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Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), Bd. II

Beiträge zur zweiten Arbeitstagung in Haldensleben (Mai 2013)

von Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)
©2014 Konferenzband 526 Seiten

Zusammenfassung

Wie bereits in der ersten Arbeitstagung in Eisenstadt 2011 ausgeführt, weist die Mittlere Deutsche Literatur zwischen 1400 und 1750 einen beträchtlichen Bestand an deutschsprachiger Rezeptionsliteratur auf, deren statistisches Verhältnis zur originalen deutschen Literatur in Frühneuhochdeutsch und Neulatein noch nicht ausreichend ermittelt ist. Sichtung, Aufarbeitung und bildungsgeschichtliche Wertung dieser Literatur gehören wohl zu den interessantesten und historisch aussagekräftigsten Aufgaben, welchen sich die Beiträge dieses Bandes exemplarisch widmen. Die Schwerpunkte liegen dabei auf der Rezeption antiker Kultur (Wiederentdeckung der Palliata, Überlieferung von Mythologie, Verarbeitung von Vergil), auf der Filiation mittelalterlicher Motive und auf der Verbreitung von italienischer Renaissanceliteratur im deutschen Sprachraum. Neben herausragenden Beispielen der literarischen Rezeption europäischer Literaturdenkmäler und neulateinischer Texte werden ästhetische Probleme von Rezeptionsliteratur im Allgemeinen und die theoretische Basis des Petrarkismus im Besonderen dargelegt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Die Rezeption der Palliata in Deutschland um 1500: Hans-Gert Roloff
  • Zur Theater-Situation im 15. Jahrhundert in Deutschland
  • Das Eindringen der Palliata
  • Aktive Rezeption der Palliata durch Verdeutschung
  • Die Rezeption struktureller Elemente der Palliata in deutschen Theaterstücken um 1500
  • Literatur
  • Petrarkismus und Rezeptionsliteratur. Permutative Kreativität in der Frühen Neuzeit: Alfred Noe
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Petrarca auf Schloss Hundisburg: Alfred Noe
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Die deutschsprachigen Alexandertexte des Mittelalters und ihre Wirkung mit Fokus auf Johann Hartliebs Prosaroman: Peter Andersen-Vinilandicus
  • Von den Res Gestæ zum Liber Alexandri Magni (4.–12. Jh.)
  • Deutschsprachige Reimbearbeitungen der Alexandersage (12. Jh.–14. Jh.)
  • Deutschsprachige Prosabearbeitungen der Alexandersage vor Johann Hartlieb (1190–1447)
  • Johann Hartliebs Puech des grozzen Alexander (1454)
  • Peder Pedersen Galthens Histori om den stormectige Alexander (1584)
  • Abgekürzte Titel
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Verzeichnisse
  • Die Genesis des frühneuhochdeutschen Romans am Beispiel von Jörg Wickrams Ritterromanen Galmy (1539) und Gabriotto und Raimund (1551) – eine Ästhetik bürgerlicher Lebensmuster: Barbara Lafond-Kettlitz
  • Urheberschaft, Autorschaft und Kreativität
  • Galmy
  • Gabriotto
  • Gesellschaftliche Dimension – Realitätsebene und Fiktion
  • Heimat – Fremde
  • Diskursivierung von Liebe und Ehe
  • Freundschaft
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Ehe- und Frauendiskurse in der frühneuzeitlichen Übersetzungsliteratur. Der Fall Niklas von Wyle: Michael Dallapiazza
  • Repräsentanten des deutschen Frühhumanismus
  • Niklas von Wyle
  • Niklas und Albrecht – Unterschiedliche Bearbeitungen gleicher Vorlagen
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Frauenleben im 15. und 16. Jahrhundert. Italienische Ehe- und Frauentraktate und ihre deutsche Rezeption: Laura Auteri
  • 1. Die italienischen Autoren der lateinischen Ehetraktate, ihre Texte und die deutschen Übersetzungen
  • 2. Italienische Frauentraktate
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Ein domestizierter Machiavell. Zur Rolle der Übersetzung in der Aneignung und Adaptation ausländischer Texte am Beispiel der ersten deutschen Principe-Übersetzung: Roberto De Pol
  • 1. Zu den Bedingungen einer Rezeption. Gedruckte und ungedruckte Übersetzungen
  • 2. Die erste deutsche Übersetzung
  • 2.1 Zum Autor und zu seiner Umgebung
  • 2.2 Die Vorlage
  • 2.3 Schrumpfung des Peritextes: Lenz und die Politik
  • 2.4 Sprachliche Adaptation
  • 2.5.1 Eingriffe in den Text: Vereinfachung und Entschärfung
  • 2.5.2 Eingriffe in den Text: Auslassungen
  • 2.5.3 Eingriffe in den Text: Fragliche Übersetzungen
  • 2.6 Angefügte Benutzungshinweise
  • 2.7 Zur tatsächlichen Adressatin der Übersetzung: Hedwig als “donna schermo”
  • 2.8 Zusammenfassende Schlussbetrachtung: der gezähmte Machiavell
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Übersetzungen
  • Forschungsliteratur
  • Nachschlagewerke
  • Über die frühe Rezeption der italienischen Verhaltensliteratur in Deutschland am Beispiel von Pellegro Grimaldis Discorsi (Genua 1543): Federica Masiero
  • 1. Pellegro Grimaldis Discorsi (1543)
  • 2. Die deutsche Übersetzung (1571)
  • 2.1 Charakteristika der Übersetzung
  • 2.2 Syntax und Wortschatz
  • 3. Colmans Verständnis und Deutung des Originals
  • 4. Colman und Kratzer: ein Vergleich
  • 5. Merkmale der frühen Rezeption der italienischen Verhaltensliteratur in deutscher Übersetzung
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Georg Philipp Harsdörffers Bücher. Die Bibliographien und Verweise der Frauenzimmer-Gesprächspiele: Daniel Syrovy
  • 1. Die Bibliographien als Literaturhinweise
  • 2. Die Bibliographien als Übersetzungsprogramm
  • 3. Die Bibliographien als Text
  • Literatur
  • Rezeption und Popularisierung fremdsprachiger Fachliteratur in Georg Philipp Harsdörffers Erquickstunden: Berthold Heinecke
  • Einleitung
  • Harsdörffers naturkundlich-technische Schriften
  • Chemie – Alchemie – Paracelsismus
  • Die mosaische Naturphilosophie
  • Die Mechanik
  • Schlussbetrachtung
  • Literatur
  • Die Rezeption der antiken Mythologie in Brulovius’ Andromede: Winfried Woesler
  • 1. Antike Mythologie und Christentum
  • 2. Didaktische Funktion
  • 3. Religionswissenschaftliche und -kritische Aspekte
  • Literatur
  • Comoedia Teutsch, oder Andreas Gryphius als Kulturmediator: Fausto De Michele
  • Literatur
  • Jan Kochanowski (1530–1584) deutsch. Zur Rezeption der polnischen Renaissance in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts: Tomasz Jabłecki
  • 1. Lieder
  • 2. Fraszki
  • 3. Psałterz Dawidów
  • 4. Schluss und Ausblick
  • Literatur
  • Textausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Matthaeus Tympius (1566–1616) und die Rezeptionswege in der geistlichen Literatur der Frühen Neuzeit: Guillaume van Gemert
  • Einleitung
  • Tympius’ Leben und seine Werke
  • Rezeptionswege im Bereich von Tympius’ seelsorgerischem Schrifttum
  • Fazit
  • Literatur
  • Christoph Colers Übersetzung von Opitz’ Lobrede auf die habsburgische Hochzeit Władysławs IV. von Polen (1637) und die Tradition der kritischen Panegyrik in Schlesien: Anne Wagniart
  • Der kritische ‚Subtext‘ von Opitz’ Epithalamion
  • Die Rezeption von Opitz’ Epithalamion in Colers Übersetzung
  • Schluss und Ausblick auf die Tradition der kritischen Panegyrik in Schlesien
  • Literatur
  • Sigmund von Birken als Virgilius redivivus: Hartmut Laufhütte
  • Literatur
  • Ausgaben
  • Forschungsliteratur
  • Anhang
  • Das Gedicht nach der Druckfassung und Birkens später gedruckte Übersetzung
  • Laurent Drelincourts Sonnets Chrétiens (1677) in deutscher Übersetzung. Zwischen Erbauungsschrift und ästhetischer Vorbildfunktion: Elisabeth Rothmund
  • 1. Der französische Prätext
  • 2. Die Stockholmer Ausgabe (1679)
  • 3. Die Neuwieder Ausgabe (1742)
  • 4. Die Straßburger Übersetzung (1768)
  • 5. Fazit: Synthese und Ausblick
  • Literatur
  • Festvortrag: Grimms Märchen als Beispiel für Rezeptionsliteratur: Heinz Rölleke
  • Zusammenfassungen und Stichworte
  • Register
  • Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A - Kongressberichte

