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Der bekannte Fremde

Der Vampir in der Literatur des 19. Jahrhunderts

von Oliver Hepp (Autor:in)
©2016 Dissertation 326 Seiten

Zusammenfassung

Seit ihrer Verschriftlichung im 18. Jahrhundert wird die Figur des Vampirs als fremdartig beschrieben. Ihre dauerhafte Ästhetisierung – von Goethes Die Braut von Corinth bis Bram Stokers Dracula – verhalf der Figur zu einer beispiellosen Karriere, die bei genauerer Betrachtung zwei Dinge offenlegt: So fremd, wie Geschichte und Kunst sie darstellen, ist die Vampirfigur nicht. Anhand theoretischer Ansätze von Giorgio Agamben, Hans Richard Brittnacher und Homi Bhabha arbeitet der Autor den Vampir als bekannten Fremden und somit als Teil des Eigenen heraus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Annäherung in der Abgrenzung: Das Paradox des Fremden
  • 2. Das Gehirn eines Mannes, das Herz einer Frau: Ein einschließender Ausschluss und seine fatalen Folgen
  • 2.1 „That wonderful Madam Mina!“ – Menschen UND Vampire als hybride Charaktere
  • 2.2 Die Ebene der histoire, Teil eins: Das Oppositionspaar Eigen vs. Fremd
  • 2.3 Die Ebene der histoire, Teil zwei: Der Begriff des Stereotyps
  • 2.4 Die Ebene des discours: Agambens Denkfigur des Homo sacer
  • 3. „(…) so sie Vampyri nennen“ – Zwei Dörfer, ihre Geschichten und der Beginn einer wissenschaftlichen Debatte
  • 3.1 Zwei Vampire? – Die Akten Peter Plogojowiz (1725) und Arnod Paole (1732)
  • 3.2 Ein Text als Scharnier und Impulsgeber – das Gutachten der Königlichen Preußischen Societät derer Wissenschafften von denen Vampyren oder Blut-Aussaugern (1732)
  • 4. Die Debatte – Binäre Erklärungsparadigmen und erste Metaphorisierungen
  • Zwischenspiel: Der Vampir (1748) als erster literarischer Impuls vor Goethe
  • 5. Abwesende Väter, gastverwandte Gäste und drei Fremde – Goethes „vampyristisches“ Gedicht Die Braut von Corinth (1797)
  • 5.1 Die ambivalente Rezeption der Zeitgenossen
  • 5.2 Von der „Zeitenwende“ zur „anthropologischen Schwellenlage“ – der Forschungsdiskurs
  • 5.3 Drei Fremde oder drei fremde Bekannte? – Goethes Ballade Die Braut von Corinth an der Schwelle des 19. Jahrhunderts
  • 6. Ähnlichkeiten, Referenzen und Pathologien – John Polidoris The Vampyre (1819)
  • 6.1 Aneinander vorbei – zwei Forschungsdiskurse zu The Vampyre
  • 6.2 „The quenching of his thirst“ – A fragment
  • 6.3 Sowohl als auch – Ununterscheidbarkeiten als narratives Prinzip und das Potenzial zur Pathologie des Lesers
  • 7. „Was vom Leben einmal sich geschieden“ – Raupachs Märchen Laßt die Todten ruh’n (1823)
  • 7.1 „() rette mich von dem Ungeheuer, das Tod um sich verbreitet.“ – Die vom Menschen erschaffene Vampirin Brunhilde
  • 7.2 „Dort, wo die Wege sich scheiden“ – Die Kritik frühromantischer Konzepte
  • 8. Varney, the vampyre or the feast of blood (1847) – Fremdheit als genealogisches Prinzip
  • 8.1 Schwierigkeiten der Annäherung: Textgestalt, Zuschreibungsprozesse und Unentscheidbarkeiten
  • 8.2 Family affair – der Vampir als Familienmitglied?
  • 8.3 Der Vampir erzählt/schreibt seine Autobiographie
  • 8.4 Suizid als Stabilisierung: Die Ausnahme tilgt sich selbst
  • 9. „The pursuer or the pursued“ – Eine Trias von Ausnahmen in Anonymus The Mysterious Stranger (1860)
  • 9.1 Franziska: Die integrierte Außenseiterin
  • 9.2 „The other“ – das gleiche Nomen für Blutsauger, Jäger und Opfer
  • 10. Eine steirische Engländerin, drei lebende Tote und eine abwesende Mutter – Sheridan le Fanus Carmilla (1872)
  • 10.1 Forschungsstand und intertextuelle Markierungen
  • 10.2 Fremde, „seltsame“ (strange) Bilder und Verschachtelungen
  • 11. Ein hybrides Kind als Schlusspunkt – Bram Stokers Dracula (1897)
  • 11.1 Harte Kritik, großes Lob und eine Warnung – das erste Echo auf Stokers Dracula
  • 11.2 „A vigorous twentieth-century life“ – der Forschungsdiskurs
  • 11.3 „But a stranger in a strange land, he is no one“ – Eingeschlossene Ausgeschlossene jagen einen bekannten Fremden
  • 12. „Hardly one authentic document“: Das Fazit und ein (kleiner) Ausblick auf den Vampir im Film
  • 13. Literaturverzeichnis
  • 13.1 Primärliteratur
  • 13.2 Sekundärliteratur
  • 13.3 Film
  • 14. Danksagung

