, und zwar sowohl in Hinblick auf ihre kulturellen und politischen Entfaltungsmöglichkeiten als auch auf ihre Beziehungen zum jugoslawischen Staat und den anderen Nationalitäten. Im Grunde leistet das Buch sogar mehr, enthalten die einzelnen Kapitel, die sowohl zahlenmäßig große als auch kleine Minderheiten abhandeln, doch auch informative Schilderungen der historischen Genese der einzelnen Bevölkerungsgruppen und ihres Schicksals vor 1944. Zum anderen ist der Gegenstand enorm relevant und zwar nicht nur für Historiker. Das sozialistische Jugoslawien betrieb eine in vielerlei Hinsicht originelle und wegweisende Nationalitätenpolitik: Die ausgeprägte Föderalisierung, ja letztlich Konföderalisierung des Staates, der aus sechs Teilrepubliken und zwei autonomen Provinzen bestand, die seit 1974 allesamt weitgehende Selbstverwaltungsrechte genossen, wurde dabei bereits vielfach und zurecht intensiv untersucht. Viel weniger Aufmerksamkeit hat aber bisher in der internationalen Forschung die Lage jener ethnischen Gruppen erfahren, die in der offiziellen jugoslawischen Terminologie und der damit verbundenen Hierarchie der Gruppenrechte nicht als konstitutive „Völker“ (narodi), sondern als „Nationalitäten“ (narodnosti) klassifiziert wurden. Dieser Zugang ergibt originelle Konzeptualisierungen, wenn beispielweise die Albaner einmal nicht primär in Bezug auf ihre Bestrebungen, Kosovo in eine eigene Republik zu verwandeln und somit zum „Volk“ aufgestuft zu werden, sondern im Kontext anderer, deutlich kleinerer Minderheiten behandelt werden.
In den einzelnen Beiträgen des Bandes tritt eine Reihe von Themen hervor, welche die Relevanz der behandelten Minderheitensituation nicht nur für das Verständnis der Geschichte des sozialistischen Jugoslawien, sondern von multiethnischen Staaten insgesamt verdeutlichen. Jugoslawien war eben nicht nur ideosynkratisch, sondern auch paradigmatisch. Um relativ willkürlich einzelne Probleme herauszugreifen, aus welchen sich weiterreichende Schlussfolgerungen ziehen lassen, die wiederum die Bedeutung des nun abgeschlossenen jugoslawischen Experiments für die Gegenwart und die Zukunft andeuten: Es zeigt sich beispielsweise die enge Verbundenheit zwischen der Situation von Minderheiten in einem bestimmten Land und der außenpolitischen Orientierung dieses Landes, und zwar nicht nur in Bezug auf dessen bilateralen Beziehungen zu einem ← 13 | 14 → „vermeintlichen“ Mutterland. Die Situation der muslimischen Minderheiten in Jugoslawien war z. B. auch eine Funktion der Ambitionen Titos in Richtung der arabischen Welt und der Rolle Jugoslawiens in der Blockfreien Bewegung, die große muslimische Nationen umfasste – ähnlich wie heute eine liberale Minderheitenpolitik dazu dient, Eindruck auf die EU zu machen. Jugoslawien steht zudem beispielhaft für die komplexen Beziehungen zwischen Minderheiten und Migrationsbewegungen, wobei sich zeigt, dass Staaten Emigration, Immigration und Binnenkolonisation zur „Lösung“ von wahrgenommenen Minderheitenproblemen zu nutzen versuchen, dass aber die Ergebnisse dieser Versuche häufig von den politischen Intentionen divergieren. Die in dem Band versammelten Beispiele machen deutlich, wie multi-dimensional die Faktoren sind, welche die Haltung eines Staates gegenüber seinen einzelnen Minderheiten bedingen: Sie reichen von außen- über sicherheitspolitischen Erwägungen bis hin zu ökonomischen Nutzenabwägungen und historischen Erinnerungen, aber auch sozialen Dynamiken „von unten“. Entsprechend können sich staatliche Einstellungen mit der Zeit ändern, einzelne Minderheiten in der Gunst der Machthaber aufsteigen oder absinken, je nach deren Interessenslage und Problemwahrnehmung. Ein weiteres interessantes und für die allgemeine Forschung relevantes Thema, das am jugoslawischen Fall bestens abgehandelt werden kann, ist die Fluidität von Abgrenzungen zwischen Bevölkerungsgruppen, die mal als Teile eines (kulturell) Ganzen, mal als eigenständige Ethnien wahrgenommen werden, wie die Ukrainer und Ruthenen oder die Tschechen und Slowaken. Gerade hier zeigen sich der konstruierte Charakter von ethnischer und nationaler Identität und die Bedeutung von sowohl Identitäts- als auch Machtpolitik. Schließlich manifestiert sich in und an der Geschichte der Minderheiten im sozialistischen Jugoslawien ein weiteres Mal, wie zentral die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges für die politische und gesellschaftliche Entwicklung des östlichen und südöstlichen Europa nach 1945 waren.