Vorwort

Die Veranstalter der Zweiten Arbeitstagung zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), die vom 9. bis 12. Mai 2013 in Hundisburg (Sachsen-Anhalt) stattfand, legen hiermit die Beiträge zu der interessanten und erfolgreichen Tagung vor. Bei dieser Gelegenheit danken wir KULTUR-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V. für die organisatorische und finanzielle Unterstützung sowie der Universität Wien für die finanzielle Förderung der Tagung.

Wie bereits in unserer ersten Arbeitstagung in Eisenstadt 2011 ausgeführt, weist die Mittlere Deutsche Literatur zwischen 1400 und 1750 einen beträchtlichen Bestand an deutschsprachiger Rezeptionsliteratur auf, deren statistisches Verhältnis zur originalen deutschen Literatur in Frühneuhochdeutsch und Neulatein noch nicht ausreichend ermittelt ist. Sichtung, Aufarbeitung und bildungsgeschichtliche Wertung dieser Literatur gehören wohl zu den interessantesten und historisch aussagekräftigsten Aufgaben, und zwar in vieler Hinsicht:

1)Die Texte der Vorlagen entstammen der antiken, der romanischen und der neulateinischen Literatur Westeuropas.

2)Welche Rezeptionsvorgänge lassen sich feststellen? Wie weit sind die frühneuhochdeutschen Neufassungen mit den Vorlagen identisch (Kürzungen, Erweiterungen, neue Argumentation und zielgerichtete Funktionalisierung, eigene Moralisierung usw.), Identität der Formen und Strukturen? Wie sieht die frühneuhochdeutsche Begrifflichkeit gegenüber der Begrifflichkeit des anderssprachlichen Textes aus?

3)Eine zentrale Frage zielt auf den Wirkungsraum der Rezeptionsliteratur, d.h, auf die Feststellung, welche Funktion die rezipierten Texte für Bildung, Kultur und allgemeines Wissen der Zeit gehabt haben.

4)Wer sind die Produzenten der Rezeptionsliteratur, aus welchen Motiven tun sie es und welche Vertriebsnetze bauen sie auf?

5)Wer sind die Leser dieser Texte gewesen und in welchem Ausmaß finden sich diese Texte in Bibliotheken der Zeit?

6)Wie verhalten sich eventuelle mehrere frühneuhochdeutsche Übertragungen zu ein und derselben Vorlage?

7)Sonderfälle I der sprachlichen Umsetzung von Texten in dieser Zeit:

a)aus dem Deutschen ins Neulateinische und eventuell weiter in andere Sprachen;

b)aus dem Spanischen über das Italienische / Französische ins Deutsche. ← 7 | 8 →

8)Sonderfälle II der sprachlichen Umsetzung von Texten in dieser Zeit: zweisprachig versierte Autoren, die ihre eigenen Texte in frühneuhochdeutschen und lateinischen Fassungen publizieren. Welche Gründe geben sie an und wie verfahren sie bei der sprachlichen Umsetzung?

9)Welche Informationen aus dem europäischen Raum sind über die Rezeptionsliteratur in den deutschsprachigen Literaturbereich gelangt?

10)Wie weit sind für die Geschichte der Bildung, der Kultur und der Literatur Originalliteratur und Rezeptionsliteratur gleichzusetzen? Gibt es einen Kontrast originale Kreativität vs. Rezeption oder ein allgemeines moralisches Funktionssystem der Literatur der Mittleren Zeit?

Wir möchten nun in dieser zweiten Tagung viele inzwischen aufgeworfene Fragen vertiefen. Besonderes Augenmerk gilt dabei sowohl den von den Bearbeitern genutzten Quellen als auch den zur Verbreitung von Rezeptionsliteratur veröffentlichten Anthologien, Florilegien, Kompilationen sowie Aufbereitungen verschiedenster Art.

