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Prosozialität im Islam

Ihre Lehren und Dimensionen im Koran und Hadith

von Özden Güneş (Autor:in)
©2016 Dissertation 351 Seiten

Zusammenfassung

Der Islam soll den Muslim zu einem ethischen und prosozialen Leben führen. Entgegen dem heutigen Islambild ist festzuhalten, dass jede Art von Prosozialität, gegenüber allen Lebewesen und allem, was existiert, eine vom Islam nicht nur erwünschte, sondern bei jedem Anlass mit Nachdruck geforderte Haltung ist. Aus der aktuellen Lage der Anschläge politisch-religiöser Bewegungen, der Missdeutung des Islams und der notwendigen universalen Solidarität heraus sollten die Ideale des Islams als eine Bereicherung und konstruktive Kraft der globalen Prosozialität, der Solidarität und des Friedens erkannt und gefördert werden. Die hermeneutische Methode ermöglicht das Erfassen der prosozialen Sinnzusammenhänge im Koran und in der Sunna.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Lesehinweise
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Prosozialität
  • 1.1.1 Gesellschaftliche Relevanz
  • 1.1.2 Die sozialpädagogische und interkulturelle Relevanz
  • 1.1.3 Vorsatz: Ein Beitrag für den Weltfrieden
  • 1.1.4 Welche Werte?
  • 1.1.5 Das Projekt Weltethos- Religionen als ein Grundkonsens von Kernwerten
  • 1.1.6 Die Erweiterung des Verantwortungsrahmens nach Buchkremer
  • 1.2 Ziele dieser Dissertation
  • 1.2.1 Die Potentiale zur Prosozialität im Koran und in den Hadithen
  • 1.2.2 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
  • 1.3 Methodik
  • 2. Prosozialität als das Gute
  • 2.1 Definitionen
  • 2.2 Bedeutungsnahe Wörter im Deutschen
  • 2.3 Die Motivationsgründe von Prosozialität nach Staub
  • 3. Der Islam
  • 3.1 Begriffsdefinition „Islam“
  • 3.1.1 „Dīn“ – das arabische Wort für „Religion“
  • 3.1.2 Dīn: die islamische Religion
  • 3.1.3 Religion verbindet – Der Islam und die „Urreligion“
  • 3.2 Quellen der islamischen Lehre
  • 3.2.1 Der Koran – Die erste Quelle des Islams
  • 3.2.1.1 Die Authentizität des Koran
  • 3.2.1.2 Über den historischen Hintergrund des Korans
  • 3.2.1.3 Die Botschaft und der Adressat des Korans
  • 3.2.1.4 Die Kernaussagen des Korans
  • 3.2.2 Die Sunna – Die zweite Quelle
  • 3.2.2.1 Das Vorleben des Koran durch Muḥammad
  • 3.2.2.2 Persönliche und normative Sunna
  • 3.2.2.3 Authentizität der Hadithe
  • 3.3 Die Lehre des Islam
  • 3.3.1 Īmān – der Glaube
  • 3.3.1.1 Erster Teil: Das islamische (Credo) amantu – „ich glaube“
  • 3.3.1.1.1 Erster Teil: Der Glaube an den Einen Gott (tawḥīd)
  • 3.3.1.1.2 Die Gotteslehre im Islam: Allah
  • 3.3.1.1.3 Etymologie des Namens „Allah“
  • 3.3.1.1.4 Erkenntnis Gottes – Quellen, durch die sich Gott kundtut
  • 3.3.1.1.5 Al-asmāʾ al-ḥusnā (die schönsten Namen Gottes)
  • 3.3.1.2 Der Glaube, dass Muḥammad der Gesandte Gottes ist
  • 3.3.1.3 Der Glaube an die Engel Gottes
  • 3.3.1.4 Der Glaube an die offenbarten Schriften
  • 3.3.1.5 Der Glaube an die Gesandten/Propheten
  • 3.3.1.6 Der Glaube an das Leben nach dem Tod
  • 3.3.1.7 Der Glaube an die göttliche Vorsehung
  • 3.3.2 ʿIbāda – Religiöse Praktiken und die fünf Säulen des Islam
  • 3.3.2.1 Das Glaubensbekenntnis (šahāda)
  • 3.3.2.2 Das Gebet (ṣalāt)
  • 3.3.2.2.1 Ausdruck des Gebetes
  • 3.3.2.2.2 Das prosoziale Motiv des Gebets
  • 3.3.2.3 Die verpflichtende Sozialabgabe (zakāt)
  • 3.3.2.3.1 Das Motiv der zakāt-Zahlungen
  • 3.3.2.3.2 Prosoziale Aspekte des zakāt
