Interkulturelle Literatur in deutscher Sprache
Zehn Autorenporträts
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Zur Entwicklung der interkulturellen Literatur in Deutschland bzw. in deutscher Sprache
- Cyrus Atabays Werdegang als interkultureller Dichter in deutscher Sprache
- Zsuzsa Bánk: Wenn Mütter rebellieren
- Artur Becker: Eine Landschaft vor dem Vergessen bewahren
- Franco Biondi, der Wegbereiter
- Böhmen liegt nicht nur am Meer. Das Werk von Libuše Moníková als mitteleuropäisches Projekt
- Terézia Mora: „wir sprechen, also sind wir“. Das Schreiben als Überlebensstrategie
- José F. A. Oliver. Vom Auf-bruch bis zum fahrtenschreiber: Der Werdegang eines interkulturellen lyrischen Ichs
- Yoko Tawada: Vom Verwandeln im Schreiben auf Reisen
- Galsan Tschinag: Erzählen um weiterzuleben und weiterzugehen
- Aglaja Veteranyi: Über die Unlebbarkeit monokultureller Lebensmodelle
- Die Verfasser
- Namensregister
Zur Entwicklung der interkulturellen Literatur in Deutschland bzw. in deutscher Sprache1
Seit der Veröffentlichung von Gianni Bertagnolis Reportage Arrivederci Deutschland!2 sind 50 Jahre vergangen. Im Laufe von fünf Jahrzehnten haben drei Generationen von Schriftstellern dazu beigetragen, dass die interkulturelle Literatur in Deutschland bzw. in deutscher Sprache eine erstaunliche, ja erfolgreiche Entwicklung durchgemacht hat.
In dem vorliegenden Beitrag wird es darum gehen, die Komplexität der Arbeiten der jeweiligen Generation zu verdeutlichen. Und zwar anhand folgender Fragen:
– Worin hat der zündende Beitrag der Gründergeneration bestanden und wie sind die Gründer im Laufe der Zeit vorangekommen bzw. wie haben sie sich neu positioniert?
– Wie hat sich die Schriftstellergeneration der Kinder der Einwanderer, die sich Deutsch als ihre Sprache angeeignet hat, thematisch und ästhetisch innerhalb oder außerhalb der interkulturellen Literatur in Deutschland entwickelt?
– Wohin steuert die jüngste Generation von interkulturellen Schriftstellern, die weder mit der ersten noch mit der zweiten Generation in Verbindung gebracht werden will?
Ferner werden die Grundtendenzen der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache im Vergleich mit der interkulturellen Literatur in anderen europäischen Sprachen betrachtet. Zeitlich gesehen fasse ich die bisherige Entwicklung in drei grobe Abschnitte zusammen. Ich tue das, wohl wissend, dass jede Unterteilung eine Hilfskonstruktion ist, um sich eine zeitliche und inhaltliche Orientierung zu verschaffen, denn es hat in Wirklichkeit keine Zäsur gegeben. ← 7 | 8 →
Die Gründungsphase und ihre Themen (1964–1980)
Auf der Suche nach einem Nullpunkt bietet sich die erwähnte Reportage von Gianni Bertagnoli an, um die Geburtsstunde der Gastarbeiterliteratur – so wurde die betreffende Literatur an ihren Anfängen genannt – festzumachen. Dem Jahr 1964 ist so die Ehre zugefallen, als Geburtsdatum der interkulturellen Literatur in der Bundesrepublik zu gelten. Bertagnolis schlichte Reportage ist auf Deutsch erschienen. Das Original, das bei einer Überschwemmung des Flusses Etsch im Elternhaus des Verfassers verlorengegangen ist, hat Bertagnoli auf Italienisch verfasst. Dies zeigt, dass die interkulturelle Literatur in Deutschland in den mitgebrachten Sprachen der jeweiligen Einwanderergruppen entstanden ist. Und in der Tat, wie hätte es anders sein können? In der Rezeption sowie in der Forschung wurde und wird so ein zwingender Tatbestand übersehen, was eigentlich ein großer Vorteil für die interkulturelle Literatur in deutscher Sprache ist.