Wien / Berlin, im Dezember 2013

Alfred Noe

Hans-Gert Roloff

Universität Wien

Freie Universität Berlin

Die Rezeption der Palliata in Deutschland um 1500

Hans-Gert Roloff (Berlin)

Bei unseren Bemühungen, Vorgänge der Rezeption in der Mittleren Deutschen Literatur zu beschreiben und deren Auswirkungen auf die nachfolgende Literatur zu konstituieren, möchte ich auf die im 15. Jahrhundert beginnende deutsche Rezeption der Palliata, der so genannten römischen Komödie, hinweisen. Sie ist für das Abendland gemäß der Textüberlieferung an die Namen Plautus und Terenz gebunden und war im alten Rom in der zweiten Hälfte des dritten und in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts vor Christus zu Hause – also zwischen 240 und 160 vor der Zeitrechnung. Plautus lebte etwa von 240 bis 160, Terenz schrieb von 185 bis 160; er ist jung verschollen.

Das Pikante an unserer Fragestellung ist, daß die Palliata – so genannt nach einem griechischen Mantel, dem Palladium, den Sklaven und unteres Bürgertum trugen, also die Helden der Komödie – ihrerseits eine römische Rezeption der neueren griechischen Komödie war, von der bis auf wenige, meist fragmentarisch erhaltene Stücke Menanders alles verloren ist. Bereits an der römischen Komödie kann man studieren, wie u.a. Plautus und Terenz ihre Vorlagen den römischen Vorstellungen und Gepflogenheiten angepaßt hatten. Das war und ist ein reiches Arbeitsfeld der Klassischen Philologie. Für die europäische Komödien-Tradition gilt die Textwelt der Palliata als Erzeugnis der römischen Literatur: weitergewirkt hat der feste Text in seiner jeweils spezifischen Eigenformung; die Ergebnisse philologischer Analysen über die Textkonstitutionen und deren Rezeption aus der griechischen Komödie haben die literarische Wirkung nicht beeinflussen können.

Diese sehr ausdrucksstarke und vielfältige römische Komödie war – aus welchen Gründen auch immer – für weit über ein Jahrtausend aus dem Blick gekommen und vergessen worden – abgesehen von einige Codices mit Texten von Plautus und Terenz, um die sich Grammatiker des vierten, fünften und sechsten nachchristlichen Jahrhunderts kümmerten. Ihnen war aber der Sinn für das theatralische Element, das in den Texten steckte, entgangen. So wurde z.B. Terenz im Mittelalter als Schulautor, an dem man Latein lernte, aber nicht als Dramatiker gewürdigt – vielleicht mit Ausnahme der Hrosvitha von Gandersheim. Plautus war noch weniger bekannt.

Das änderte sich in der italienische Frührenaissance: Petrarca und andere interessierten sich zunehmend für das genus der Komödie, von dem sich einige Codices u.a. im Vatikan erhalten hatten. Davon kursierten nach und ← 9 | 10 → nach weitere moderne Abschriften. Von Terenz waren seine sechs Stücke erhalten, von Plautus kannte man nur acht Texte.

Da schlug es wie eine Bombe ein, als Nicolaus Cusanus 1429 einen Codex mit weiteren 12 Komödientexten des Plautus entdeckte. Damit lagen 26 römische Komödientexte vor – und ihre Rezeption konnte beginnen, zunächst entziffernd, dann analysierend und interpretierend, schließlich versuchte man, sie aus dem philologischen Schutzgebiet herauszulotsen durch Aufführungen, Lektüren und Nachahmungen.

Hier zeigt sich nun, daß die Rezeption der Palliata in Deutschland anders verlaufen ist, als man sich das bisher vorgestellt hat. Die einzelnen Stufen dieser Rezeption scheinen mir aufschlußreich für die geistige Lage im 15. und 16. Jahrhundert zu sein; sie lassen erkennen, welche Schwierigkeiten es bereitete, die Funktion der Texte als Theaterstücke zu erkennen, obwohl es im 15. Jahrhundert ein reiches Theaterleben überall in Deutschland gab, das man sich als Hintergrund vorzustellen hat.

Zur Theater-Situation im 15. Jahrhundert in Deutschland

Das 15. Jahrhundert ist bereits ein Jahrhundert in der deutschen Literatur, in dem sich das Theaterspielen und die Spiel-Literatur enorm entfalten. Es wurde allenthalben gespielt, und dafür wurden Spieltexte konzipiert. Diese Texte sind uns leider nur zu einem geringen Teil erhalten: sie waren Spielhandschriften und somit Gebrauchsliteratur, deren Erhaltungszeit begrenzt war; nur selten sind sie aufbewahrt worden. Wenn man aber erhaltene Texte, Textfragmente und Spiel-Nachrichten in Ratsverlässen, Rechnungsbüchern, Chroniken usw. summiert, ergibt das ein reiches, lebendiges Bild vom Theaterspielen in der Zeit. Die Begeisterung für dieses neue Medium muß bei der Bevölkerung groß gewesen sein, und sie bot – das hatte man bald herausbekommen – beste Gelegenheiten, Informationen, Ideen, Ideologien, Lehren usw. an ein breites, sonst kaum erreichbares Publikum heranzubringen.

Wichtig ist, daß dieses Theater – nach seinen rudimentären Anfängen in der Kirche, in den feierlichen Messen – sich zunehmend sozusagen von selbst entfaltete: es ist ohne äußere Anregungen und Einflüsse entstanden; die Texte nahmen immer größeren Umfang an, weil man immer weitere Vorgänge der Stoffgeschichte szenisch, d.h. dreidimensional, bieten und sehen wollte. Da die Autoren der Spiele fast gänzlich anonym blieben, zeigt die historische Perspektive der Texte ein ständiges Form-Wachstum und ein beachtenswert sich modifizierendes Stoffarsenal. Dabei läßt sich ein gewisses Ordnungssystem in Form von Textsorten erkennen, an dem wir unterschiedliche Interessen der Zeit am Theater ablesen können. ← 10 | 11 →

Daß die geistlichen Spiele zu dieser Zeit am stärksten vertreten sind, liegt auf der Hand, aber die Breite ihrer Repräsentationen zeigt, daß man bestrebt war, den ganzen Stoffkomplex der Heiligen Schrift szenisch vorzulegen.

Da gibt es Texte der vorchristlichen Zeit gemäß dem Alten Testament, da werden die Umstände der Lebens- und Leidenszeit Christi nach dem Neuen Testament inszeniert: Weihnachtsspiele, Passionen, Osterspiele, Auferstehungsspiele, Himmelfahrtsspiele. Man stellt ebenso gern den Weg der Kirche bis zum Jüngsten Tag in Apostelspielen, Mirakelspielen, Legendenspielen und Fronleichnamsspielen dar.