1. Annäherung in der Abgrenzung: Das Paradox des Fremden

I began to fear as I wrote in this book that I was getting too diffuse. But now I am glad that I went into detail from the first, for there is something so strange about this place and all in it that I cannot but feel uneasy.4

Wenn der xenologische Forschungsdiskurs des 20. und 21. Jahrhunderts an einigen Stellen die These postuliert, das Fremde gebe es nicht,5 so muss man diese Aussage korrigierend präzisieren: Das Fremde, und mit dem Abstraktum den Träger des Attributs, den Fremden, hat es eigentlich nie gegeben. Dies liegt im Wesen des Begriffes selbst begründet. Er ist Teil eines Paares, das sich von einer sprachlichen Bewegung der Differenzierung her konstituiert. Indem ein Subjekt für sich oder in einer Gruppe ausspricht, was ihm oder allen fremd erscheint, definiert es sich oder dieselbe als Eigenes ex negativo.6 Akzeptiert man diese grundlegende Prämisse, ergeben sich allerdings in der Auseinandersetzung mit dem Fremden zwei Spannungsmomente. Zum einen offenbart der Sprachakt, etwas als fremd zu klassifizieren, ein Paradoxon: Denn das Wort existiert im Sprachschatz des Sprechers und ist damit ein bekanntes. Der Benennende verwendet also einen Begriff aus dem eigenen Vokabular, um das Fremde zu ← 11 | 12 → bezeichnen. Ein Terminus diesseits einer sprachlichen Grenze schafft ein Jenseits, eine Verschiebung über eine abstrakte Demarkationslinie. Infolgedessen enthüllt dieses subjektive Manöver, das vom jeweiligen Sprecher gesteuert wird, in seiner ersten Nennung sofort, was es ist: eine Konstruktion, die eine Sinnstiftung des Eigenen ermöglichen soll.

Zum anderen führt die erste Oppositionierung zu einer Reflexion: Wie geht man damit um, wenn sich nach einer ersten, doch sehr strikten Abschottung in der Auseinandersetzung Gemeinsamkeiten zwischen dem Eigenen und dem Fremden offenbaren? Jochen Schütze gibt eine erste Antwort darauf:

Die meisten Erfahrungen des Selbstverlusts gründen im Verlust des Anderen, sogar die Vernichtung des begehrten Fremden wird noch von der Sorge diktiert, es könne das Eigene einsam und unbegrenzt auf der Strecke bleiben. Je höher man den Anteil des Fremden am Ich einschätzt, desto beunruhigender ist die Vorstellung, das lebenswichtige Gegenüber würde ausfallen.7

