Chile in der Operation Cóndor 1973-1977
Staatsterrorismus in Südamerika
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Abbildungsverzeichnis
- Vorwort
- 1. Einleitung
- 2. Forschungsansatz und Quellenlage
- 2.1 Forschungsansatz
- 2.2 Forschungsstand und Quellenlage
- 2.3 Verwendetes Quellenmaterial
- 3. Der Militärputsch und die Etablierung der Diktatur in Chile
- 3.1 Allendes sozialistisches Experiment und der andere 11. September
- 3.2 Die Etablierung der Junta und der Aufstieg Pinochets
- 3.3 Der berüchtigte Geheimdienst DINA
- 3.4 Psychologische Kriegsführung, Propaganda und Diffamierung: Operativo Lince und Operación Colombo
- 4. Südamerikanische Militärdiktaturen
- 4.1 Die USA und ihr „Hinterhof“
- 5. Die Operation Cóndor
- 5.1 Gründung, Struktur und Aufgaben der Operation Cóndor
- 5.2 Multilaterale Beziehungen und Kooperation vor Gründung der Operation Cóndor
- 5.3 Gründe für die Schaffung des Cóndor-Netzwerkes
- 5.4 Die internationale subversive Bedrohung und ihre Zerschlagung durch die Geheimdienste Südamerikas
- 5.5 Zwischenergebnisse
- 6. Operation Cóndor Phase II und III: Gemeinsame Operationen
- 6.1 Phase II – Operationen in Südamerika
- 6.2 Phase III: Operation Cóndor in Europa und den USA
- 6.3 Die DINA in Europa und den USA
- 7. Die Ermordung Orlando Leteliers in Washington D.C.
- 7.1 Das Attentat
- 7.2 Die Folgen des Letelier-Falls
- 8. Die Operation Cóndor und die USA
- 9. Operation Cóndor, Transition und die schwere Bürde der Aufarbeitung
- 9.1 Strafverfolgung und Urteile
- 9.2 Pinochet und die Operation Cóndor
- 10. Fazit
- Abkürzungen
- Quellen- und Literaturverzeichnis
- Quellen
- Archivo General Histórico Santiago de Chile
- U.S. Department of State – Freedom of Information Act
- The National Security Archive
- Sonstige
- Wahrheitsfindungsberichte und Menschenrechtsorganisationen
- Politische Reden und Verlautbarungen
- Presseartikel & Zeitschriften
- Filme und Videos
- Internet-Ressourcen
- Literatur
- Nachwort und Danksagungen
- Index
von Rainer Hudemann
Die Auseinandersetzung mit den großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts bleibt auch im 21. Jahrhundert eine Vergangenheit, die nicht vergeht, sondern in vielfältiger Hinsicht die politischen Kulturen der großen Demokratien weiter herausfordert. Einen auch für die Bundesrepublik noch 2016 immer von neuem aktuellen Fall stellen die lateinamerikanischen Diktaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Das gilt nicht nur für diese Diktaturen als solche. Die Vereinigten Staaten von Amerika beanspruchen in ihrer langen Tradition der 1823 formulierten Monroe-Doktrin seit nunmehr bald zwei Jahrhunderten gegenüber Europa einen vorherrschenden Einfluss in Südamerika.
Die lateinamerikanischen Diktaturen wurden auf einer Vielzahl von Ebenen seitens der USA gestützt. Deren direkte Beteiligung beispielsweise am gewaltsamen Sturz und Tod des gewählten Staatspräsidenten Salvador Allende 1973 ist bekannt. Auch die (west-) deutsche Politik und Wirtschaft gehörte nicht zu den Hauptgegnern der Diktatoren. Andererseits erlaubt es die weltweit eine Ausnahmestellung einnehmende aktive Informationspolitik der Vereinigten Staaten jetzt, den konkreten Konstellationen zeitnäher als in zahlreichen anderen und gleichfalls hoch kontroversen jüngeren Konflikten auf den Grund zu gehen. In diesem Sinne spiegeln Lennart Bohls eindrucksvolle Ergebnisse direkt oder indirekt zugleich Grenzen und Leistungen amerikanischer Außenpolitik im 21. Jahrhundert wider, obwohl diese nicht sein primärer Gegenstand ist.
In der „Operation Cóndor“ schlossen sich die staatlichen Geheimdienste von Chile, Bolivien, Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay in den 1970er Jahren zusammen, um Informationen über Guerilla-Gruppen in Südamerika auszutauschen und deren gemeinsame Bekämpfung zu organisieren. Darüber hinaus aber und primär war das Ziel, oppositionelle Persönlichkeiten – seien sie Führungsfiguren oder einfache Bürger – im eigenen Land und weltweit im Exil zu verfolgen, Frauen und Männer gleichermaßen bestialisch zu foltern und zu ermorden. Kein in Opposition zu einer der Diktaturen stehender Staatsbürger konnte seines Lebens und seiner Gesundheit sicher sein.