Aber – und das ist für die Bedeutung der Gattung Spiel / Drama sehr wichtig – parallel dazu bilden sich zahlreiche modifizierte Textsorten heraus, an denen die sozialen, moralischen, politischen, bildungsbezogenen Probleme der Zeit abzulesen sind: die Moralitäten, die Gerichtsspiele, die politisch und sozial ausgerichteten Tendenzdramen und die Lustspiele mit den Sondererscheinungen des Fastnachtspiels und des Schwankspiels.

Und schließlich kommt gegen Ende des Jahrhunderts eine neue Textsorte aus Italien nach Deutschland, die sich bestens in die aktive akademische Landschaft einpaßt: das lateinische Theaterstück, das bei genauem Hinsehen aber keine imitatio von Palliata oder Tragoedia ist.

Das hat die Literarhistoriker irritiert und den Autoren den Verruf eitler Bildungsmarotten und rudimentärer Unzulänglichkeiten eingetragen. Ich nenne hier nur die deutschen Bemühungen um dieses neue lateinsprachige Theaterstück bei Wimpfeling, Kerckmeister, Locher, Reuchlin, Celtis u.a.

Man hat aber bei der Disqualifikation dieser lateinischen Stücke übersehen, daß deren Autoren versierte Poeten, Oratoren und Philologen waren, daß ihre lateinischen Theaterstücke aktuelle Probleme behandelten und daß sie gerade durch ihre lateinische Diktion in den Kreisen der Intelligenz und der politischen Repräsentanten ihr Publikum hatten.1

In diese mannigfaltige und stark bewegte Theaterwelt mit ihren unterschiedlichen Spieltypen trat noch vor der Mitte des Jahrhunderts zuerst in Italien, dann in Deutschland die Palliata ein – ein völlig anderer Dramentyp für ein völlig anderes Theater seinerzeit geschrieben.

Im Verlauf der Jahrhunderte sind die römische Komödie und später die griechische Tragödie zu Grundmustern der neueren europäischen Dramatik geworden und haben das epische Theater / Drama beiseite geschoben, bis es im frühen 20. Jahrhundert wieder fröhliche Urstände erfuhr. ← 11 | 12 →

Wieweit die Rezeption schon in dieser Frühzeit von Einfluß war, ob sie neben ihrer strukturellen Eigenart auch mentalen, inhaltlichen Einfluß besaß, bedarf der Klärung sowohl struktur-pragmatischer als auch stoff- und problembezogener Gegebenheiten. Schon die Anfänge scheinen höchst problematisch zu sein, indem sie eher bildungsbezogen als literatur- bzw. gar theaterbezogen sind.

Das Eindringen der Palliata

Was brachte nun die Palliata Neues mit? Sie bot Texte, die in ihrer Struktur und im sozialen Bereich der Spielfiguren anders und damit für die literarischen Vorstellungen der Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts neu waren. Die szenischen Angaben waren nicht verbalisiert, sondern aus dem Text zu erschließen. Der Spielort war die Straße bzw. der Vorplatz vor den Häusern der Spielfiguren. Auftritte und Abtritte erfolgten durch die jeweiligen Haustüren bzw. nach der einen Seiten „zum Hafen“ oder „aufs Land“, nach der anderen Seite „zur Stadt“ oder „zum Markt“. Die vorgestellte Bühnenhandlung hatte als Zeiteinheit einen Tag. Die Einheit der Handlung erwies sich aus der Lösung am Ende, in der sich alle einzelnen Stränge verknüpften und aus anscheinender Disparatheit der Vorgänge ein harmonischer Schluß geboten wurde. Das setzte eine stringente Logik der Handlungsvorgänge voraus, die ihrerseits einen starken Reiz auf das Publikum ausübte: es war auf die ‚vernünftige‘ Lösung der Probleme gespannt.

Dramaturgisch arbeitet die Palliata mit den bewährten Mitteln des Selbstgesprächs bei Auftritt, bei Phasen der Gedankenfindung, der Planung. Das unterscheidet sich wesentlich von der Sermocinatio der deutschen Spiele! Häufig wird aus dramaturgischen Gründen zum Mittel der Belauschung oder des a-parte-Sprechens gegriffen. Szenisch nicht sichtbares Geschehen wird durch Berichte, sogenannte Botenberichte, mitgeteilt. Gelegentlich sind Partien als Cantica ausgewiesen; sie wurden gesungen vorgetragen.

Die Textstruktur war relativ streng gespannt, meist auf 1.000 bis 1.200 Verse begrenzt: Argument, Prolog, Spielhandlung in szenischer Aufteilung in fünf Akte mit Dialog und Monolog, Epilog. Zwar ist die offensichtliche Einteilung in Akte erst eine neuere Erfindung, doch ist die handlungslogische Strenge der Textkomposition auf fünf Struktureinschnitte bezogen: I. Einsatz und Voraussetzung der Vorgeschichte; II. – III. – IV. steigernde Verwicklungen der Handlungsvorgänge; V. harmonische Lösung ohne Rest.

Neu war für das Theaterwesen des 15. Jahrhundert auch der soziale Habitus der Palliata: es waren Bürgerspiele, in denen Freie und Unfreie sich tummelten: Kaufleute, Händler, Seefahrer, Soldaten, Fischer, Gastwirte, ← 12 | 13 → Land- und Gutsbesitzer, Köche, Hetären, Sklaven u.a.; Obrigkeiten spielen in diesen Stücken keine Rolle. Es geht um Familienverhältnisse – die Konflikte sind innerfamiliär bzw. nachbarschaftlich: Vater- und Sohn-Streit, Liebesverhältnisse, Generationsprobleme, Finanzierungsfragen; alle haben Geld. Die Probleme dieser Kreise, die in der Palliata zur Lösung anstehen, waren sozial gesehen reichlich konventioneller Art: Wiedererkennung, Täuschung, Heiratsvorhaben, Kinderaussetzung und Kinderraub, Verwechslungen u.a. Auf dieser Szene agierten Spielfiguren, die dem deutschen Theater der Zeit wenig bekannt waren, vor allem in ihrer direkten, symbolfreien Art: der junge Liebhaber, der gegen die ‚Alten‘ aufbegehrt; die stets kritisch gesehenen Soldaten; die liebenswürdig-verführerische Hetäre; der listenreiche Sklave mit der Sehnsucht nach Freigabe; der geizige, zugleich lüsterne Alte; der Parasit; die zänkische Frau.

