Der Bruch
Ursachen und Konsequenzen des Umsturzes der Verfassungsordnung Polens 2015–2016
Zusammenfassung
Dieses Buch beschäftigt sich ausführlich mit den Ursachen und gesellschaftlichen Hintergründen für diese Entwicklung und ihren Folgen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und innenpolitische Stabilität in Polen. Es diskutiert die Konsequenzen für die internationale Position Polens in der EU und der NATO. Der Autor hält fest, dass die Entwicklung nicht nur einen Bruch mit der Verfassungsordnung, sondern auch mit den Traditionen und politischen Werten der polnischen Rechten und der außenpolitischen Grundlinie der Dritten Polnischen Republik darstellt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Liste der Abkürzungen
- Vorwort
- 1. Der Umsturz der Verfassungsordnung
- Die Ursachen
- 2. Das politische System Polens nach 1989
- 2.1 Das Institutionengefüge
- 2.2 Das Parteiensystem
- 3. Die Struktur gesellschaftlicher Konflikte in Polen
- 3.1 Individualistische Postmaterialisten gegen traditionalistische Materialisten
- 3.2 Polen 2016 – ein Konflikt unter Eliten
- 4. Fünf Hypothesen über den doppelten Wahlsieg von 2015
- 4.1 Ein zubetoniertes Parteiensystem?
- 4.2 Eine neue soziale Frage?
- 4.3 Ein Aufstand der Jugend?
- 4.4 Eine nachgeholte Revolution, die 1989 nicht stattfand?
- 4.5 Eine Legitimationskrise der Demokratie?
- 5. Polens Rechte I: vom liberalen Traditionalismus zum Rechtspopulismus
- 6. Polens Rechte II: Populismus und Modernisierung
- 7. Polens Rechte III: Vom Populismus zum zentralistischen Autarkismus
- 8. Repressivität und autoritäre Haltungen in Polen
- 9. Fremdenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit
- 9.1 Polens Beteiligung am Krieg in Afghanistan
- 9.2 Das Bild des Afghanistan-Einsatzes in den Medien
- 9.3 Islamfeindlichkeit und Repressivität
- Die Folgen
- 10. Die Außenpolitik: Marginalisierung und Isolation
- 10.1 Europapolitik unter Donald Tusk
- 10.2 Vom europäischen Vermittler zum Klienten des Westen
- 10.3 Splendid Isolation – die polnische Variante
- 10.4 Die unbeabsichtigten außenpolitischen Konsequenzen der Verfassungskrise
- 10.5 Ein außenpolitischer Paradigmenwechsel wider willen?
- 10.6 Europapolitik: Fragmentierte Integration als Ziel
- 11. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik: Modernisierung ohne Wertewandel
- 11.1 Demographische Herausforderungen
- 11.2 Vom Wahlkampf zum Regierungsprogramm
- 11.3 Die äußeren Zwänge, die den Handlungsspielraum der Regierung einengen
- 11.4 Zentralisierung und das Streben nach Autarkie
- 12. Geschichtspolitik
- 12.1 Außenpolitik und Geschichtspolitik
- 12.2 Geschichtspolitik und Identitätsstiftung im Innern
- 12.3 Geschichtspolitik und strafrechtliche Repression
- Fazit
- Anhang 1-4
- Literatur
Es ist viel von Staatsstreich, Verfassungsbruch, schleichendem Putsch, von der Orbánisierung Polens oder gar davon die Rede, dass Polen sich in Richtung eines autoritären Regimes wie in der Türkei hinbewegt. Der äußere Anlass für solche Behauptungen ist der Konflikt um das polnische Verfassungstribunal, der ausbrach, nachdem bei den Parlamentswahlen 2015 zum ersten Mal nach dem Systemwechsel 1989 eine einzige Partei die absolute Stimmenmehrheit in beiden Häusern des Parlaments erhielt und damit allein die Regierung bilden konnte.
Dieses Buch ist entstanden inmitten dieses Konflikts, angeregt von einer Diskussion am Center for International Studies der Universität Oxford im Rahmen des Programme on Modern Poland des St Antony’s College, die im März 2016 stattfand.