Bohl rekonstruiert im Detail den Aufbau des Cóndor-Netzwerks und leistet hier Pionierarbeit auch für die anderen daran beteiligten Länder. Einen der zahlreichen Höhepunkte stellte die Ermordung des ehemaligen chilenischen Außenministers Orlando Letelier mitten im Washingtoner Diplomatenviertel dar; Diktator Pinochet hatte den Mord persönlich in Auftrag gegeben und die ← 9 | 10 → amerikanischen Ermittlungen massiv und dauerhaft behindert, wie Bohl aufgrund seit 2015 zugänglicher amerikanischer Akten hier erstmals nachweisen kann. Pinochet wurde nie verurteilt, stritt bis zu seinem Tod jegliche Kenntnis von irgendwelchen Morden und Folterungen ab und wies die volle Verantwortung dafür seinem Geheimdienstchef zu – ebenso wie dieser umgekehrt dem Diktator.
In diesen hoch komplexen Geflechten situiert sich das herausragende Buch von Lennart Bohl. Der Autor zeigt, wie kompliziert die Erforschung solcher Netzwerke ist, wie sie aber auch erfolgreich durchgeführt werden kann. Selbstverständlich sind die originalen chilenischen Geheimdienstarchive der Militärzeit entweder vernichtet oder kaum zugänglich. Bohl hat jedoch eine weit ausgreifende Palette weiterer Pisten aufgespürt. Er setzt sich durchgehend intensiv mit der Quellenlage auseinander, darunter insbesondere mit der außerordentlichen Schwierigkeit der Interpretation von Geheimdiensttexten in dem, was sie sagen, und in dem, was sie nicht aussagen. Für den Leser bedeutet es, dass er jeden einzelnen Argumentationsstrang des Autors minutiös nachverfolgen und überprüfen kann. Auch im Archivo General Histórico in Santiago de Chile, wo die Dokumentation auf den ersten Blick kaum ergiebig erschien, hat Bohl über die bisherige Forschung hinausgehende, grundlegende Ergebnisse erzielt. Das gelang in geradezu filigranartiger Interpretationsarbeit und durch die ständige kritische Kreuzung mit Quellen anderer Herkunft, insbesondere aus US-amerikanischen Institutionen und von Menschenrechtsorganisationen. Das gilt auch für das Ausmaß und die Grenzen der amerikanischen Kenntnisse über das im Zentrum des Buches stehende Netzwerk des Staatsterrors: der Operation Cóndor war es gelungen, sich sogar gegen die USA und die CIA abzuschotten, welche die Geheimdienste gutenteils selbst ausgebildet hatten, nicht zuletzt in Foltermethoden.
Viele amerikanische Quellen, darunter der CIA, und die vieler anderer Institutionen wie etwa der späteren chilenischen Wahrheitsfindungskommission und von Menschenrechtsorganisationen sind jetzt im Internet zu finden. Sie wollen aber auch entdeckt sein. Zu den hohen Qualitäten der Arbeit gehört, in welch beeindruckendem Ausmaß es Lennart Bohl gelungen ist, aus oft völlig versteckten kleinen Homepages wichtiges Material zutage zu fördern und zu überprüfen. Er nutzt ebenfalls umfangreiche Quellen aus Presse, Zeitschriften und Filmen verschiedenster Länder. In seine Analyse bezieht er die bisherige internationale Forschung – die in der Bundesrepublik noch vergleichsweise weniger entwickelt ist – in sorgsamer Reflektion ihrer methodischen Vorgehensweisen, ihrer ← 10 | 11 → Ergebnisse und ihrer Grenzen ständig ein, so dass sich auch auf dieser Ebene die Leistungen des Buches stets klar nachverfolgen lassen.
Den zehntausenden von Opfern, deren weiteres Leben oder grauenvolles Sterben durch die Diktaturen bestimmt wurde, setzt Lennart Bohl mit seinem Buch zugleich ein in der Nüchternheit seiner Darstellung um so einprägsameres Denkmal. ← 11 | 12 →
Operation Cóndor was a multinational intelligence network between South American dictatorships during the 1970s and 80s, which brought state terrorism to the whole continent and even persecuted leaders of the political opposition, who had fled to Europe and the United States. This book examines the history and the modus operandi of Operation Cóndor.
