Islamisches Recht in Theorie und Praxis
Neue Ansätze zu aktuellen und klassischen islamischen Rechtsdebatten
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Einführung
- Orientalismus und das islamische Recht: Debatten über den Ursprung und das Wesen des islamischen Rechts
- ʾInsidād bāb al-iǧtihād: Einige Notizen zum Verhältnis von ʾiǧtihād und taqlīd
- „Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht damit Gott“ – Normativität der prophetischen Tradition und Gnadenerfüllung im sunnitischen Denken der spätformativen Periode
- Ansätze hermeneutischen Denkens in Šāṭibīs maqāṣid-Theorie – Grundfragen einer modernen Relektüre
- ʾiǧmāʿ und Globalisierung – Praktikabilität und Wandelbarkeit des islamischen Konsensusprinzips in der Gegenwart
- Moderne Medizinische Beweisführung und ihre Relevanz für die Normenlehre
- Warum Gott die Menschen durch die Offenbarung seiner Weisungen in die Pflicht nimmt nach der Darlegung des ʾAbū ʾIsḥāq ʾIbrāhīm b. Mūsā aš-Šāṭibī (gest. 790 A.H.) in seinen al-Muwāfaqāt, II, 4 übersetzt von Jens Bakker
- Maqāṣid Ash-Schariʿa al-Islamiyya wa makārimihā, Dar al Gharb al Islami, Auflage 5, S. 62–80, übersetzt von Hala Fouad Sindlinger mit einer Einleitung von Mouez Khalfaoui
- Personenverzeichnis
Warum ist das islamische Recht (in Deutschland auch islamische Normenlehre, islamische Jurisprudenz genannt) in den letzten Jahren so wichtig geworden? Weshalb ist dieses Thema in Europa beziehungsweise in Deutschland überhaupt von Interesse? Welcher gesellschaftliche Nutzen könnte durch diesen Wissensbereich entstehen und welche Ansätze sollte die Forschung hierzu verfolgen? Diese Fragen begleiten fast jede Diskussion über das islamische Recht, insbesondere wenn diese im europäischen beziehungsweise deutschen Kontext stattfindet.
Dass das islamische Recht heutzutage von globalem Interesse ist, hängt mit den immer lauter werdenden Plädoyers seitens ultrakonservativer muslimischer Akteure für die Vollstreckung der Scharia sowohl in islamisch geprägten Staaten als auch in anderen Regionen der Welt zusammen. Denn die Berufung auf die Scharia als Gottesrecht ist gegenwärtig der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich unterschiedliche muslimische konservative Kräfte weltweit einigen können. In Europa und in westlichen Staaten ist die Diskussion über islamisches Recht meistens von Vorurteilen und Klischees geprägt. Bei näherer Betrachtung der massenmedialen Darstellung des Islams und der tatsächlichen Lebenswelt von Muslimen in Westeuropa fällt auf, dass in Zusammenhäng mit der Scharia große Aufmerksamkeit erregt wird. Dies liegt größtenteils daran, dass der Begriff „Scharia“ mit drakonischen Strafen assoziiert und somit als Bedrohung für europäische Werte und Rechtssysteme angesehen wird.
Die teilweise oder vollständige Wiedereinführung islamischer Rechtsnormen in zahlreichen muslimischen Staaten, wie etwa Iran, Pakistan, Sudan, Nigeria und Afghanistan, ist mit Kritik und Skepsis seitens der internationalen Staatengemeinschaft und der Menschenrechtsorganisationen aufgenommen worden. Die Nachrichten aus den oben genannten Ländern verzeichnen zudem, dass die aktuelle Implementierung islamischer Rechtsnormen weder den versprochenen Wohlstand und die Gerechtigkeit noch die Reduktion der Kriminalität gebracht haben. Diese Situation wirft zahlreiche Fragen auf: Wie wird die Scharia gegenwärtig rezipiert, ← 9 | 10 → interpretiert und implementiert? Welche Aspekte der klassischen Ansätze können angewendet werden? Was sollte angepasst werden und was unverändert bleiben? Wie kann das islamische Recht reformiert werden? Welchen Modellen sollte man in diesem Zusammenhang folgen: westlich-säkularen oder islamisch-traditionellen?