An erster Stelle unter den in ihrer Muttersprache schreibenden Autoren in Deutschland ist, und zwar aufgrund des hohen literarischen Niveaus seines Beitrages, Aras Ören zu erwähnen. Mit seinen Gedichten und Erzählungen hat Ören in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die aufkommende interkulturelle Literatur in Deutschland wie kein anderer der damals debütierenden Autoren thematisch und ästhetisch geprägt. Örens sofortige Rezeption in deutscher Sprache ist dem politischen Engagement der 68er-Generation zu verdanken. Seine Werke sind in der Tat rasch in deutscher Sprache beim Berliner Rotbuch Verlag erschienen. Ihre Übersetzungen haben deutsche Kollegen in direktem Kontakt mit dem Autor angefertigt. Seinen größten Erfolg hatte er mit der Berliner Trilogie Was will Niyazi in der Naunynstraße (1973), Der kurze Traum aus Kagithane (1974) und Die Fremde ist auch ein Haus (1980) bei einer entsprechend politisierten Leserschaft sehr früh erreicht. Ohne Ören und seine Werke auf zweckbedingte Aspekte einschränken zu wollen, lässt sich behaupten, dass seine früheren Werke von dem Traum einer Verbrüderung des West-Berliner städtischen Proletariats mit den Einwanderern aus dem Mittelmeerraum getragen sind. Dem engagierten Dichter und Erzähler ging es in seinen Werken primär um die Arbeitswelt in den deutschen Betrieben, um das soziale Leben in den Arbeitervierteln West-Berlins und um eine menschliche und solidarische Wahrnehmung der ersten Generation der Einwanderer. Darüber hinaus spricht sich Aras Ören stets für eine Zukunft der Einwanderer in Deutschland aus und zwar als Gegenvorschlag zur damaligen Ausländerpolitik der jeweiligen bundesrepublikanischen Regierungen.
Die Debütwerke von Gianni Bertagnoli: Arrivederci, Deutschland! (1964) und des vorerst auf Italienisch schreibenden Franco Biondi: Il ri ← 8 | 9 → torno di Passavanti – Passavantis Rückkehr (1977) sind eher durch das Pendeln ihrer Protagonisten zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland geprägt. Der gescheiterte Versuch, am Geburtsort wieder Fuß zu fassen, zwingt sie letztendlich dazu, ihre Auswanderung als endgültige Einwanderung zu akzeptieren. An dieser Stelle ist es hilfreich zu erwähnen, dass die Einwanderung in die damalige BRD als befristeter Aufenthalt konzipiert und vertraglich zwischen Entsendeländern und der BRD festgelegt war. Hinzu kam, dass 1973 aufgrund einer europaweiten Öl- bzw. Wirtschaftskrise die regierende SPD-FDP-Koalition einen verwirrenden Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte beschloss, der zur Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung führen sollte, während die Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt 1,2 % betrug.3 Überdies war es in jenen unwirtlichen Zeiten, in denen jede Regierung nicht müde wurde zu behaupten, dass die BRD kein Einwanderungsland sei und sein könne, für die Gründer der interkulturellen Literatur in Deutschland ein Gebot der Loyalität, Position für ein Verbleiben der Einwanderer und für den Zuzug ihrer Familienangehörigen zu beziehen. An dem Roman Wenn Ali die Glocken läuten hört (1979) des türkisch schreibenden Autors Güney Dal und an Franco Biondis Novelle Abschied der zerschellten Jahre (1984) ist abzulesen, wie sehr sich der Konflikt zwischen Inländern und Ausländern in Bezug auf das Bleiberecht der Einwanderer zugespitzt hatte.
Ein weiteres prägendes Thema aus der Gründerzeit der interkulturellen Literatur in der BRD war, ein Leben als Frau und Mutter außerhalb der eigenen Sprache und Kultur führen zu müssen. Interessanterweise kann man feststellen, dass in den Gedichten und Prosatexten von Gastarbeiterinnen, die in muttersprachigen Anthologien und Heften vorliegen, das Thema zwar autobiographisch, jedoch frei von jeder Anlehnung an die damals florierende Frauenliteratur angegangen wird. Die italienisch schreibende Autorin Marisa Fenoglio hat sich des Themas erst in den 1990er Jahren angenommen. In Fenoglios Vivere altrove (Woanders leben, 1997) geht es um das Leben einer jungen Mutter, die auf sich gestellt ist, während ihr Mann als Ingenieur eine italienische Firma in Stadtallendorf aufbaut. Im Fluss des Erzählens wird aus der verkappten Autobiographie der Autorin eine genaue Darstellung des sozialen Lebens in einer nordhessischen Kleinstadt zur Zeit des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, wo deutsche Kriegsflüchtlinge aus dem Osten auf Einwanderer aus dem Mittelmeerraum treffen. ← 9 | 10 →
Wesentlich deutlicher bei ihrer Parteinahme für die eingewanderten Frauen war zuvor die auf Deutsch schreibende Autorin Lisa Mazzi-Spiegelberg vorgegangen. In ihrem Debütband Der Kern und die Schale (1986) sowie in einem der späteren Texten in Unbehagen (1998) thematisiert sie das Leben von Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung in der Partnerschaft, im Beruf und als Bürgerin des Landes, in dem sie ein Leben nach den vorgesehenen Möglichkeiten führen.