„Lebenswichtig“ deshalb, da das Ich in diesem Verständnis eben den Gegenpol benötigt, um sich zu konstituieren – fehlt dieser, lautet die Konsequenz „Selbstverlust“. Das Fremde darf zudem dem Eigenen nicht zu nahe kommen oder gar verschwinden, weil es diesem eventuell zu sehr ähnelt. Droht diese Gefahr trotz aller Abgrenzungsversuche, bleiben in der Folge zwei Möglichkeiten: Erstens, einen Hybridstatus zu konstatieren und die Auseinandersetzung damit in einen anderen definitorischen/wissenschaftlichen/begrifflichen Kontext zu heben. Oder, zweitens, das jeweilige „Ich“ bzw. die jeweilige Gruppe zieht die Grenze immer wieder neu, in der Bemühung das Oppositionspaar zu sichern. Die Anerkennung des ersten Faktes einer Hybridität würde dabei ein Eingeständnis bedeuten: Die grundlegende duale oder binäre Anordnung kann immer nur ein erstes Hilfskonstrukt sein. Im Zuge einer ergebnisoffenen Konstellation ist jedoch der Moment, in dem die Grenzlinien sich nicht strikt im binären Ursprungsmodus halten lassen, der interessantere, der weitere Fragen aufwirft: Welche bekannten Eigenschaften hat das Fremde? Welche Konsequenzen hat dies für das sich abgrenzende Eigene, das Individuum oder die Gruppe? Dieser nötigen Reflexion ist sich der xenologische Diskurs durchaus bewusst und versucht diese beiden zuletzt gestellten Fragen für den intendierten Fortbestand der dualen Konstellation befriedigend zu beantworten. Von einer Aufhebung derselben ist hierbei keineswegs die Rede: ← 12 | 13 →

Inzwischen sind im wissenschaftlichen Fremdheitsdiskurs ‚postmoderne’ und ‚postkoloniale‘ Metaphern und Theoriekonzepte wie Hybridität; Diaspora, Third Space, Übersetzung, Kreolisierung, Métissage u. a. als Begriffe und Konzepte zur Analyse und Darstellung der multiplen Formen und dynamischen Konstruktionsprozesse von Kulturen und Identitäten unübersehbar präsent und bestimmen auf ihre Weise das Verhältnis vom Fremden und Eigenen neu, substituieren aber letztlich nicht den Fremdheitsbegriff und das Konzept des Fremden, soweit es oder gerade insofern es den deutschsprachigen Forschungskontext betrifft.8

Hybride Identitäten werden dem Konzept untergeordnet, die Terminologie des Oppositionspaares bleibt in dieser Perspektive jedenfalls bestehen: in einer Neudefinition dessen, was fremd und was eigen ist. Im Zuge der Begriffsbestimmung zeigt sich auch so der temporäre Charakter der Grenzziehung. Der Identitätsbegriff, der sich darin gründet, kann infolgedessen nur ein zeitlich begrenzter sein. Oder anders formuliert: Sowohl das Begriffspaar als auch der Terminus Identität erscheinen dynamisch. Somit plädiert die Xenologie nach der Konstatierung von Interferenzen der beiden Bereiche für eine Neukalibrierung in einer Begriffsdynamik der Opposition.

Im 18. Jahrhundert taucht am Rande des Habsburgerreiches, der stark umkämpften Balkanregion, eine Figur auf, die dem Aberglauben der dortigen Bevölkerung entspringt: der Vampir. Ich möchte nun anhand jener Figur in wissenschaftlichen und literarischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts die sich ergebende und von mir bereits einführend geschilderte Spannung zwischen dem Oppositionspaar Eigen/Fremd und den hybriden Konstellationen anders bearbeiten. Dabei geht es nicht um eine gänzliche Verwerfung oder gar um eine hierarchische Unterordnung des Eigenen und des Fremden unter hybride Konzepte, sondern darum, die Interferenz der beiden Modelle in einer anderen Relation zueinander nachzuvollziehen. Die Entwicklung, die ich anhand des Vampirs offenbare, da er sich als eine der Reflexionsfiguren für diese binäre Opposition anbietet, verläuft in zwei großen Schritten: Die wissenschaftlichen Traktate des 18. Jahrhunderts, die nach dem Auftauchen des Phänomens in hoher Zahl entstehen, entwickeln erstens rhetorische Figuren, formen den Vampir als alteritäre Figur in einer Argumentation der Ausgrenzung; die poetischen Texte speisen sich dann zweitens aus den zuvor etablierten Mustern und arbeiten damit, ← 13 | 14 → indem sie dagegen ein hybrides Potenzial der lebenden Toten offenlegen, die Blut zum Leben verlangen.9