Die Autoren bedienten sich dieses Personals für die Dokumentationen von Intrigen, Listen, Täuschungen, die sich aber spaßig auflösen. Starke Gefühlsäußerungen vermitteln einen hohen Grad von Sentimentalität des Publikums, und eine muntere Sentenzen-Technik streut häufig allgemeine Lebensweisheiten über die Rampe: die Palliata ist eine ertragreiche Quelle der Sprichwörtersammler!

Elemente der späteren europäischen Charakter- und Intrigenkomödie sind hier schon verankert, aber die Frühzeit hat das noch nicht gesehen. Sie hatte ihre moralischen Probleme mit dem lasziven Element, mit der mediterranen Leichtigkeit des Spiels und der moralischen Lässigkeit der Lebensart.

Unter der Rezeptions-Perspektive stellt sich hier die Frage: Konnte man im Deutschland des ausgehenden 15. Jahrhunderts und auch im 16. Jahrhundert diese südliche Lebenswelt und die Intellektualität des römischen Palliata-Witzes – sie lagen ja gut 1.700 Jahre zurück – überhaupt begreifen? Eleganz und Leichtigkeit des Erotischen – bis hin zur Frivolität – scheinen generell mehr moralische Verunsicherung herbeigeführt als Begeisterung und Entspannung ausgelöst und Lust zur Nachahmung bewirkt zu haben. Man versuchte krampfhaft, diese ‚Unmoral‘ zu rechtfertigen. Andererseits war aber diesseits der Alpen die volkstümliche Sexualität in ihrer Derbheit keineswegs zimperlich; sie fand direkten Zugang in die Texte der Sterzinger Spiele oder gar der Fastnachtspiele, die der wackere Biedermann Goedeke in den Orkus donnerte: „Jeder Sprechende ein Schwein, jeder Spruch eine Rohheit, jeder Witz eine Unfläterei.“2

So drang die Palliata in ihrer eigentlichen Funktion als erheiterndes Theaterspiel nur spärlich über die Bühne ins Bewußtsein der Zeitgenossen ein. Bisher sind nur relativ wenige Komödienaufführungen in Italien und in ← 13 | 14 → Deutschland nachgewiesen worden. Schon früh tauchte in Italien (bei Piero Domizio) der Vorwurf auf, Terenz sei für die Jugend zu gefährlich.3 Wir kennen das auch noch aus dem späten 16. Jahrhundert in Deutschland, wo man immer wieder vor der moralischen Verführung der Jugend durch Terenz und Plautus warnte. So sind in Deutschland Plautus- bzw. Terenz-Aufführungen erst ab 1500 in Breslau nachweisbar, danach sporadisch in Wien (durch Celtis), in Rostock, in Erfurt (1518–21) und in Leipzig (1515/16). Erst nach 1530 werden vor allem Terenz-Stücke an den Lateinschulen häufiger aufgeführt.4

Hingegen wurde für die Palliata die philologisch-literarische Beschäftigung mit ihren Texten bedeutsam: Plautus und Terenz wurden bevorzugte Gegenstände in den Lehrangeboten der italienischen Universitäten und nach deren Vorbild an den deutschen Hochschulen und Gymnasien. Ein frühes Beispiel dafür ist bekanntlich Peter Luder.5 Deutsche Studenten lernten so in Italien die Palliata kennen, beschafften sich durch Lohnschreiber Textkopien, brachten sie nach Deutschland und verbreiteten sie weiter in akademischen Kreisen. Es ist einzusehen, daß auf diese Weise die Verbreitung der Texte sehr eingeschränkt war. Das änderte sich mit den zunehmenden Aktivitäten des Buchdrucks, der gerade der Rezeption der Palliata beste Dienste leistete. Die mechanische Textvervielfältigung ist für die Rezeptionsvorgänge ein wichtiges Phänomen: die privathandschriftliche Distribution konnte nicht so wirkungsvoll sein wie die durch den Druck. Es war die technische Antwort auf den steigenden Bedarf an diesen Texten; der Bedarf aber verrät ein bemerkenswert starkes Leser-Interesse an dieser neuen Literatur.

Ich habe – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zunächst nur für den deutschen Raum die Druckausgaben von Plautus und Terenz von ca. 1470 bis 1550 recherchiert. Dabei ist im Überblick herausgekommen: Für Plautus erfolgte der Inkunabelerstdruck 1472 in Köln; danach sind mehr als zehn Inkunabeldrucke der Komödien erschienen. Zwischen 1500 und 1550 wurden zwanzig Ausgaben der Opera Plauti produziert, dazu über siebzig Drucke von einzelnen Stücken, wobei die Aulularia mit 22 und die Bacchides mit 14 Auflagen am häufigsten vertreten sind. Für Terenz ließen sich über dreißig Inkunabelausgaben ermitteln, die alle sechs Stücke enthalten; weitere 63 Frühdrucke erschienen nur in Deutschland bis 1550; dazu kommen noch 16 Einzeldrucke. Insgesamt lagen also bis 1550 von Plautus-Texten ca. 102 Ausgaben vor, von Terenz für den gleichen Zeitraum etwa 109 Drucke. Man ← 14 | 15 → kann daraus ableiten, daß Plautus und vor allem Terenz Schulautoren und nicht Theaterautoren waren!

Daraus läßt sich folgern, daß die Palliata in Deutschland zu dieser Zeit ein beträchtliches Interesse einerseits philologisch-textkritisch, andererseits pädagogisch als grundlegender Lehrgegenstand in den Oberklassen der Lateinschulen und an den Artistenfakultäten der Universitäten erlangte. Für die Durchsetzung vor allem von Terenz, weniger von Plautus als Lehrgegenstände hatten sich offiziell und nachdrücklich Melanchthon, Erasmus und etwas später Luther eingesetzt.