Dieses Buch knüpft zwar zeitlich an meine frühere populärwissenschaftliche Beschreibung der Entwicklung Polens zwischen 1989 und 2000 an, es ist aber bei Weitem keine umfassende Darstellung der politischen Entwicklungen und des politischen Systems der Dritten Republik.1 Es richtet sich auch nicht nur an ein akademisches Publikum, sondern an jeden, der grundlegende politikwissenschaftliche Begriffe kennt und verstehen möchte, was genau 2015–2016 in Polen geschah, worin die Ereignisse ihre Ursachen hatten und welche Folgen sie haben. Das ist der Grund, warum dieses Buch einerseits manchmal auch in die etwas weiter zurückliegende Vergangenheit zurückblickt, und warum es sich andererseits auf diejenigen Aspekte beschränkt, die Konsequenzen für die Gegenwart haben, hingegen diejenigen vernachlässigt, die wenig Relevanz für aktuelle Entwicklungen haben (aber durchaus in der weiteren Zukunft Folgen haben können). Aufgrund der politischen Lage 2016 – linke Parteien sind aus dem Parlament verschwunden, der Konflikt spielt sich weitgehend innerhalb des rechten Parteienspektrums ab – konzentrieren sich viele Kapitel auf die Analyse der polnischen Rechtsparteien.
Ich habe mir lange überlegt, wie sich die Ereignisse zwischen den Präsidentschaftswahlen 2015 und dem Frühjahr 2016 am griffigsten und zugleich korrektesten beschreiben ließen, ohne deshalb allzu einseitig zu erscheinen. ← 19 | 20 → „Staatsstreich“ schien mir ungeeignet, denn die Gewalt, die normalerweise bei einem Putsch zum Tragen kommt, hat es bisher nicht gegeben. Auch hat infolge dieser Ereignisse keine Institution die Macht übernommen, die dazu nicht demokratisch oder auf eine andere Art legitimiert gewesen wäre – die Regierung hat weder sich selbst entmachtet noch die Macht ergriffen. Sie hat einfach nur die Wahlen gewonnen, Teile ihres Wahlprogramms über Bord geworfen und dafür Dinge umgesetzt, die sie nie vorher angekündigt hatte (was bis dahin in Polen nichts Ungewöhnliches war) und dann begonnen, die checks and balances, die sie beim Regieren hätten einschränken können, Schritt für Schritt und unter Bruch der Verfassung zu demontieren. So gesehen wäre „der Verfassungsbruch“ als Titel für dieses Buch wohl der passendste und für den deutschen Leser wohl auch der verständlichste gewesen. Dagegen gibt es jedoch zwei Einwände: Ein solcher Titel suggeriert unterschwellig, dass die Verfassung für Polens Bürger und Institutionen ebenso wichtig ist wie dies in der Deutschland der Fall ist. Dieser Eindruck wäre aber falsch – Verfassungspatriotismus wie in Deutschland gibt es in Polen nicht und der Vorwurf, ein „Verfassungsfeind“ zu sein, der in Deutschland enorme rechtliche und moralische Konsequenzen hat, funktioniert in der öffentlichen Debatte in Polen gar nicht; er lässt sich nicht einmal gut ins Polnische übersetzen.2 Das zweite Argument gegen einen solchen Titel ist wesentlich schwerwiegender: Wie dieses Buch zeigen wird, hat in Polen mehr stattgefunden als nur ein Bruch der Verfassung. Polens von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ getragene Regierung hat nicht nur mit der Verfassung der Dritten Republik gebrochen, sondern auch mit einigen Traditionen, die sich durch die gesamte Geschichte der Dritten Republik ziehen:
– mit der politischen und weltanschaulichen Tradition der polnischen Rechten;
– mit den Grundlinien der polnischen Außenpolitik, wie sie von allen Regierungen nach 1989 respektiert und umgesetzt wurden;