  • 3.3.2.4 Das Fasten (ṣawm)
  • 3.3.2.4.1 Das Motiv des Fastens
  • 3.3.2.4.2 Prosoziale Aspekte des Fastens im Ramadan
  • 3.3.2.5 Die Wallfahrt / Pilgerfahrt (ḥaǧǧ) nach Mekka
  • 3.3.2.5.1 Sinn und Zweck des ḥaǧǧ
  • 3.3.2.5.2 Prosoziale Aspekte des ḥaǧǧ
  • 3.3.3 Aḫlāq – Ethik und Charaktererziehung im Islam
  • 3.3.3.1 Die Definition der aḫlāq
  • 3.3.3.2 Die Position der aḫlāq unter den Kategorien des Islam
  • 3.3.3.3 Die Lehre der aḫlāq (ʿilm al-aḫlāq)
  • 3.3.3.4 Die Aufgabe der islamischen aḫlāq
  • 3.3.3.5 Angeborene oder erworbene aḫlāq?
  • 3.3.3.6 Islamische aḫlāq- (Moral) Schriften und ihre Verfasser
  • 3.3.3.7 Aḫlāq nach Draz
  • 3.3.3.8 Die Notwendigkeit eines Vorbildes: das Vorbild des Propheten Muḥammad
  • 3.3.3.9 Aḫlāq und „das Maß der Mitte“ beim islamischen „Ethiker“ Ġazālī
  • 3.3.3.10 Der Zusammenhang von aḫlāq und der Intention
  • 3.3.4 Muʿāmalāt – die Rechtsvorschriften
  • 4. Das Menschenbild im Islam und die aḫlāq-Fähigkeit des Menschen
  • 4.1 Die Anthropologie des Menschen nach dem Koran
  • 4.2 Die (potentiellen) (psychischen) Fähigkeiten und Schwächen des Menschen
  • 4.3 Die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen
  • 4.4 Die Stellung des Menschen in der Schöpfung
  • 4.4.1 Der Sinn des Lebens
  • 4.4.2 Die Handlungsfreiheit über die Verantwortung des Menschen auf Erden
  • 4.4.3 Niyya – Die „Absicht“ zur Prosozialität im Islam
  • 4.4.3.1 Stufen der Prosozialität im Islam
  • 4.4.4 Ḥalāl (Erlaubtes) und ḥarām (Verwehrtes)
  • 5. Ideale und Motive des „Prosozialen“
  • 5.1 Islamische Begriffe mit Motiven prosozialen Verhaltens
  • 5.1.1 ʿAmal, die Taten
  • 5.1.2 Ṣāliḥ und al-ʿamal aṣ-ṣāliḥ – die Rechtschaffenheit
  • 5.1.3 Birr – das reine Gute
  • 5.1.4 Fiṭra oder zakāt al-fiṭr
  • 5.1.5 Ḫayr – die ausgezeichnete, gesegnete Tat
  • 5.1.6 İʿāna – die Unterstützung
  • 5.1.7 Iḥsān – die Wohltat
  • 5.1.8 ʿInāya – die Gunst Gottes
  • 5.1.9 Infāq – die Freigebigkeit
  • 5.1.10 īṯār – der Altruismus
  • 5.1.11 Kayra – die Gunst
  • 5.1.12 Kaffāra– die Sühne
  • 5.1.13 Muttaqī
  • 5.1.14 Qarḍ ḥasan – das „schöne Darlehen“
  • 5.1.15 Ṣadaqa
  • 5.1.16 ʿUšr– die Abgabe von der Ernte
  • 5.1.17 Waqf (die Stiftung)
  • 5.1.18 Yardımlaşma /muʿāwana (Hilfsbereitschaft)
  • 5.1.19 Zakāt – die obligatorische soziale Abgabe
  • 5.1.20 Zuhd
  • 6. Die Verantwortungen / Verpflichtungen des Menschen
  • 6.1 Bereiche der Rechte, der Verantwortung und der Pflichten
  • 6.1.1 ḥuqūqullāh – Die spirituelle Verpflichtung des Menschen zum Schöpfer
  • 6.1.2 Ḥuqūq al-ʿabd – das Recht des Menschen
  • 6.1.2.1 Helalleşmek/ aṣlaḥa – Gegenseitiges Versöhnen
  • 6.1.2.2 Pflicht
  • 6.2 Die individuelle Verpflichtung des Menschen: zu sich selbst
  • 6.3 Die familiäre Verpflichtung des Menschen gegenüber seinen Angehörigen
  • 6.3.1 Eltern
  • 6.3.2 Lebenspartner
  • 6.3.3 Kinder
  • 6.4 Die sozialen Verpflichtungen des Muslims gegenüber der Gesellschaft
  • 6.4.1 Gegenüber den Verwandten
  • 6.4.2 Gegenüber der Waise, dem Bedürftigen und den Schwachen
  • 6.4.3 Gegenüber den Nachbarn
  • 6.4.4 Gegenüber den Glaubensgeschwistern.
  • 6.4.5 Gegenüber Nichtmuslimen
  • 6.5 Gegenüber der Umwelt
  • 6.5.1 Das Verhalten gegenüber den Tieren
  • 6.5.2 Gegenüber der Natur und die Landschaft
  • 6.5.3 Das Verhalten gegenüber den Bäumen
  • 7. Zusammenfassung und Ergebnis
  • 8. Anhang
  • 9. Literaturverzeichnis
  • 9.1 Internetseiten, Digitalveröffentlichungen, online Abfragen