Die zentrale These für den Zeitraum 1725 bis 1756, in dem nach einer starken Konjunktur die ersten Fallgeschichten über lebende Tote ein jähes Abebben der Textflut zum Phänomen des Vampirismus folgt, lautet zunächst: Der Vampir wird in einem ersten Schritt im 18. Jahrhundert zu einer Figur des Fremden gemacht. Die Theologen, Mediziner und Philosophen der 1720er bis in die 1750er Jahre setzen alles daran, dieses Wesen aus den Geschichten der Bevölkerung, die in den europäischen Herrschaftsbereich assimiliert wurde, in seiner Existenz als unwirklich zu widerlegen. Die Argumentation der damaligen wissenschaftlichen Disziplinen wird sich dabei als typischer Aufbau eben jener Konstruktion zeigen, die von mir zuvor theoretisch beschrieben wurde.

Seit dem achtzehnten Jahrhundert werden die alten Fremden, die Monster von den Rändern der Welt und die Mißbildungen aus der unmittelbaren Nähe, all die wunderbaren und schauderhaften Gegenstände zügelloser Schaulust abgestoßen und in Objekte des wissenschaftlichen Interesses verwandelt. Dem aber geht es naturgemäß darum, die Rätsel des Fremden aufzulösen und in einer vernünftigen Relation zum Bekannten zu situieren.10

Die „vernünftige Relation“, die Schütze hier proklamiert, ist eben genau das binäre Schema, das auch auf die lebenden Toten angewendet wird. Die Figur des Vampirs kommt aus dem kulturellen, politischen Territorium des türkischen Herrschaftsgebiets, einem der damaligen großen Gegner der europäischen Herrschaftshäuser. Als Mittel zum Zweck verfallen die Autoren dabei auch in stereotype Argumentationen, mit der Intention, die Existenz der Vampire nicht nur zu leugnen, sondern den Glauben an solche komplett der Unvernunft zuzuschreiben. Diskreditiert die eigene Darlegung den Gegner, den türkischen Kultur- und Herrschaftsraum mit – wie es die Verfasser der Traktate praktizieren –, gerät die Abarbeitung an der Figur zu einer doppelten Installation: Die eigenen, ← 14 | 15 → rational motivierten Explikationen müssen in diesem Konflikt über das von den Türken geförderte Explikationsmodell des Aberglaubens obsiegen. Sie kommen nämlich allesamt zu dem Schluss, dass eine zu sehr unter dem türkischen Kulturkreis in Mitleidenschaft gezogene Phantasie gepaart mit osmanischen Lebensgewohnheiten ein Skandalon darstellt. Außerdem legitimiert diese Beweisführung gleichzeitig die Herrschaft der Zentraleuropäer über diese Regionen, die ohne deren Führung in Anarchie und Chaos versinken würden, – zumindest wird diese Befürchtung Teil der Texte über den Vampir im 18. Jahrhundert sein. Zusätzlich partizipiert der wissenschaftliche Diskurs11 über Vampire an einem der zentralen Streitpunkte des 18. Jahrhunderts: an der Debatte über die Funktion und Möglichkeiten der Einbildungskraft, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts als schöpferische Größe in Relation zum Verstand positioniert wird.12 Die Abhandlungen zur Vampirfigur zeigen, worum es den Forschern, die zur Figur des lebenden Toten veröffentlichen, dabei geht – der Domestizierung dieses Vermögens, die einhergeht mit der Kontrolle der Bevölkerung in den grenznahen Gebieten zur Türkei.

Das oben benannte Paradoxon, dass die Ausgrenzung eines Fremden gekoppelt ist an eine Eingliederung ins Eigene, in den eigenen Sprachraum, zeigt sich gleichfalls exemplarisch in den Traktaten. Denn die Verschriftlichung des Vampirs resultiert zwangsläufig in einer zunehmenden Bekanntheit der Figur. Das Fremde findet eben auf diese Art und Weise seinen Weg ins Eigene, obwohl genau das Gegenteil mit seiner Klassifizierung intendiert wird. Und auch das zeigt die Vampir-Debatte, wie die Flut an Texten zwischen 1732 und 1756 genannt ← 15 | 16 → wird, in ihrem Fortgang. Je mehr Argumente gefunden werden, warum es keine lebenden Toten geben kann, desto größer wird deren textliche Präsenz. Durch intertextuelle Verweise und das Erzählen von angeblichen Vampir-Sichtungen nistet sich die Figur in der Phantasie derer ein, die sie rational wegbeweisen wollen. Der Vampir saugt sich also durch die Tinte selbst, die ihn ertränken und ad acta legen soll, in das phantastische Vermögen europäischer Bevölkerungen hinein.