– mit der institutionellen Entwicklung, die sogar weiter zurückgeht als nur bis 1989;
– mit dem wirtschaftspolitischen Grundkonsens der Dritten Republik;
– mit den Konzeptionen des Staatsaufbaus der polnischen Rechten. ← 20 | 21 →
So betrachtet beschreibt dieses Buch weit mehr als nur einen Verfassungsbruch. Es beschreibt einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und den wichtigsten Traditionslinien Polens (von denen einige bis weit vor 1989 zurückgehen), vorgenommen von einer Regierung, die nur eine Minderheit der Wahlberechtigten, ja sogar nur eine Minderheit der abgegebenen Stimmen repräsentiert, und die ihre Parlamentsmehrheit dazu einsetzt, die bestehende Verfassungsordnung außer Kraft zu setzen, ohne dabei die Verfassung formell zu verändern. Es beschreibt dabei vor allem einen Bruch mit den Traditionen der polnischen Rechten, und in viel geringerem Ausmaß einen Bruch mit der Volksrepublik bzw. jenen Elementen der Dritten Republik, die die Aktivisten, Politiker und Intellektuellen von „Recht und Gerechtigkeit“ so gerne als dekadent, korrupt und postkommunistisch verdammen. Was Zentralismus, Bürokratisierung, Klientelismus, Korruption, Streben nach Autarkie und Repressivität angeht, so gibt es zahlreiche Parallelen zwischen der Politik der Regierung Szydło und der Propaganda von PiS einerseits und Konzeptionen der Nationalradikalen der Zwischenkriegszeit und der Nationalkommunisten der sechziger Jahre andererseits. Paradoxerweise haben viele Kennzeichen der PiS-Politik kontraproduktive Folgen. Der Drang nach Autarkie macht Wirtschaft und Staat noch abhängiger von ausländischem Kapital und der Versuch, das Land um jeden Preis vor legaler und geregelter Einwanderung zu schützen, sorgt für eine Zunahme der illegalen Einwanderung und schafft genau jene Ghettos, die von PiS so häufig als Beispiele für dekadenten und dysfunktionalen Multikulturalismus in Westeuropa angeprangert werden.
Dieses Buch ist folgendermaßen strukturiert: Es beginnt mit einer zusammenfassenden Darstellung der Ereignisse zwischen dem Frühjahr 2015 und Mai 2016. Danach folgt eine kurze Darstellung des politischen Systems und seiner Entwicklung, die sich auf die Ereignisse und Entwicklungslinien beschränkt, die notwendig sind, um den Bruch, von dem die Rede ist, zu verstehen. Dieses Buch hat zwei Teile: Der erste behandelt die Ursachen für die derzeitige Entwicklung, der zweite die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, soweit sie im Moment erkennbar sind.
Im ersten Teil geht es um die Frage, wie sich der Wahlsieg von PiS erklären lässt, ob sich dahinter, wie in der polnischen Debatte oft behauptet, tiefere soziale Verschiebungen verstecken, eine Krise der Demokratie, eine Abwendung von der Dritten Republik oder gar der Versuch, die 1989 nicht stattgefundene Abrechnung mit dem Kommunismus nachzuholen. Es geht darum, wer eigentlich PiS gewählt hat und ob sich die Wähler dieser Partei von der Wählerbasis anderer Parteien unterscheiden, woher die Partei eigentlich kommt und ob ihre Entwicklung in den letzten Jahren als Kontinuität der Evolution der polnischen ← 21 | 22 → Rechten zu sehen ist oder einen radikalen Bruch mit konservativen Traditionen darstellt. Analysiert wird auch, wie sich die Institutionen und die Verfassungswirklichkeit der Dritten Republik in den letzten Jahren verändert haben und ob dies die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten Verfassungsreform rechtfertigt.