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Lesehinweise

Um die Lesbarkeit so einfach wie möglich zu halten, wird bei den auf Personen gerichteten Bezeichnungen auf die weibliche Form verzichtet. Alle genannten männlichen Formen sind auch als weibliche Formen zu verstehen, z. B. jeder/jede, Muslim/Muslima, Gläubiger/Gläubige usw.

Es wurden in der Arbeit verschiedene Übersetzungen und Erläuterungen des Korans benutzt. Das schien mir notwendig zu sein, da je nach Übersetzung auch eine andere „Färbung“ des Ursprungstextes vorhanden ist. Soweit nichts anderes angemerkt ist, handelt es sich um die Koranübersetzung von Max Henning, welche von Murad Wilfried Hofmann überarbeitet wurde. Je nach thematischem Bedarf wurde entschieden, ob der „Prophet“ mit „Warner“, „Frohbotschafter“, „Botschafter“ oder „Überbringer“ zu bezeichnen sei. Einige Verse wurden vom Verfasser dieser Dissertation übersetzt und mit Ö.G. gekennzeichnet. Alle anderen Übersetzungen aus dem Koran weisen mit einer Abkürzung auf den Übersetzer. So steht:

Koran H für die Übersetzung von Max Henning,

bzw. die Überarbeitung Murad Wilfried Hofmann

Koran D für die Übersetzung von Ahmad v. Denffer;

Koran K für die Übersetzung von Adel Theodor Khoury;

Koran Ö für die Übersetzung von Ömer Öngüt;

Koran R für die Übersetzung von Abu-r-Ridā’ Muhammed Ibn A. Ibn

Rassoul

Koran Z für die Übersetzung von Amir M. A. Zaidan.

Die von mir verwendeten türkischen Übersetzungen und Erläuterungen des Koran sind von:

  • Elmalılı Hamdi Yazar;
  • Muhammed Esed;
  • Ömer Özsoy und İlhami Güler;
  • Recep Aykan,

Die Übersetzung der weiteren aufgeführten türkischen Werke, Zitate und sonstige Übersetzungen aus dem türkischsprachigen Bereich wurden, soweit nicht anders vermerkt, von mir durchgeführt. Bei den türkisch übersetzten ← 13 | 14 → Buchtiteln klassisch-arabischer Werke, wurden der Autor und Buchtitel so übernommen, wie es in der türkischen Übersetzung transkribiert wurde.