An der Schwelle zum 19. Jahrhundert kommt 1797 mit Goethes Ballade Die Braut von Corinth die Literatur ins Spiel. Sie entdeckt das fremde Wesen Vampir und verhandelt in ihren textuellen Annäherungen nun unter anderem subjektiv projizierte Fremdheitszustände – und zeigt gleichzeitig viel deutlicher, dass es eben das Fremde oder den Fremden in Gestalt des lebenden Toten nicht gibt. Die poetischen Texte gehen nämlich einen Schritt weiter als die wissenschaftlich motivierten Traktate, sie stellen die subjektive Funktionalität des Oppositionspaares einer in einem objektiven Blick erkennbaren Hybridität deutlicher gegenüber. Ihre Figuren verfallen nahezu ausnahmslos in die sprachliche Konstruktion eines Binären. Der Blutsauger bedroht Existenzen, die Protagonisten der Gedichte und Erzählungen kommen deshalb nicht umhin sich abzugrenzen, um sich nicht selbst im Sinne einer Identitätskrise zu verlieren, wie es zum Beispiel im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Sheridan le Fanus Carmilla13 oder Bram Stokers Dracula14 zu lesen ist. Auf der Ebene des discours offenbaren die Texte indes in ihrer Konstruktion den Konstruktionscharakter des auf der Ebene der histoire15 verwendeten Gegensatzes zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Sie stellen, ← 16 | 17 → so die zweite große These, vielmehr den Zustand eines bekannten Fremden aus. Der Vampir erweist sich nämlich als hybride Ausnahmefigur, er repräsentiert Eigenschaften, Handlungszüge und Motivationen, die den restlichen Charakteren zu eigen bzw. in ihnen verankert sind, ihnen eben gerade nicht fremd, sondern bekannt sind. Theoretisch lässt sich dies meines Erachtens in Agambens Konzeption des Homo sacer16 fassen. In diesem Verständnis setzt sich eine Norm, indem sie eine Ausnahme klassifiziert. Doch liegt diese nicht jenseits einer Trennlinie in einer dualen Konstruktion, sondern bleibt verbunden mit der Norm. Es existiert deshalb ein Moment der Ununterscheidbarkeit, die Ausnahme wird in der Relation zur Norm auf einer Schwelle oder Grenze verordnet – aber eben nicht außerhalb positioniert. Liest man nun den Vampir als Verkörperung eines solchen „eingeschlossenen Ausgeschlossenen“ und definiert man des Weiteren das Verhältnis zwischen ihm und den restlichen Figuren als das Verhältnis von Ausnahme und Norm oder Normen, die wiederum elementar für die gesellschaftliche Ordnungs- und Identitätsstiftung sind, so forscht man nach anthropologischen Mustern, indem man das Verhältnis des Eigenen und Fremden als eine Konstruktion des Hybriden neu fasst. Anhand der Vampirfigur lässt sich der Unterschied zwischen einer binären, subjektiven Identitätskonstruktion der Xenologie und einer Perspektive ablesen, die Ununterscheidbarkeit nicht zum Problem, sondern zum Status macht und so Hybridität als konstituierendes Merkmal der menschlichen Identität präsentiert. Die Möglichkeit, den lebenden Toten dabei mit Agambens Figur zu interpretieren, hat die bisherige literaturwissenschaftliche Forschung lediglich einmal bemerkt, ich weite dies nun auf die literarischen Vampir-Texte des 19. Jahrhunderts aus.17 Der literaturwissenschaftliche Überblick, der die Vampir-Debatte bis hin zu Stokers Dracula umfasst, wurde in dieser Form und in diesem Kontext bislang im Forschungsdiskurs so nicht geleistet.