Der zweite Teil konzentriert sich auf die Vorstellungen der neuen Machthaber vom polnischen Staat und seinen Institutionen, auf die Auswirkungen auf das polnische Wirtschaftssystem, das politische System und die Außenpolitik. Das deutsch-polnische Verhältnis wird hier nur am Rande behandelt (es spielt eine große Rolle bei der Analyse der Geschichtspolitik der neuen Regierung und ihres Umfeldes); im Mittelpunkt stehen die geopolitischen Auswirkungen der polnischen Innenpolitik und die Konsequenzen für Polens EU- und NATO-Mitgliedschaft sowie das sich in der Politik, aber auch in der Gesellschaft, verändernde Verhältnis zu Russland und zur Ukraine. Analysiert wird auch das wirtschaftspolitische Programm der neuen Regierung daraufhin, inwieweit es Antworten gibt auf die Herausforderungen, vor denen Polen mittel- und langfristig steht und welches Staatsverständnis hinter ihm steht.
Während dieses Buch entstand, haben sich große Teile der polnischen Gesellschaft in einer Weise polarisiert, wie dies wohl das letzte Mal in den achtziger Jahren der Fall war. Kurz nach den ersten Versuchen der neuen Regierung, das Verfassungstribunal als Machtfaktor im Gleichgewicht der Institutionen auszuschalten, bildete sich das „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD), das sich als eine Art überparteiliche Anti-PiS-Plattform versteht. In der polarisierenden Atmosphäre, in der Politiker der Regierungsmehrheit auch schon einmal Verfassungsrichtern mit Verhaftung drohten, geriet KOD bei seinen Gegnern sofort in den Verdacht, die (demokratisch gewählte) Regierung stürzen zu wollen. Bei Kommentatoren der oppositionellen Presse konnte man dagegen lesen, PiS strebe danach, in Polen eine Diktatur zu errichten; für manche, die gegen PiS demonstrieren, drohte Polen eine faschistische Machtübernahme. Wer in einer solchen Atmosphäre Bücher schreibt, muss damit rechnen, dass er von der einen oder anderen Seite vereinnahmt wird. Ich habe mich deshalb entschlossen, kurz meine eigene Ansicht zu den hier beschriebenen und analysierten Ereignissen zu skizzieren, damit der Leser selbst beurteilen kann, wie sehr ich mich bei der Analyse von meinen eigenen Wertvorstellungen habe beeinflussen lassen. Im folgenden Abschnitt finden sich die Überzeugungen, mit denen ich daran ging, dieses Buch zu schreiben. Meine Schlussfolgerungen und Wertungen dessen, was ich während der Nachforschungen zu diesem Buch entdeckte, befinden sich dagegen im Nachwort am Ende des Buches. ← 22 | 23 →
Nach meinem Eindruck ist die Transformation Polens von einem Ein-Parteien-Staat mit zentraler Planwirtschaft zu einer marktwirtschaftlichen, pluralistischen Demokratie mit Gewaltenteilung ein relativ typischer Fall eines friedlichen Regimewechsels, der zwischen der Staatsmacht und der Opposition verhandelt wurde. In ähnlicher Art und Weise fand er nach der Franco-Ära in Spanien und in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in fast allen ostmitteleuropäischen Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts statt. Das unterscheidet die Regimewechsel der achtziger Jahre von der Art und Weise, wie die Macht am Ende des Zweiten Weltkrieges auf die demokratischen Regierungen Westeuropas überging, nämlich aufgrund eines militärischen Sieges der Alliierten, die danach viel weniger Kompromisse mit den Vertretern der alten Macht machen mussten als die demokratischen Übergangsregierungen im Ostmitteleuropa der achtziger Jahre. In Polen stoppte der Machtwechsel den wirtschaftlichen Niedergang und ermöglichte einen Ausgleich mit Polens Gläubigern sowie die Verankerung des Landes im Westen, d. h. in NATO, Europäischer Union, OSZE und Europarat. Nach einer relativ kurzen Phase tiefer Rezession und großer sozialer Einschnitte ermöglichte dieser Regimewechsel einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, der zu einem großen Teil mit ausländischem Kapital und Transferleistungen der EU finanziert wurde (da es in Polen nach der Hyperinflation von 1990 kaum noch Ersparnisse gab, die Investitionen hätten finanzieren können).