Im Vorwort seiner 1516 bei Anshelm in Tübingen erschienenen Terenz-Ausgabe umriß Melanchthon das Wesen der römischen Komödie und hob vor allem die Besonderheit dieser neuen Textsorte hervor. Daß er sich dabei gewisser statements von Donat bediente, schmälerte nicht die auf die Gegenwart zielende Wertung. Melanchthon definiert als das Neue der Palliata:

Dieser Beschreibung läßt sich entnehmen, daß Melanchthon der Sozialstatus der Personen (humiles fere personæ), die Handlungen, die die Privatgeschicke ohne Lebensbedrohungen (privatæ civilisque fortunæ sine vitæ periculo) wiedergaben und die Funktion der Texte als Spiegel der Gewohnheiten, Nachahmung von Lebensumständen und Abbild der Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit (speculum consuetudinis, imitatio vitæ, imago veritatis) als bemerkenswert und musterhaft-exemplarisch erschienen. Etwas später, etwa 1538, stellte er den Nutzen der Palliata durch die Lektüre von Terenz folgendermaßen dar:

Ex lectione comœdiarum Terentii primum petenda est quaedam quasi tabula Apellis, in qua demonstrantur variæ picturæ et consiliorum et eventuum humanorum, tum etiam officiorum, quæ in unamquamque personam seu ætatem maxime ← 15 | 16 → cadunt. Deinde ex illis comœdiis petuntur propria verba, et figuræ Latini sermonis.7

Hierin zeigt sich, daß Melanchthon versuchte, die gewissen Unschicklichkeiten in den Komödien als Exempel für konkrete Mißstände des (bürgerlichen) menschlichen Lebens zu interpretieren, aus denen man lernen kann, wovor man sich zu hüten habe. Damit soll – anscheinend oder scheinbar – das gesamte erotische Flair der Komödie in Muster moralisch-negativer Verhaltensweisen umgedeutet werden. Dieser Versuch ist rezeptionsgeschichtlich höchst interessant, weil er den Intentionen der Palliata geradezu gegenläufig ist. Aber die Zeit scheint diesen ‚Kniff‘ akzeptiert zu haben, um sich weiterhin an Form und Sprache der Palliata begeistern zu können. So konnte Melanchthon noch 1545 im Vorwort zu seinen Terenz-Annotationen in der Edition P. Terentii comœdiæ sex (Joachim Camerarius, Lipsiae 1545) den ‚Pädagogen‘ Terenz als geeignetsten Schulautor zur Erlernung der Redekunst und für die Morallehre nachdrücklich empfehlen; sie sollten diesen Autor summa fide den jungen Leuten nahebringen. Denn was die Moral betreffe, so sei Terenz geeigneter, sich ein kritisches Urteil über die öffentlichen Sitten zu bilden als die meisten Kommentare der Philosophen. Melanchthon hebt damit auf die bekundete ‚Realität‘ und ‚Wahrheit‘ der Komödienvorgänge ab.

Terenz war für Melanchthon einer der besten Autoren der römischen Literatur, aus dessen Komödien man die bürgerlichen Sitten und die menschlichen Schicksalsfälle ersehen und über sie Urteile fällen könne.8 Unter dem Aspekt der Rezeption der Palliata ist es allerdings auffällig, daß Melanchthon nirgends auf das Bühnenwesen und die Spielbarkeit der Texte hinweist und keine Empfehlungen für die praktisch-textliche Weiterführung in seiner Zeit erteilt, obwohl er angeblich „seit 1524“ Terenz-Stücke spielen ließ.9 ← 16 | 17 →

Wie Melanchthon setzte sich auch in der Frühzeit Erasmus nachdrücklich für Terenz als Schulautor ein, wovon sein Bonmot zeugt: „Sine Terentio nemo evasit bonus latinus“ (Ohne Terenz maust niemand sich zu einem guten Lateiner) – was Melanchthon auf seine Weise ergänzte: Terenz sei eben der magister vitæ et orationis.

Diese pointierten Stellungnahmen zeugen davon, daß sich die Einführung der Palliata als Lehrgegenstand an den höheren Schulen nicht ohne Kritik und moralische Aversionen vollzog; doch der Unterricht sorgte dafür, daß allmählich die Palliata-Texte vom Lehrbuch in der Klasse zur Schulaufführung übergingen, was wiederum nach und nach zur Folge hatte, daß die Lehrer und Pastoren sich als Autoren probierten und eigene Stücke schufen, die sie auf die Bühne brachten – dem Stoff nach allerdings völlig fern den bewunderten Vorlagen, denn die Plots waren weitgehend biblisch und heilsgeschichtlich orientiert, dem Aufbau nach aber um die Strukturprinzipien der Palliata buhlend, was allerdings nur in äußerlichen Angleichungen gelang. Der – wenn man so will – interne ‚Kampf‘ der Prinzipien des ‚epischen Theaters‘ mit den Prinzipien des ‚antikisierenden Dramas‘ – also zwischen traditionell-erprobt und neu-attraktiv – gehört zu den interessantesten Vorgängen in der dramatischen Literatur des 16. Jahrhunderts, und zwar sowohl in der deutschsprachigen als auch in der neulateinischen.

Das Schultheater im Dienste der Palliata und im Dienste eigener Theaterproduktionen, die der Reformation entsprechend meist vom Stoff her Bibeldramen waren, erfuhr zwar starke Kritik von starren Theologen und Pädagogen, wurde aber darüber hinaus durch Luthers Freibrief für das Theaterspielen an Schulen grandios aufgewertet, wobei die Erotik der Palliata eine Rechtfertigung ex negativo im Sinne Melanchthons erfuhr; nur war die Wirkung von Luthers Verlautbarungen einflußreicher als jene der gelehrten Hinweise Melanchthons.

Es überrascht festzustellen, wie gut Luther mit der Palliata vertraut war. Als Mönch habe er, so berichtet er in den Tischreden, keine Bücher ins Kloster mitnehmen dürfen, außer Plautus und Vergil (præter Plautum et Virgilium).10 Später galt seine große Zuneigung Terenz, vermutlich durch Melanchthons Empfehlungen bewirkt. Noch 1540 bekannte er: „Ego valde delector Terentianis fabulis, et sub nocte lego in Terentio quotidie!“11 Luther bemühte sich, auch in weltliche Texte exegetisch tief einzudringen, um deren Gehalt zu begreifen. Im Diskurs um die Erschließung der Heiligen Schrift heißt es: „Kann man doch Virgilium, Ciceronem, Terentium nicht auslernen, wie sind ← 17 | 18 → wir denn in der heiligen Schrift so vermessen.“12 Daß Luther in der Dichtung auch einen gewissen Niederschlag sozialer Verhältnisse sah und wohl von ihren Vertretern einen moralisch-sozialen Einsatz erwartete, läßt folgende Äußerung ersehen: „Terentius, Homerus et similes poetæ sind keine munch gewesen, sonder haben gesehen, wie es den leuten gehet, id quod ignorant monachi.“13 So sah er auch bei Terenz angemessene Beispiele für den sozialen Umgang mit den jungen Leuten, die ja meistens aus der bürgerlichen Schicht stammen:

Sic videmus Terencium, das es nit hoher kompt quam ad curas iuvenum et puellarum. Terencius bleybt in humilibus et affectibus œconomiæ, tragœdiæ in affectibus politiæ. Ego Terencium ideo amo, quod video id esse rhetoricam, das man ein comœdiam daraus macht, das einer hat ein magd beschlaffen; deinde fingit, was der vatter dazu sag, quid servus, quid die freundschafft. Sic ex qualibet causa potest fieri comœdia.14