Ein erstes literarisches Beispiel sind die präsentierten Konstellationen von Fremdheit und Hybridiät in der Goethe-Ballade Die Braut von Corinth. Die ← 17 | 18 → Mutter der sich als Vampirin entpuppenden Tochter grenzt das Ausleben der Sexualität mit der Konvertierung zum Christentum, also einer Demarkation, aus. Ihre von den Toten auferstandene Tochter agiert diese aus, die Mutter wundert sich, dass es in ihrem Hause Dirnen gebe, „die dem Fremden gleich zu Willen sind“18. Hier findet also auf der Figurenebene eine Argumentation im binären Oppositionsschema statt. Der Text selbst jedoch zeigt, dass die Tochter das Kind ihrer Mutter ist, sprich: dass diese Abgrenzungen nicht funktionieren, sondern von der Mutter gesetzt werden, um sich ihre neue Identität als Christin zu versichern. Die Vampirin verkörpert nichts genuin Fremdes, vielmehr etwas, dass die Mutter als fremd erst seit der Annahme der neuen christlichen Religion verleugnet. In der Figur der Ausnahme, der Vampirin als Homo sacer, als eingeschlossene Ausgeschlossene, als bekannte Fremde, offenbart sich diese Spannung adäquater gefasst, erweist sich die lebende Tote doch gleichzeitig als Effekt und Gegenpart des Christentums. Die Ähnlichkeit und die Differenzen gleichermaßen führen zur Möglichkeit einer Normkonstitution, die dem lebenden Toten und den ebenfalls hybrid erscheinenden Menschen gleichermaßen gerecht werden. Daraus abgeleitet ergibt sich die dritte große These: Der Mensch selbst entwickelt sich in den Vampir-Texten des 19. Jahrhunderts zum permanenten „eingeschlossenen Ausgeschlossenen“ bzw. trägt dieses Potenzial in sich. Dabei führt die Reflexion, die auf dem Schema Agambens basiert, weg von einer strikten Opposition hin zu einer Anerkennung von dauerhaft präsenten Ausnahmezuständen, aus denen sich historisch kontextualisiert Normen und Identitätskonstrukte der jeweiligen Zeit adäquater ableiten lassen. Am Vampir besteht die Möglichkeit, Normen der Sexualität und des Zusammenlebens abzulesen, da er in meiner Lesart die Ausnahme repräsentiert, die diese ins Wanken bringt. Mit seiner Vernichtung ist diese Exzeption dann getilgt, aber selbst dies nur scheinbar – die Ausnahme in einem Text sprachlich formuliert, bleibt selbst nach dem Tod des Blutsaugers latent vorhanden, wie die Analysen zeigen werden.

Ein besonderes Interesse wird dabei auch den verschiedenen Formen der Sprachmacht des lebenden Toten gelten, die die literarischen Auftritte mit ausstellen. Diese Macht nutzt die Figur in einigen Texten zur Manipulation der ← 18 | 19 → anderen Protagonisten (Machtausübung), oder aber die Figur des Vampirs enthüllt in ihrer Rede Teile der hybriden Konzeption und Konstruktion der Ebene des discours (Erkenntnis). Zur Ambivalenz der Vampirfigur gehört dabei eine gleichzeitige Sprach-Ohnmacht, die Blutsauger scheitern beständig darin, die Klassifizierungsprozesse und die Jagd der menschlichen Gegner anzuhalten. Hybride Zustände, das zeigen die literarischen Vampire nämlich ebenfalls, sind für die Protagonisten in den Werken nicht auszuhalten. Betrachtet man sich die bereits eingangs erwähnten Hierarchisierungsversuche des Hybriden und das Beharren auf dem Oppositionspaar als feste Eckpfeiler in Teilen der Xenologie, dann gilt das scheinbar auch für eine wissenschaftliche Disziplin des 20. und 21. Jahrhunderts.