Zunächst einmal gilt es zu klären, wie das islamische Recht an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Epochen verstanden und umgesetzt wurde beziehungsweise werden soll(te). In muslimischen Staaten kollidieren diesbezüglich die Ansichten zweier Lager: Auf der einen Seite stehen die sogenannten progressiven Akteure, die für eine starke Reform des islamischen Rechts oder sogar für die Übernahme westlicher Rechte plädieren und sich gegen die Anwendung jedweder islamischer Rechtsnormen aussprechen. Auf der anderen Seite stehen die sogenannten konservativen Akteure, die in der Wiedereinführung des „Rechts Gottes“ die einzige Möglichkeit für Fortschritt und Entwicklung muslimischer Gesellschaften sehen. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Gruppen hat gegenwärtig mit der Diskussion über die neuen Verfassungen etlicher Staaten wie unter anderem in Tunesien, Libyen und Ägypten ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dort werden die Fragen nach der Umsetzbarkeit der Scharia und ihrem Verhältnis zum kodifizierten modernen Recht beziehungsweise zum säkularen Recht diskutiert.
In Europa beziehungsweise in Deutschland wird die Auseinandersetzung mit dem islamischen Recht durch verschiedene Faktoren verschärft. Die dauerhafte freiwillige Niederlassung einer großen muslimischen Minderheit in europäischen Staaten und die Annahme der Staatsangehörigkeit dieser Staaten erfordert die Anerkennung des jeweils geltenden säkularen Rechts. Zwar garantieren alle diese Rechtssysteme die freie Ausübung der Religionsfreiheit, lassen jedoch praktischen Aspekten des islamischen Rechts in den meisten anderen Bereichen des geltenden Rechts keinen Raum. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie Muslime dem säkularen Rechtsstaat gegenüberstehen und ob und in welchem Ausmaß Normen des islamischen Rechts in nichtmuslimischen Staaten anwendbar sind, ohne dass es zu einem Verstoß gegen die herrschende säkulare Justiz europäischer Staaten kommt. Wurden diese Punkte lange Zeit nur im „stillen Kämmerlein“ von Forschungsinstitutionen diskutiert, sind sie heute Teil des öffentlichen Diskurses geworden. ← 10 | 11 →
Gegenwärtig erfolgt die Beschäftigung mit dem islamischen Recht in Europa aus zwei Blickwinkeln: Eine praktisch-pragmatische Herangehensweise befasst sich mit Fragen nach der Implementierung der Rechtsnormen und deren Kompatibilität mit Demokratie und Menschenrechten. Bei der zweiten Betrachtungsweise handelt es sich um die klassisch-historische Perspektive. Hierzu gehört unter anderem die altbekannte Forschung, wie sie von westlichen Orientalisten seit dem 19. Jahrhundert betrieben wurde, die jedoch in den letzten Jahren zugunsten der pragmatischen Herangehensweise an Bedeutung verloren hat. Aspekte, die in diesem Zusammenhang im Vordergrund stehen, sind die Entstehung und Entwicklung des islamischen Rechts sowie die Frage, wo und wie das islamische Recht gegenwärtig praktiziert werden kann.
Eine weitere Betrachtungsperspektive im Bereich des islamischen Rechts ist durch die Etablierung der Zentren für Islamische Theologie entstanden. Seit 2010 bieten die fünf bisher etablierten Zentren der islamischen Theologie in Deutschland eine umfassende theologische Ausbildung an. Dabei werden unter anderem sowohl die Geschichte des islamischen Rechts als auch dessen gegenwärtige Implementierung vermittelt bzw. untersucht. In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern dieses Recht für die im Westen lebenden muslimischen Minderheiten von Nutzen sein könnte.