Die im Textverlauf aufgeführten Zahlen wie zum Beispiel (2/126-129) oder (65/4) folgen der üblichen Nummerierung von Koranversen. Die erste Zahl (2/) bzw. (65/) gibt dabei die Nummer der Sure (sūra) des Korans an, die Zahl(en) nach dem Schrägstrich (…/126-129) bzw. (/4) bezeichnen die Koranverse (āyāt, Sg. āya) der angegebenen Sure.

Die vielfach zitierte Hadithsammlung „Riyāḍ aṣ-Ṣāliḥīn“ von an-Nawawī (türk. Riyâzu’s-Sâlihîn) wurde im Textverlauf mit RS abgekürzt und nachfolgend mit dem Rautezeichen (#) und der entsprechenden Hadithnummer versehen. Z.B. entspricht die Angabe (RS #1234) dem Hadith mit der Nummer 1234 im „Riyāḍ aṣ-Ṣāliḥīn“.

Ebenso wird das Werk „Ṣaḥīḥ al-Buḫārī“ (vgl. Literaturliste: Abu-r-Riḍā, Muḥammad Ibn Aḥmad Ibn Rassoul 1996. Auszüge aus dem Sahih Al-Buharyy) mit SAB abgekürzt. Dem folgt wiederum das Rautezeichen (#) und die entsprechende Hadithnummer. Das Beispiel (SAB #1234) entspricht also dem Hadith Nummer 1234 aus dem Werk Ṣaḥīḥ al-Buḫārī.

Unter dem Titel „Al-Bayān“ liegt eine deutsche Übersetzung der Hadithwerke „Ṣaḥīḥ al-Buḫārī“ und „Ṣaḥīḥ al-Muslim“ vor, die im Textverlauf mit AB abgekürzt wird. Wie bei den anderen Hadithwerken folgt dem Rautezeichen (#) die Hadithnummer.

Beim Zitieren der Hadithe wird auf die vollständige Überliefererkette, die im arabischen Original enthalten ist, verzichtet. Stattdessen wird in der Regel nur der Hadithtext, bzw. der Hadithspruch zitiert und bisweilen dieser auch gekürzt.

Bei jeder Nennung des Namens des Propheten „Muhammad“ sei gemäß Koran (33/56) von muslimischen Lesern die traditionell übliche Grußformell „ṣallā Allāhu ʿalayhi wa-sallam“ (Allahs Segen und Heil auf ihm) bzw. nach Zaidan „Allāhumma sallī wa sallim ʿalā Muḥammad“ („Allah! Gewähre Muhammad Deine Gnade und (Deinen) Frieden“) bzw. „ʿalayhi s-salātu wa-sallam“ (Allahs Segen und Frieden auf ihm) hinzuzudenken.2

Außerdem sei bei jeder Nennung der Prophetengefährten oder anderer verdienter Muslime der Gruß „raḍiyallāhu ʿanhu/ha“ („Möge Allah mit ← 14 | 15 → ihm/ihr zufrieden sein“) hinzuzudenken. Dies ist eine Art Bittgebet, welches Muslime bei der Nennung verdienter Muslime, insbesondere der Prophetengefährten, aussprechen.

Bei der Transkription verschiedener islamischer Termini aus dem Arabischen ins Deutsche entstehen oft verschiedene Schreibweisen. Zur Vereinheitlichung der Orthographie wird in dieser Arbeit die Umschrift auf Grundlage der DMG (Deutsche Morgenländische Gesellschaft) verwendet.