Luther war überhaupt mit Terenz gut vertraut. Nicht nur in den Tischreden, sondern auch in Schriften, Vorlesungen und Briefen gibt es zahlreiche Anspielungen und Zitate auf Texte und Spielfiguren dieses Komödienautors. Das sorgfältige Register der Weimarer Lutherausgabe15 gibt davon einen starken Eindruck. Vor allem die prägnanten Sentenzen hatten es Luther angetan. Über 110 Mal hat er sich auf Terenz, sei es eine Sentenz, sei es die Beispielhaftigkeit einer Komödienfigur, berufen.16 Plautus begegnet man seltener bei ihm, aber immerhin auch an die 30 Mal, wobei sich zeigt, daß Luther mindestens 11 Plautus-Komödien vertraut waren.17 Der alte Luther war denn allerdings doch um die Moral der Jugend besorgt, wenn man die Tugendlehre der Komödie unbedacht zum Maßstab der Jugenderziehung machte. In einer seiner letzten Vorlesungen (Enarratio capitis noni Esaiæ, 1546) zürnt er den theologischen Kollegen:

Sic et theologi nostri […] cœperunt docere formicationem simplicem non esse peccatum, quia Terentius dixit: Non est flagicium scortari adolescentem. O im ← 18 | 19 → piam, sceleratam et pudendam atque execrandam vocem, approbare et excusare scortationem a Spiritu sancto aperte damnatam […]18

Aber aus seiner insgesamt recht guten Textkenntnis der römischen Komödien resultierte Luthers definitive Entscheidung: „Comœdias pueri recitare (agere) debent.“19 Luthers Begründung dafür ist umfassend: Sie ist in einer lateinischen und einer deutschen Version überliefert. Der Anlaß dazu war die Anfrage (um 1533) eines Pfarrers aus Bautzen, Johannes Cellarius, bei Luther, ob die Aufführung eines Komödie – es war die Andria des Terenz – durch Schüler für einen Christen unwürdig wäre. Luthers Antwort bezieht sich in erster Linie auf die Palliata, vor allem auf die Komödien des Terenz. Wieweit Luther zu dieser Zeit überhaupt das Schultheater bzw. das akademische Theater und das sich entwickelnde Bürgertheater, etwa nach dem Schweizer Muster Nicolas Manuels in Bern, im Blick hatte, läßt sich nicht genau sagen. Was Luther aber mit Theateraufführungen verband, war die Möglichkeit durch dieses Medium belehrend und aufklärend auf die Zeitgenossen einzuwirken. Neben dem Erlernen des Lateins als Sprechsprache durch die spielenden Schüler würden die Zuschauer über die conflictæ personæ in richtigem sozialen Verhalten unterwiesen; sie blickten in einen Spiegel (quasi in speculo). Die Familiengeschichten der Palliata-Texte lehrten exemplarisch, wie die zwischenmenschlichen Probleme sich lösen ließen. Und was die „amatoria“ und „obscœnici“ beträfe, da dürfte man sonst auch die Bibel nicht lesen.20 ← 19 | 20 →

Mit dem didaktisch-moralischen Rückenwind von Erasmus, Melanchthon und Luther fand die Palliata Aufnahme in die Lehr- und Studienpläne der deutschen Bildungszentren, aber die pädagogische Begeisterung für dieses Genre ist im Laufe der Zeit völlig verebbt. Schon in den gymnasialen Lehrplänen des 19. Jahrhunderts spielt die Palliata keine Rolle mehr, obwohl sie als eine partielle Basis der europäischen Komödienliteratur nicht wegzudenken ist. Die neueste Ausgabe der Komödien von Plautus und Terenz21 mit einer guten und zutreffenden Übersetzung von Peter Rau läßt erkennen, was für einen europäischen Literatur-Schatz diese Texte darstellen. ← 20 | 21 →

Aktive Rezeption der Palliata durch Verdeutschung

Gegenüber den philologisch-editorischen Leistungen, die Palliata-Texte allenthalben zugänglich zu machen, sind literarische Bemühungen im 15. und frühen 16. Jahrhundert nur spärlich zu finden. Neben wenigen deutschsprachigen Textrezeptionen, für die der engere Begriff ‚Übersetzung‘ kaum in Anspruch genommen werden kann, liegen auch nur wenige Versuche vor, Theaterstücke im Sinn und Geist der Palliata in Neulatein oder Deutsch zu konzipieren.

Die erste aktive Rezeption von Palliata-Texten in Form einer Prosa-Verdeutschung legte Albrecht von Eyb (1420–75)22 vor, und zwar die beiden plautinischen Komödien Bacchides und Menæchmi, eine für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts typische und sehr erfreuliche Arbeit. Albrecht von Eyb hatte 1436–38 in Erfurt studiert, war seit 1444 Domherr in Eichstätt, Bamberg und Würzburg und begab sich – finanziell wohl versorgt – nach Italien zum Studium der Jurisprudenz, das er 1459 in Pavia mit dem Doctor juris utriusque abschloß. Aber sein Interesse galt in besonderem Maße der Literatur, und zwar der alten wie der neuen, seine rhetorische Exempelsammlung Margarita poetica (1459) wurde bis ins 16. Jahrhundert mehrfach gedruckt. Bei seinem zweiten Italien-Aufenthalt 1461–62 scheint er sich ganz der Literatur gewidmet zu haben, und zwar in Pavia, wo er sich unter Anleitung von Balthasar Rasinus, Professor in Pavia 1439–68, intensiv der Beschäftigung mit den Komödien des Plautus widmete, von denen der größere Teil erst seit 1429 wieder vorlag. Plautus stand im Brennpunkt des philologischen Interesses der italienischen Universitäten; Balthasar Rasinus war einer der besten Kenner dieser Palliata-Texte. In seinen Vorlesungen diktierte er zum Verständnis der Hörer Inhaltsangaben und Szenenvorgänge, die u.a. Eyb mitschrieb und später verwendete. Eyb ließ sich in Italien viele neuen Texte abschreiben und brachte sie nach Deutschland mit.