Der vorliegende Band dokumentiert die einzelnen Beiträge der Tagung „Islamisches Recht: Theorie und Praxis“. Diese Tagung wurde im Januar 2013 gemeinsam von den Zentren für Islamische Theologie in Osnabrück und Tübingen organisiert.1 Die Stiftung Mercator, die sich für die Belange der islamischen Theologie einsetzt, übernahm dankenswerterweise die Finanzierung der Tagung. Die Beiträge dieses Tagungsbandes decken drei Hauptgebiete des islamischen Rechts ab. Im ersten Kapitel des Buches werden grundlegende Fragen bezüglich der Geschichte des islamischen Rechts sowie einige Konzepte wie die Hauptziele der Scharia (maqāṣid) und die Idee des Gemeinwohls (maṣlaḥa) behandelt. Im zweiten Teil werden praxisbezogene Themen des islamischen Rechts angesprochen. Aufgrund des bisherigen Mangels und der großen Nachfrage nach deutschsprachigen ← 11 | 12 → Quellen des islamischen Rechts werden im dritten Teil zwei Kapitel aus bedeutenden Rechtsquellen in der deutschen Übersetzung präsentiert. Somit deckt der vorliegende Sammelband einige der wichtigsten Gebiete des islamischen Rechts ab. Im Folgenden werden die einzelnen Beiträge kurz zusammengefasst.
Im ersten Beitrag „Orientalismus und das Islamische Recht: Debatten über den Ursprung und das Wesen des Islamischen Rechts“ beschäftigt sich Mouez Khalfaoui mit der Frage, wie das islamische Recht seitens der Orientalisten untersucht wurde. Ausgehend von der Annahme, dass das islamische Recht einen wichtigen Zugang zur Untersuchung der muslimischen Kultur und des muslimischen Orients darstellt, zeichnet Khalfaoui die Darstellung des islamischen Rechts in der westlichen Forschung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart nach. Der Autor teilt diesen Zeitraum in drei Phasen ein und führt, um die einzelnen Phasen eingehend untersuchen zu können, zwei Faktoren an, die bei jeder Beschäftigung mit dem islamischen Recht seitens westlicher Forscher eine Rolle spielten: Die Erkenntnisinteressen und den Quellenstand. Anhand mehrerer Beispiele aus den verschiedenen Phasen des Untersuchungszeitraums stellt der Autor fest, dass die Forschung über das islamische Recht seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen maßgeblichen Wandel erfahren hat. So wurde im Laufe der Zeit – insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts – umfangreiches Quellenmaterial entdeckt, welches tiefere Einblicke in den Ursprung des islamischen Rechts ermöglicht. Von zentraler Bedeutung ist die Forschung, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurde – eine Phase, die der Autor als Epoche Joseph Schachts (1902–1969) bezeichnet. Khalfaoui untersucht daher einerseits den Ansatz Schachts und widmet sich gleichzeitig der Frage, inwiefern dieser seine Nachfolger und Kritiker beeinflusst hat. Von großer Relevanz ist der vorerst letzte Entwicklungsschritt auf diesem Gebiet: Die Entstehung des Studienfachs der Islamischen Theologie an einigen europäischen Universitäten. Diese Innovation öffnet neue Perspektiven für weitere Forschungen auf dem Gebiet des islamischen Rechts.