Im Nachvollzug der literarischen Karriere des Vampirs soll meine Arbeit diesem etwas entgegenstellen. Eine Ausnahmestellung beim Weg durch das 19. Jahrhundert nimmt dabei Bram Stokers Roman Dracula aus dem Jahr 1897 ein. Deshalb soll er, der Chronologie entgegen, die Analyse rahmen. In diesem Text, der sich durch einen enormen Bekanntheitsgrad auszeichnet und den Vampir in einer vorher unbekannten Art und Weise in die Öffentlichkeit entlässt, kulminieren viele Interpretationslinien der früheren literarischen Auftritte der lebenden Toten. In einer einzigartigen Quantität und Qualität finden sich in Dracula eben jene Mischkonstellationen, die so charakteristisch für alle Gedichte und Erzählungen über Vampire sind. Zudem eröffnet die polyphone Gestaltung des Romans den klarsten Zugang zur Diskrepanz zwischen den Ebenen der histoire und des discours, zwischen subjektiven Konstruktionsprozessen der Figuren und den gemischten Konstellationen in Betrachtung der Darstellungsebene. Aufgrund dieser Tatsache lassen sich hier die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit am plastischsten herleiten und erleichtern den Zugang zur Analyse entscheidend. Außerdem wird Dracula die Maßstäbe für die Vampir-Literatur des 20. Jahrhunderts sowie die filmischen Adaptionen seiner Geschichte setzen. Die Blutsauger des 20. Jahrhunderts sind nämlich ebenfalls Repräsentanten des Fremden in eigener Gestalt.19

Der nachvollzogene Weg des Vampirs bis zum Ende des 19. Jahrhunderts offenbart zusätzlich auch das Paradox, auf das diese Arbeit abzielt. Zu Beginn der Analyse wird genau auf jenes Paar des Eigenen und Fremden als Ausgangspunkt Bezug genommen. Die wissenschaftliche Analyse benötigt diese Konstruktion ← 19 | 20 → als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Im Verlauf der Interpretationen erweist sich diese Opposition jedoch eben als subjektives Gebilde und muss in einen adäquateren hybriden Status in der literaturwissenschaftlichen Perspektive auf den Vampir überführt werden. So wird schon die Einleitung zur Untersuchung über das Fremde zwangsläufig mit der eingangs schon beschriebenen Erkenntnis enden, dass es das Fremde genuin nie gegeben hat. Der Vampir in den Texten repräsentiert also infolgedessen nicht einen oder gar den Fremden, nein, er ist der bekannte Fremde, der dem Grab entsteigt – und dem Menschen immer wieder die Fragilität des eigenen Identitätskonstrukts basierend auf Oppositionen und auf diesem Weg die eigene Hybridität enthüllt. ← 20 | 21 →


4 Stoker, Bram: Dracula. Edited by Nina Auerbach and David J. Skal. New York, London 1997, S. 30.

5 Vgl. z. B.: Albrecht, Corinna: Der Begriff der, die, das Fremde. Zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema Fremde. Ein Beitrag zur Klärung einer Kategorie. In: Bizeul, Yves et al. (Hg.): Vom Umgang mit dem Fremden. Hintergrund – Definitionen – Vorschläge. Weinheim, Basel 1997, S. 80–93; Naguschewski, Dirk/Trabant, Jürgen (Hg.): Was heißt hier „fremd“? Studien zu Sprache und Fremdheit. Berlin 1997; Albrecht, Corinna: Fremdheit. In: Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart, Weimar 2003, S. 232–238 und Bremshey, Christian et al (Hg.): Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004.

6 In dem Moment, in dem ein „Ich“ sagen kann, „Das/Der ist fremd“, geht dies in der Xenologie einher mit einem „Das bin nicht ich“; als Folge ist dann der dritte Schritt ein „Ich bin“ in Abgrenzung zum vorherigen Benannten. Vgl. dazu z. B.: Ohle, Karlheinz: Das Ich und das Andere. Grundzüge einer Soziologie des Fremden. Stuttgart 1978 oder Guthke, Karl S.: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur. Tübingen, Basel 2000 oder Straub, Jürgen: Identität. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch. Stuttgart, Weimar 2004, S. 277–303.

7 Schütze, Jochen K.: Vom Fremden. Wien 2000, S. 17/18.

8 Albrecht, Corinna/Wierlacher, Alois: Kulturwissenschaftliche Xenologie. In: Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Herausgegeben von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart, Weimar 2008, S. 291.

Details

Seiten
326
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065350
ISBN (ePUB)
9783653951615
ISBN (MOBI)
9783653951608
ISBN (Hardcover)
9783631671627
DOI
10.3726/978-3-653-06535-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Xenologie Homo sacer Goethe Dracula Hybridität Bhaba
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 326 S.

Biographische Angaben

Oliver Hepp (Autor:in)

Oliver Hepp studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Bayreuth. Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter. Er ist als Dozent im Bereich Deutsch als Fremdsprache und als freier Journalist tätig.

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Titel: Der bekannte Fremde
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