Hinweise zur Lautumschrift:

Bei der Umschrift und der Aussprache der vielfach benutzten arabischen Wörter und Namen ist es nützlich folgendes zu beachten:

•   ḥ scharfes hinten in der Kehle gesprochenes h wie „heucheln“

•   ḍ emphathisches d

•   ḫ wie in „Buch“

•   ḏ wie das englische th in „the“

•   ǧ wie dsch in „Dschungel“

•   ġ Gaumenzäpfchen – r wie in „roh“

•   š wie das deutsche sch in „Schule“

•   ṣ stimmloses s

•   ṯ wie das englische th in „three“

•   ṭ empathisches t

•   z wie das deutsche s in „Siegfried“

•   ẓ empathischer Laut zwischen th und s

•   ʿ wie (Kaʿba), ein ganz tief in der Kehle angesetzter; mit
zusammengepresster Stimmritze gebildeter Reibelaut („Kehlkopfquetschung“).
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2 Vgl. Amir Zaidan, At-Tafsir. Eine philologisch, islamologisch fundierte Erläuterung des Quran-Textes, Offenbach 2000, S. 22.

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Abkürzungsverzeichnis

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1.  Einleitung

In Anlehnung an die Forschungen von Buchkremer und seinem Team, der in einer Zeit der rapiden Globalisierung und dem Wandel des Sozial- und Wertesystems das Thema der Prosozialität des Einzelnen und der Gesellschaft bis hin zur Prosozialität des Universums erforscht, stellt sich die Frage, wie fundiert die Religionen in dieser Hinsicht sind.

Die Anschläge vom 11. September 2001 wurden als „islamischer Terrorismus“ dargestellt. Die Frage ist, ob eine Religion, deren Name von dem Wort „Friede“ abgeleitet ist, so etwas wie Gewalt predigen oder Terrorismus zulassen kann? Oder wird da von der Öffentlichkeit etwas falsch gedeutet? Schröer merkt an, dass „das Islambild in der Öffentlichkeit nicht erst seit den Ereignissen des 11. Septembers in einen politischen Diskurs umgewandelt“ wurde. Sie verweist auf die „Türkengefahr“, vor der zur Zeit Martin Luthers schon gewarnt wurde und stellt fest, dass die Proteste im Zusammenhang mit dem Beitrittswunsch der Türkei in die Europäische Union heute eine ähnliche Wirkung haben.3

Während der Literaturrecherche stellte sich heraus, dass es zwar Grundlagenwerke, aber darüber hinaus nur wenige Veröffentlichungen gibt, die sich mit einem so speziellen Thema im Islam wie dem „Wert und der Bedeutung des pro-sozialen Handelns“ auseinandersetzen. Dieser Mangel besteht sicher nicht, weil soziales Handeln im Islam bedeutungslos ist, sondern vielmehr, weil hierüber bisher nur wenig in deutscher Sprache publiziert wurde. Sehr wohl gibt es etliche klassische Abhandlungen über Tugend und moralische Werte (aḫlāq) auf Arabisch oder Persisch, den bevorzugten Wissenschaftssprachen zu Glanzzeiten des Islams. Die meisten der türkischsprachigen Werke liegen auf Osmanisch – der arabischen Literarisierung des Türkischen – vor, sodass für die vorliegende Arbeit überwiegend Werke in Deutsch, Türkisch, Englisch und teilweise in Osmanisch genutzt wurden.

Eine weitere Problematik ergibt sich aus dem relativ neuen und selten gebrauchten Begriff der „Prosozialität“, welcher sich in der islamischen ← 19 | 20 → Literatur erst etablieren muss. Die Forschung Aytens z. B. thematisiert Prosozialität zwar, allerdings unter dem Fokus der psycho-sozialen Religiosität und mit einer anderen Forschungsmethodik als in der hier vorliegenden Studie, sodass ein Vergleich nicht möglich ist. Andererseits weisen die Grundlagenwerke über den Islam eine Vielzahl von Begriffen und Motiven auf, die für „das Gute“ gebraucht werden, wobei sich diese entweder mit dem Begriff der Prosozialität nicht gänzlich decken oder aber kaum in Bezug zu der Fragestellung dieser Arbeit stehen.

Auch können nur für diese Arbeit Forschungsergebnisse verwendet werden4, die im Rahmen der Integrationsbemühungen die Werteerziehung in muslimischen Familien erforschen. Dennoch liegen diese im Kontext und der Fragestellung weit von dieser Arbeit entfernt.