Der Beitrag von Bülent Ucar über „Insidād bāb al-iǧtihād: Einige Notizen zum Verhältnis von iǧtihād und taqlīd“ bietet einige inhaltliche und methodische Zugänge zu der andauernden Debatte über die Vergangenheit und Zukunft der islamischen Rechtsnormen. Diese Debatte hat sich seit einigen Jahrzehnten auf die Frage konzentriert, ob und inwieweit muslimische ← 12 | 13 → Rechtsgelehrte neue Antworten und Überlegungen erzeugen können und damit teilweise die Meinungen vorheriger Rechtsgelehrter zu revidieren oder abzulehnen vermögen. Die Drehscheibe für diese Diskussion bildet die Beziehung der Rechtsnormen zum Lebenskontext der Menschen. Ausgehend von der Annahme, dass das islamische Recht eng mit der Lebenssituation der Muslime in Verbindung steht, stellt sich die Frage, wie man neue Lösungen für unser modernes Leben erzeugen kann. Hierbei haben sich zwei ideologische und methodische Konstellationen herausgebildet. Beide beziehen sich auf die Interpretation der Rechtsquellen in der modernen Zeitepoche. Auf der einen Seite stehen die sogenannten konservativen Kräfte. Diese bestehen auf einer fast buchstäblichen Interpretation der Quellen; die Ultrakonservativen denken sogar, dass nur eine einzige und unveränderbare Interpretation vorhanden ist; für sie bietet eine genaue Umsetzung geerbter Normen die ideale Lösung für die Probleme gegenwärtiger Gesellschaften. Für eine andere Gruppe bräuchte eine Umsetzung der Rechtsnormen unbedingt eine Anpassung an unseren Lebenskontext und daher eine neue Interpretation der Rechtsquellen. Eine weitere Gruppe besteht aus ablehnenden Stimmen, die dafür plädieren, die Normen des islamischen Rechts ganz aufzugeben und stattdessen Normen des modernen Rechts anzuwenden. Alle diese Doktrinen haben ihre Anhänger in der muslimischen Welt sowie auch im Westen und die Diskussion zwischen ihnen scheint noch eine Weile in Anspruch zu nehmen.2
Im seinem Beitrag „‚Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht damit in der Tat Gott‘ – Die theologischen Grundlagen der normativen Autorität des Propheten im sunnitischen Denken“ geht Ruggero Vimercati Sanseverino der Frage nach, welche Bedeutung der Hadith und die Person des Propheten Muhammad im islamischen Recht haben. Sanseverino formuliert die Annahme, dass die Tradition des Propheten Muhammad ein heikles Thema im Bereich des islamischen Rechts darstellt. Hierbei wird die Frage nach dem Bezug der Hadithe zum Koran gestellt. Um diese Frage zu beantworten, fokussiert Sanseverino seine Forschung auf das Kitāb aš-Šifāʾ (das Buch der Heilung) des berühmten mālikitischen Gelehrten Qāḍī ʿIyāḍ (gest. 544/1149) und geht hierbei insbesondere auf zwei Aspekte näher ein: ← 13 | 14 → Die Entstehung und Entwicklung der Gattung „Merkmale der Prophetie“ (Šamāʾil an-Nubuwwa) zum einen und die Position des Propheten Muhammad und die Frage nach dessen Unfehlbarkeit zum anderen. Sanseverino ermöglicht es somit die Art und Weise, wie im sunnitischen Denken die dogmatischen Grundlagen für die normative Autorität des Propheten erarbeitet werden, zu verstehen.3
Im dritten Beitrag mit dem Titel „Ansätze hermeneutischen Denkens in Šāṭibīs-Maqāṣid-Theorie. Grundfragen einer modernen Relektüre“ befasst sich Mohammed Nekroumi mit dem Konzept der Ziele der Scharia (maqāṣid) und interpretiert sie im Rahmen der immer akuter werdenden Frage der Reform beziehungsweise Erneuerung des islamischen Rechts seit dem 20. Jahrhundert. In seinem Beitrag versucht er durch einen Vergleich die Auslegungen bezüglich der Norm der maqāṣid zu erläutern: Als Fallbeispiele dienen die Werke von Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (gest.1388) und ʿAlāl al-Fāsi (gest.1974). Hier bedient sich Nekroumi zweier unterschiedlicher Ansätze: Der Autor nutzt den historisch-analytischen Ansatz, um die Geschichte der maqāṣid im islamischen Denken zu interpretieren. Dabei stellt er fest, dass maqāṣid bereits in der klassischen Epoche des islamischen Rechtsdenkens thematisiert wurde, etwa bei al-Ǧuwaynī (gest. 478/1085) und dessen Nachfolgern. Dieser Abschnitt vermittelt einen Einblick in die Entstehung und Entwicklung der maqāṣid-Theorie. Im zweiten Teil des Beitrags wird das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft anhand von Šāṭibīs maqāṣid-Vorstellungen erläutert.4
Details
- Seiten
- 200
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653066159
- ISBN (MOBI)
- 9783653960518
- ISBN (ePUB)
- 9783653960525
- ISBN (Hardcover)
- 9783631673577
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06615-9
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (April)
- Schlagworte
- Quellen des islamischen Rechts Moderne und klassische Ansätze zum islamischen Recht Definition und Geschichte des islamischen Rechts
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 200 S.