Wie alle friedlichen, verhandelten Transformationen hatte auch diese ihren Preis: Sie beließ Politiker, Militärs und Geheimdienstler in ihren Ämtern, obwohl sie in der Vergangenheit enorme Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, weil sie für die Vertreter des abgetretenen Regimes Garanten für deren Unantastbarkeit waren. Die Täter kommunistischer Verbrechen wurden nur in ganz wenigen Ausnahmefällen vor Gericht gestellt. Das ist bedauerlich und für die Opfer und deren Nachkommen im höchsten Maße unbefriedigend, aber es war unvermeidlich. Ohne die Gewissheit, nach der Machtübergabe straflos zu bleiben, hätte sich die Militärjunta um General Jaruzelski nie auf die Verhandlungen am Runden Tisch eingelassen, sondern versucht, die Macht um jeden Preis zu behalten. Das hätte entweder einen Bürgerkrieg bedeutet oder eine noch länger dauernde wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und politische Stagnation, die das Land noch weiter ruiniert hätte. Es hat keinen Fall gegeben, in dem ein Diktator und seine entourage in Folge von Verhandlungen friedlich abgetreten sind und sich danach widerstandslos vor Gericht stellen und aburteilen ließen. Jeder friedliche, auf dem Verhandlungswege durchgeführte Regimewechsel, ganz gleich ob in Europa, Lateinamerika oder Afrika, brachte auch eine Straflosigkeitsgarantie für diejenigen Vertreter des ancien régime, die einen friedlichen ← 23 | 24 → Machtwechsel hätten verhindern können.3 Manche jüngeren Vertreter der demokratischen Rechten haben in den neunziger Jahren darüber diskutiert, ob Polen 1989 die Militärjunta Jaruzelskis mit einem blutigen Aufstand hätte stürzen sollen, um auf diese Weise einen unbefleckten Neuanfang zu ermöglichen, die alten Eliten zu entmachten und Polen einen Gründungsmythos zu verschaffen. Diese Debatte, die wohl auch auf dem Bedauern darüber fußt, dass der jungen Generation von antikommunistischen Intellektuellen ein dem Warschauer Aufstand ähnliches prägendes Ereignis vorenthalten (oder erspart) geblieben ist, abstrahiert von der Tatsache, dass selbst gewaltsame Regimewechsel, die das ancien régime hinwegfegen und deren Sieger keine Kompromisse mit dem Gegner machen müssen, in der Regel trotzdem keine Stunde Null, kein unbeschwerter Neuanfang sind. Deutschland wurde 1945 von den Alliierten militärisch besiegt und zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen, aber dennoch wurden bei Weitem nicht alle, die in die Verbrechen der Nationalsozialisten involviert waren, anschließend vor Gericht gestellt. Elitenkontinuität herrschte noch bis tief in die siebziger Jahre hinein, wie der Fall des ehemaligen Marinerichters und baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger zeigt. Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal und die alliierten Strafgerichte im besetzten Deutschland richteten über Tausende, aber sie ließen auch Zehntausende unbehelligt, weil ihre Kapazitäten nicht ausreichten, weil die Täter sich durch ihre Netzwerke schützen konnten, oder weil sie über wichtiges Wissen verfügten, dass die jeweiligen Alliierten im beginnenden Kalten Krieg einsetzen konnten. Ähnlich war es im von Deutschland besetzten Westeuropa, wo 1944/45 alliierte Truppen und die mit ihnen zurückkehrenden Exilregierungen sowie die Widerstandsbewegung frei schalten und walten konnten, aber schnell feststellen mussten, dass es wenig Sinn ergab, tatsächliche oder angebliche Kollaborateure einzusperren und auf Kosten der Steuerzahler zu bewachen und zu verköstigen während überall im Land Arbeitskräfte für den Wiederaufbau gebraucht wurden. Schon nach wenigen Jahren gab es Amnestien und die juristische Vergangenheitsbewältigung wurde eingestellt.
Details
- Seiten
- 344
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783631692745
- ISBN (MOBI)
- 9783631692752
- ISBN (PDF)
- 9783653070330
- ISBN (Hardcover)
- 9783631678824
- DOI
- 10.3726/978-3-653-07033-0
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (August)
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 343 S., 9 s/w Graf., 14 s/w Tab.