Im Jahre 1474 schloß Eyb seinen Spiegel der Sitten im Manuskript ab – ein Jahr vor seinem frühen Tod.23 Das Werk ist eine Klitterung ethischer Lehren ← 21 | 22 → aus Quellen der Antike (u.a. Plato, Lucrez, Apuleius, Seneca, Vergil, Quintilian; ca. 30 Autoren), der Patristik (Augustinus und die Kirchenväter), der Bibel, der Scholastik (Päpste, Gelehrte; ca. 30 Belege) und der Zeitgenossen (vor allem Petrarca). Das Ziel scheint gewesen zu sein, durch eine Verschmelzung von Moral und Glauben mittels einer Fülle von Exempeln eine christliche Humanitas zu konstituieren. Die deutsche Fassung des Werkes läßt vermuten, daß Eyb auf ein Publikum zielte, das deutsche Texte lesen konnte, nicht auf eine Gelehrten-Diskussion, die in Latein hätte konzipiert sein müssen.

In unserem Zusammenhang ist nun bemerkenswert, daß Eyb seinem Ethik-Lehrbuch drei konkrete literarische Beispiele, „nützlich den menschen, die es zů gůtem verwenden wimagellen“, beigab, nämlich die Plautus-Komödien Bacchides und Menæchmi und die Philegenia des Ugolino Pisanus. Er begründet die Beigabe der ins Deutsche transferierten Texte in der Vorrede zum Spiegel der Sitten damit, daß „dadurch die pimagesen, verkerten sitten der menschen werden verstanden“, und er trägt auch die allgemeine Ansicht vor, daß die Komödienhandlung und vor allem deren Schluß eine belehrende Bedeutung besäßen, insofern sie zeigten, wie menschliche Konflikte sich lösen ließen und wie man eine heile Welt wiederherstellen oder durch Vermeidung der privaten Exzesse bewahren könne. Es heißt da bei Eyb:

Diese Darstellung zeigt, wie die Palliata im 15. und auch – wie bei Melanchthon und Luther deutlich geworden – im 16. Jahrhundert nicht als lustige Vergnügung, sondern als ernst zu nehmender Spiegel verkehrten Verhaltens anzusehen ist, also als eine Art Lehrtheater und nicht als bloßes Lustspiel. Die menschlichen Schwächen, die Eyb hier auflistet, sind nicht human verständlich, sondern letztlich verderblich und moralisch zu bekämpfen. Dahinter steht zweifellos die hausbackene christliche Moral als sozialethischer Maßstab. Nur unter dem Vorbehalt dieser Umwertung konnte und sollte man die human-frivole Palliata goutieren.

Keine Frage: Der Literarhistoriker unserer Tage gerät hier in Zweifel über diese anscheinend verkrampften Rechtfertigungsversuche. Es wirkt wie eine Zwei-Klassen-Ethik: einerseits gibt der klerikal gebundene Gelehrte die Umwertung der Exempel vor, andererseits transferiert er die heidnische Frivolität bis ins Äußerste ins Deutsche, um sie publik zu machen. Daß Eyb, um seine ethische Doktrin literarisch-exemplarisch zu veranschaulichen, neben den Menæchmi und der Philegenia gerade auf die Bacchides zurückgriff, läßt die Disparatheit der Zeit zwischen Moral und Erotik erkennen.

Um die Art und Weise der Bearbeitungstendenz Eybs zu verstehen, wird hier eine knappe Beschreibung der plautinischen Komödie Bacchides eingeschoben. Sie soll gleichzeitig die stringente Struktur des lateinischen Textes verdeutlichen, die in gewisser Weise repräsentativ für die Palliata ist und die den späteren Autoren ebenso als Muster vorlag, was sie leider erst sehr spät begriffen haben.

Diese römische Halbstarken-Komödie (homines adulescentuli, 88) hat in ihrem Plot eine Vorgeschichte: Nicobulus hat seinen Sohn Mnesilochus mit dessen Sklaven Chrysalus nach Ephesos geschickt, um Geld einzutreiben, was beide erfolgreich getan haben: 1.200 Philippsgulden bringen sie heim. Aus Ephesos hatte Mnesilochus an seinen Freund Pistoclerus einen Brief geschrieben, in dem er ihn bat, seine Geliebte Bacchis in Athen ausfindig zu machen; sie stammte aus Samos; sie hatte sich einem Soldaten engagiert, von dem sie sich trennen will, der aber dafür 200 Gulden Abstand verlangt. Bacchis aus Samos geht zu ihrer Zwillingsschwester Bacchis nach Athen – beide sind ‚öffentliche Damen‘, die ihren Lebensunterhalt durch intime Verhältnisse finanzieren.

Die Bühnenhandlung beginnt 1) mit dem Versuch der Schwestern Bacchis I und Bacchis II, die aus Samos angereiste Schwester von ihrem ‚Soldaten‘ freizukaufen, 2) damit, daß Pistoclerus die Bacchis II seines Freundes findet, sich von Bacchis I gewinnen läßt und somit in den Ablöse-Prozeß eingebunden wird, und 3) mit der Rückkehr des Mnesilochus und des Chrysalus nach Athen mit dem für den Vater eingetriebenen Geld.

Diese drei Kreise zu einem komödienhaften ‚Ende gut – alles gut‘ zusammenzuführen, gelingt der meisterhaften Gestaltungskunst des Plautus. Er geht dabei von der Intelligenz des Publikums aus, dessen Interesse auf die Lösung der Probleme ausge ← 23 | 24 → richtet ist. Je verworrener sie sind, desto reizvoller und spannender ist das Engagement der Zuschauer.

Details

Seiten
526
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783035107470
ISBN (MOBI)
9783035197624
ISBN (ePUB)
9783035197631
ISBN (Paperback)
9783034314664
DOI
10.3726/978-3-0351-0747-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Deutsche Literatur Antike Kultur Renaissanceliteratur Mittelalterliche Motive Rezeptionsliteratur
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2014. 526 S.

Biographische Angaben

Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)

Alfred Noe (*1953) unterrichtet Romanische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Er beschäftigt sich vorwiegend mit romanischen Literaturen im deutschen Sprachraum, z.B. Geschichte der italienischen Literatur in Österreich. Teil 1: Von den Anfängen bis 1797. Wien 2011. Hans-Gert Roloff (*1932), ist Prof. emer., Dr. phil., Dr. h.c. der Freien Universität Berlin. Seine Lehr- und Forschungsgebiete waren: Mittlere Deutsche Literatur und Sprache unter Einschluss des Neulateinischen, Theorie und Praxis der Editionswissenschaft, Literaturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Er ist Begründer und Herausgeber des Jahrbuchs für Internationale Germanistik (1969-), und von DAPHNIS: Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit (1972-) sowie Herausgeber u.a. der Reihen ADL, Berliner Ausgaben, Studium Litterarum, Translatio und GLS.

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Titel: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), Bd. II