Die Beschäftigung mit der jugoslawischen Minderheitenpolitik und -realität ist mit diesem Band noch nicht abgeschlossen, aber kein Wissenschaftler in diesem Feld wird an ihm vorbeikommen. Das Buch bietet beispielsweise eine ausgezeichnete Grundlage um zu verstehen, warum Jugoslawien international so intensiv Minderheitenrechte propagierte. So gehörte Jugoslawien innerhalb der UNO zu den Vorkämpfern für die Etablierung von Schutzmechanismen für nationale und ethnische Minderheiten und bezog sich dabei immer wieder auf die eigene Nationalitätenpolitik. Im Juli 1974 fand etwa ein Seminar zum Schutz der Menschenrechte von Minderheiten in Ohrid statt, das gemeinsam von der ← 14 | 15 → UN-Menschrechtssektion und der Regierung Jugoslawiens organisiert wurde.6 Jugoslawien hatte schon 1947/48 – allerdings vergeblich – versucht, Schutzklauseln für Minderheiten in die Universelle Deklaration der Menschenreichte einfließen zu lassen.7 Im Jahr 1978 legte Jugoslawien schließlich einen Entwurf für Minderheitenschutz im Rahmen des UN-Menschenrechtsrates vor. Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jenes Land, das sich wie kaum ein anderes nach 1945 international für kollektive Rechte von Minderheiten eingesetzt hatte, heute vor allem als Schauplatz von ethnischen Säuberungen und Genozid erinnert wird. Die Bedeutung von jugoslawischen Experten für die Genese eines europäischen Minderheitenschutzsystems wäre also ein Feld, in dem noch interessante und wichtige Forschung geleistet werden könnte.
Zum Abschluss dieses Vorworts möchte ich zunächst Kateřina Králová danken, dass sie das Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, IOS, eingeladen hat, als Projektpartner für die Übersetzung dieses Buches ins Deutsche zu fungieren. Für das IOS ist dies eine Ehre und zugleich Ausweis, wie fruchtbar die Kooperation zwischen Prag und Regensburg ist – zwei Städte, die historisch einiges verbindet und für die mittelalterliche Brücken eine ebenso emblematische Rolle spielen wie osmanische für Jugoslawien und sein Schicksal in den 1990er Jahren (ich denke natürlich an die im Krieg zerstörte, mittlerweile wiederaufgebaute Brücke von Mostar, sowie an die Brücke über die Drina in Višegrad, welcher der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić ein Denkmal gesetzt hat). Das Institut für Internationale Studien an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität in Prag ist für das IOS ein strategischer Partner, und der vorliegende Band das erste, aber sicherlich nicht das letzte konkrete Ergebnis dieser Kooperation. Zu guter Letzt möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass an diesem Buch exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mitgewirkt haben. Dies erfüllt mich mit Optimismus, dass der für die gesamte Südosteuropaforschung so wichtige Standort Prag auch in Zukunft diese Rolle wird einnehmen können.
Ulf Brunnbauer
(Direktor, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg) ← 15 | 16 →
1 Vgl. Milan S. Ďurica, „Šafárik, Pavel Jozef“, in Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. IV, Hrsg. Mathias Bernath und Karl Nehring (München: Oldenbourg Verlag, 1981), S. 71–73.
2 Siehe Peter Rehder, „Jireček, Konstantin Josef“, in Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. II, Hrsg. Mathias Bernath und Karl Nehring (München: Oldenbourg Verlag, 1976), 269.
3 Vgl. Jan Pelikán, Jugoslávie a Pražké jaro (Praha: Filozofická fakulta UK, 2008).
4 Siehe O. A., Jugoslávie: slunný Jadran (Beograd: Privredna komora Jugoslavije, 1976).
5 Vgl. Miroslav Šesták, Problémy národního a socialistického hnutí v dějinách Československa a Jugoslávie od roku 1867 do konce 19. století: sborník prací z věd. zasedání Československo-jugoslávské hist. komise v Banské Bystrici, 10.–11.9.1973 (Prag: Československo-sovět. institut ČSAV, 1974).
6 Siehe O. A., Seminar on the Promotion and Protection of the Human Rights of National, Ethnic and Other Minorities: Ohrid, Yugoslavia, 25 June–8 July, 1974 (New York: United Nations, 1974).
7 Vgl. Li-Ann Thio, Managing Babel: The International Legal Protection of Minorities In the Twentieth Century (Leiden: Koninklijke Brill NV, 2005), 134f.
Details
- Seiten
- 418
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653061949
- ISBN (MOBI)
- 9783653953763
- ISBN (ePUB)
- 9783653953770
- ISBN (Hardcover)
- 9783631670262
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06194-9
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (November)
- Schlagworte
- Ethnie Gesetzgebung jugoslawischer Bürgerkrieg Minderheitenrechte
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 418 S.