Zu engagierter Literatur im Kontext der Fraueneinwanderung sind zweifellos jene Erzählungen und Romane zu zählen, die Aysel Özakin während ihres zehnjährigen Aufenthalts in Deutschland auf Türkisch verfasst hat. An dem Roman Die Leidenschaft der Anderen (1983) und an den Erzählungen aus dem Band Das Lächeln des Bewusstseins (1985) lässt sich ablesen, mit welcher Intensität und welchem Respekt es ihr gelungen ist, das Leben von Frauen in der Einwanderung als ein Sujet der europäischen Frauenliteratur aufzugreifen und zwar als kongeniale Erweiterung ihrer Themen aus den früheren Romanen: Der fliegende Teppich. Auf der Spur meines Vaters (1975) und Die Preisvergabe. Ein Frauenroman (1982).
Macht man sich als Forscher die Mühe, die Selbstveröffentlichungen der 1970er und 80er Jahre zu untersuchen, die in der jeweiligen Muttersprache der Einwanderer stattfanden, dann stößt man auf das Thema der Sehnsucht nach der Heimat. In den dortigen Gedichten und Erzählungen stellt sich diese Sehnsucht als schmerzliche Unmöglichkeit heraus, am Sozialleben im eigenen Geburtsort weiterhin teilnehmen zu können. Das Herausstellen dieses Verlustes durch kontrastive, ja intensivierende Metaphern wie „Leben im Getto“ oder „Existenz im Käfig“ hat dazu geführt, dass die entsprechenden Gedichte und Erzählungen als Anklagetexte in Bezug auf die Aufnahmegesellschaft ausgelegt wurden. Da jeder Kontrast zugleich ein Verweis ist, lässt sich die Bezugnahme auf das Leben der Einwanderer in der Bundesrepublik nicht ausschließen. Sie findet aber auf einer anderen und eben nicht auf der Anklageebene statt, wie nach wie vor angenommen wird. Die genannten Metaphern entsprechen eher der befremdenden Tatsache, dass bei ihrer Ankunft in der Bundesrepublik den Einwanderern „ein Leben als Gastarbeiter“ als das einzige Angebot vorlag, um ihren Arbeits- und sozialen Alltag neu zu organisieren. Insofern vermitteln Gedichte und Prosatexte die erlebte Diskrepanz zwischen dem eigenen Lebensprojekt und dem Umgang mit den Gastarbeitern, den die Einwanderer als widersprüchlich und konfliktreich in der Öffentlichkeit und in den Betrieben erlebten.
Diese grobe Entwicklungslinie kann keineswegs eine ästhetische und thematische Vielfalt der Autorschaft der 1970er Jahre wiedergeben, die sich bereits damals ankündigte. Denn im Laufe dieses Jahrzehntes haben sich die wichtigsten Autoren und Autorinnen der jeweiligen Einwanderergruppe ← 10 | 11 → durch Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften und Sammelbänden jeder Art oder durch Selbstveröffentlichungen zu Wort gemeldet. Dass sie mit ihren Erstlingswerken erst im Laufe der 1980er Jahre debütieren durften, hängt mit der erwähnten Diskrepanz zwischen dem eigenen Lebensprojekt und dem arbeitsbezogenen und menschenfernen Angebot der Gastgesellschaft zusammen. Es waren kleine und engagierte, ausländische und inländische Verlage, die sich der aufkommenden interkulturellen Literatur in Deutschland geöffnet haben und sie hießen: Ararat Verlag in Stuttgart bzw. Berlin, Bundbuch in Berlin, CON Verlag in Bremen, Das Arabische Buch in Berlin, Damnitz-Verlag in Neuss und München, Edition der 2 in Berlin, Edition Neue Wege in Berlin, Edition Fischer in Frankfurt, Express Edition in Berlin, Friedrich-Verlag in München, Heliopolis Verlag in Tübingen, Klartext Verlag in Essen, Neuer Malik Verlag in Kiel, Oberbaum Verlag in Berlin, Romiosini Verlag in Köln, Rotbuch Verlag in Berlin, Verlag Atelier im Bauernhaus in Fischerhude, Zambon Verlag in Frankfurt u. a. Bei ihnen haben u. a. folgende Autoren mit ihrem ersten Buch debütiert: Habib Bektas, Franco Biondi, Gino Chiellino, Güney Dal, Şinasi Dikmen, Giuseppe Giambusso, Kemal Kurt, Lisa Mazzi-Spiegelberg, Aysel Özakin, Yüksel Pazarkaya, Zvonko Plepelić, Suleman Taufiq und Eleni Torossi.