1.1  Prosozialität

1.1.1  Gesellschaftliche Relevanz

In Folge der Industrialisierung, der Technik und Verbreitung, aber auch des Konsums von Massenmedien und den damit verbundenen langfristigen Entwicklungen haben sich in Industriestaaten und weltweit sowohl die gesellschaftlichen Wertvorstellungen als auch – in wechselseitigem Einfluss – die gesellschaftlichen Strukturen verändert.

Buchkremer bezeichnet die kulturellen, sozialen und technologischen Veränderungen als einen „erheblichen Umbau“, der sich durch sein „janusköpfiges Bild“ zum einen als der „fortgeschrittene“ Industriestaat, die „multikulturelle Gesellschaft“ und die „Postmoderne“ zeigt, sich zum anderen aber zunehmend auch zu einer „Risikogesellschaft“ entwickelt.5

So konnten sich in bestimmten Gesellschaften einerseits größere Freiheiten und mehr Raum für die Lebensentfaltung und -gestaltung des Individuums durchsetzen, andererseits bildete sich gleichzeitig der Einsatz für das Gemeinwohl zurück. Es entwickelten sich somit neue Probleme, die ← 20 | 21 → sich in der Vergesellschaftung des Individuums ganz konkret widerspiegeln. Verheerende Folgen der Veränderungen zeigten sich in der Zunahme von Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Kindesmissbrauch, Kinderarbeit, Sexismus, Menschenhandel, Drogenabhängigkeit, Krankheiten, Rassismus, Aids usw.6

Die Dimensionen der Probleme veränderten und vergrößerten sich, weshalb die Politik, verschiedene Bürgerinitiativen sowie die Sozialpädagogik neue Lösungsansätze entwickeln mussten. Ein Beispiel für ein weltweites Problem industrieller und primär auf Profit bedachter Entwicklung wäre das Reaktorunglück von Tschernobyl, dessen Folgen nun über Jahrhunderte von Menschen und Umwelt getragen werden müssen.

Quantitativ und qualitativ neue Problemlagen zeigten sich in verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Es bildeten sich zunehmend Interessengemeinschaften der „Berechtigten“ und „Nutznießer[n]“7, sowie der „Rechte-Habenden“ auf der einen Seite und Gruppen der kollektiven Benachteiligung, Abwertung und Diskriminierung auf der anderen. Als Angehörige der Unterprivilegierten und in Ghettos Verlagerten wären Hartz IV-Empfänger, Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge – wenn nicht zuvor ausgewiesen – zu nennen.

Buchkremer weist darauf hin, dass der gesamtgesellschaftliche Reichtum immer deutlicher unter dem Gesichtspunkt der Verteilung und Berechtigung organisiert wird. Daher ist jeder bemüht, auf Kosten der anderen ein möglichst großes „Stück vom Kuchen“ zu bekommen. Infolgedessen herrscht ein anhaltender Zustand der Verunsicherung und Angst bis hin zu Gewaltbereitschaft bei den Benachteiligten und Misstrauen und Abwertung bei den Privilegierten.8

Aufgrund dieser Situation rückt in den neueren öffentlichen Diskussionen um gesellschaftlich relevante Themen das Thema Werteverfall mehr und mehr in den Vordergrund. Dieser Werteverfall ist unter anderem an den aktuellen Ausschreitungen an öffentlichen Schulen und der Zunahme von Gewalt und Rücksichtslosigkeit in den Medien, den Familien und der Gesellschaft insgesamt sichtbar. ← 21 | 22 →

In einer Welt der Globalisierung, der Kommunikation und des Internets, wo den Menschen mehr denn je die Möglichkeiten zum einander Kennenlernen und zum gegenseitigen Verstehen gegeben sind, gibt es leider immer noch Menschen und Gruppierungen, die statt dieses gegenseitigen Verständnisses Vorurteile und Hass schüren.