„Das ist eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte.“
Dies war eine der häufigsten Antworten, die ich erhielt, als ich im September 2011 während meines Aufenthaltes in Chile im Zusammenhang mit dieser Arbeit Chilenen auf die Operation Cóndor ansprach.
Ab Mitte der 1970er Jahre befand sich fast der gesamte südamerikanische Kontinent unter der Herrschaft repressiver Militärdiktaturen. Diese waren gekennzeichnet durch rücksichtslose Unterdrückung und Verfolgung der politischen Opposition. Hunderttausende Flüchtlinge und zehntausende Tote und Verschwundene – davon alleine etwa 3000 in Chile und 30000 in Argentinien – verdeutlichen, von welcher Brutalität diese Regimes gekennzeichnet waren. Obwohl es enorme Unterschiede zwischen den einzelnen Diktaturen hinsichtlich Herrschaftsform1 und Anzahl der Opfer2 gab, verband sie eine gemeinsame Ideologie, nämlich die Bekämpfung des Kommunismus um jeden Preis.
Großen Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Südamerika hatten die Vereinigten Staaten. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verabschiedeten die USA die National Security Doctrine, die es ihnen erlaubte, umfassende Maßnahmen zur Eindämmung des Kommunismus innerhalb ihrer Einflusssphäre zu ergreifen. Nach der kubanischen Revolution 1959 wurde diese politische Prämisse in besonderer Weise auch auf Lateinamerika angewandt. In vielerlei Hinsicht ← 13 | 14 → förderten die USA die südamerikanischen Militärherrschaften und unterstützten diese bei der Bekämpfung der politischen Opposition.
In diesem politischen Rahmen wurde im Jahre 1975 die Operation Cóndor geschaffen. Dabei handelte es sich um einen Zusammenschluss der Geheimdienste von sechs Militärregimes Südamerikas: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay. Proklamiertes Ziel des Verbundes war die Bekämpfung eines gemeinsamen Feindes: linksradikale politische Oppositionsgruppen, oder im Jargon der Militärregierungen: Subversion.
Die Operation Cóndor steigerte das Maß an geheimdienstlicher Zusammenarbeit auf ein bislang nie erreichtes Niveau. Ein Hauptcharakteristikum des Netzwerks war, dass die Geheimdienste Oppositionelle nicht bloß auf dem eigenen Staatsgebiet verfolgten, sondern die Jagd auch über die Landesgrenzen hinaus trugen.
Es sei vorweggenommen, dass die Zahl der Todesopfer, die Cóndor-Operationen zuzuschreiben sind, gemessen an der Gesamtzahl der Opfer der verschiedenen Militärdiktaturen als recht gering einzuschätzen ist.3 Dennoch erregten viele der Anschläge, die im Rahmen des Cóndor-Netzwerkes geschahen, ob der Popularität einiger Opfer großes Aufsehen bei der Bevölkerung und sogar in ausländischen Medien.4 Die Impertinenz und Brutalität, mit der Cóndor-Agenten ihre Missionen selbst innerhalb der Grenzen westlicher Demokratien realisierten, führten dazu, dass die Operation Cóndor zum Inbegriff des Staatsterrorismus wurde, der die meisten südamerikanischen Staaten in den siebziger Jahren prägte. 5
1 In Paraguay war Alfredo Stroessner 35 Jahre lang alleiniger Herrscher und verkörperte damit das klassische Bild des Caudillos. In Chile putschte sich 1973 eine Junta an die Macht, jedoch setzte sich Pinochet nach und nach gegen die anderen Juntamitglieder durch und wurde de facto alleiniger Machthaber. Auch in Argentinien übernahm 1976 eine Militärjunta die Macht, wobei die Präsidentschaft bis zum Ende der Diktatur mehrfach wechselte. Im Nachbarland Uruguay ließ die neue Militärjunta den zivilen Präsidenten Bordaberry nach dem Putsch zwar zunächst im Amt, kontrollierte ihn jedoch, bevor sie ihn letztendlich doch ersetzte.
2 Während in Bolivien von „lediglich“ etwa 500 Todesopfern der Militärdiktatur ausgegangen wird, war Argentinien mit circa 30000 Toten und Verschwundenen innerhalb von sieben Jahren die blutigste der südamerikanischen Diktaturen.
Details
- Seiten
- 266
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783631698259
- ISBN (MOBI)
- 9783631698266
- ISBN (PDF)
- 9783653066043
- ISBN (Paperback)
- 9783631673485
- DOI
- 10.3726/b10350
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (September)
- Schlagworte
- Militärdiktaturen Südamerika Mordanschläge DINA Orlando Letelier Argentinien
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 266 S., 15 s/w Abb., 2 farb. Abb.