Dieses wurde auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 deutlich. Seitdem hat sich die „Islamvorstellung“ der Menschen in Deutschland erheblich verschlechtert.9 Sicher haben auch die größtenteils einseitige Berichterstattung der Medien10 über die Anschläge sowie die Gleichsetzung des Islams mit Terrorismus eine zunehmend negative Atmosphäre geschaffen. Äußerungen einiger führender Politiker oder verachtende Aussagen von Würdenträgern11 auf der einen als auch Hasspredigten mancher Imame auf der anderen Seite haben zur Zunahme von Übergriffen auf Moscheen und anderen fremdenfeindlich motivierten Straftaten12 geführt. So entstanden ← 22 | 23 → mehr Feindschaft und Vorurteile gegenüber dem Islam, als dass es zu einer Verständigung kam.

Dass wir seitdem keine gesellschaftlichen Fortschritte im Bezug auf Verständnis und Frieden gemacht haben, zeigt sich hierzulande an den neuesten Brandanschlägen auf Familien mit Migrationshintergrund, anhand der zunehmenden Anschläge auf Moscheegebäude und der sich zweifelhaft entwickelnden politischen Lage13. Verschiedene Studien belegen, dass die Mehrheit der nicht-muslimischen Bevölkerung in Deutschland eine eher negative bis negative Haltung (62,2%) gegenüber Muslimen haben.14 Die Gründung von rechten Organisationen, wie HoGeSa15 und PEGIDA16 und die wachsende Zahl der Anhänger auch aus der deutschen Mittelschicht belegen diese Studien.

1.1.2  Die sozialpädagogische und interkulturelle Relevanz

Bei solch einer Ausgangslage ist es meines Erachtens von umso größerer Bedeutung, dass Menschen einander kennen und akzeptieren lernen. Denn nur durch das „Kennen“ kann „Verständnis“ entstehen und wo kein „Kennen“ und kein „Verständnis“ ist, da wachsen statt Verständigung, Akzeptanz und Toleranz, Vorurteile, Hass, Fanatismus, Intoleranz und Gewalt. Wie ʿAlī b. Abī Ṭālib17 sagte: „Die Menschen sind Feinde dessen, was sie nicht kennen.← 23 | 24 →18

Die Entstehung von Vorurteilen und des Ethnozentrismus – dazu kann man m.E. auch den „Religionszentrismus“ zählen – hängen mit dem Nichtwissen zusammen. Xenophobie ist nach Adorno die Angst vor dem, was uns fremd ist und bildet die Basis von Vorurteilen.19 Je mehr wir voneinander – auch von unserer und fremder Gesellschaften, Eigenheiten und Religionen – wissen, umso weniger entstehen unbegründete Ängste und Vorurteile und umso größer ist die Verständigung, der Respekt und die Toleranz. Das Vorhandensein von Vorurteilen wurde bereits dargelegt.20 Die Notwendigkeit der Besserung ist nicht von der Hand zu weisen. Durch eine Darstellung des Prosozialen im Islam kann ein Beitrag zur Korrektur des „Bild des Islam“ geleistet und somit können Vorurteile abgebaut werden. Die Benachteiligten würden nicht mehr unter den Folgen der Vorurteile beeinträchtigt werden. Dadurch erfüllt die Sozialpädagogik eine ihrer relevanten Aufgaben, nämlich die Benachteiligung von Randgruppen durch die Majoritätengesellschaft aufzuheben bzw. so weit wie möglich zu verringern.21

Diese Arbeit macht es sich zum Ziel, den erzieherischen Eingriff der Sozialpädagogik und auch der Erziehungswissenschaft nicht erst da anzusetzen, wo bereits Missstände herrschen, sondern bereits in der Erinnerung und Erziehung zum (Pro-)Sozialen.22

Details

Seiten
351
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631692394
ISBN (MOBI)
9783631692400
ISBN (PDF)
9783653067156
ISBN (Hardcover)
9783631673928
DOI
10.3726/978-3-653-06715-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 351 S.

Biographische Angaben

Özden Güneş (Autor:in)

Özden Güneş studierte Heilpädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Köln, an der sie auch promoviert wurde. Sie verfügt über eine Zusatzqualifikation im Bereich der Interkulturellen Pädagogik.

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