Zusammenfassend und Jahrzehnte danach lässt sich leicht feststellen, dass die interkulturelle Literatur in Deutschland in den jeweiligen mitgebrachten Sprachen entstanden ist, jedoch in enger Berührung mit den literarischen Trends der damaligen bundesrepublikanischen, ja westeuropäischen Literatur. Man könnte auch von ihren Anfängen im Bereich der engagierten Literatur der 1960er Jahre, der Frauenliteratur sowie der Literatur der Arbeitswelt um die Dortmunder Gruppe ’61 reden. Dieses Vorgehen würde allerdings die Tatsache unterschlagen, dass gerade die dargelegten Bedingungen, unter denen die interkulturelle Literatur ihren Anfang genommen hat, sie anders hat werden lassen. Denn bekanntlich fließen die Bedingungen, unter denen eine Literatur entsteht, in ihren Entstehungsprozess ein, und sie wird letztendlich dadurch geprägt. Insofern ist es durchaus korrekt, Gedichte, Prosatexte und Erzählungen aus dieser Entstehungsphase der interkulturellen Literatur in Deutschland auch als Gastarbeiter-, Ausländer- oder Einwandererliteratur zu lesen, denn sie sind thematisch und ihren Zielen nach als Minderheitenliteratur konzipiert.4 ← 11 | 12 →
Insofern lautet die anstehende Frage, ab wann und warum es angebracht ist, nur von interkultureller Literatur in der Bundesrepublik und von interkultureller Literatur in deutscher Sprache zu sprechen: Von interkultureller Literatur in deutscher Sprache kann man ab dem Zeitpunkt reden, als einige Einwanderer sich dazu entschieden haben, Schriftsteller in deutscher Sprache zu werden. Diese Selbstverständlichkeit reicht jedoch nicht aus, aus einem deutschsprachigen einen interkulturellen Autor werden zu lassen. Und in der Tat bestehen einige deutschsprachige Autoren mit ausländischen Wurzeln darauf, deutsche Autoren ohne Wenn und Aber zu sein. Ob es ihnen gelingen wird, sich in der monokulturellen Kernsubstanz einer nationalen Literatur einzurichten, ist die unvermeidbare Frage, die noch auf ihre Antwort wartet. Es steht aber fest, dass, um interkulturelle Literatur im Kontext der Einwanderung schreiben zu können, der Autor eines autonomen ästhetischen Konzepts bedarf. Die gesellschaftliche Einstufung der Einwanderer als das letzte Glied in der Kette der möglichen sozialen Minderheiten im Lande hat ihr Suchen nach einem autonomen ästhetischen Konzept auf Umwege geleitet. Hinzu kommt, dass das gesuchte Konzept sich mit dem ästhetischen Instrumentarium und mit den Zielsetzungen berührt, womit engagierte Minderheitsliteratur geschrieben wird. Wie allerdings der Übergang von einer Minderheiten- zu einer interkulturellen Literatur im Kontext der Einwanderung verlaufen kann, lässt sich an der ästhetischen Umorientierung verdeutlichen, die Franco Biondi und Aras Ören in Laufe der 1980er Jahre vollzogen haben.
Die neue Positionierung von Franco Biondi besteht darin, dass er in seinem Roman Die Unversöhnlichen oder im Labyrinth der Herkunft (1984) jede Anlehnung an die italienische oder deutsche Literatur der Arbeitswelt sowie die Pendel-Erzählstruktur der Einwandererliteratur fallen lässt. An ihrer Stelle entwirft der Autor eine eigene Erzählstrategie, um am Ende des Romans seinen Protagonisten mit einem integrierten Lebenslauf in die Zukunft des Einwanderungslandes verabschieden zu können. Die innovative Erzählstrategie sieht folgenderweise aus: Der Protagonist ist ein Einwanderer, der sich als Schriftsteller in deutscher Sprache einen Namen gemacht hat. Das Zusammenleben mit seiner deutschen Frau ist in eine Krise geraten. So entscheidet er sich, nach San Martino, dem Ort seiner Geburt, zurückzufahren, um der Unversöhnlichkeit zwischen den Lebenspartnern auf den Grund zu gehen. Dort erfährt er, dass Unversöhnlichkeit sowohl das private als auch das öffentliche Leben in der Herkunftsgemeinde seiner Familie seit einem Jahrhundert bestimmt. Nach dem abgeschlossenen Erkenntnisprozess kehrt der Protagonist nach Deutschland zurück. Was sich hier als typischer Pendelroman wie die frühe Erzählung Passavantis Rückkehr anbietet, ist in der Tat keiner. Denn der Protagonist ist ein deutsch ← 12 | 13 → sprachiger Schriftsteller. Er reist in seine Vergangenheit zurück, um den tragenden Teil seines späteren Lebenslaufs in sich aufkommen zu lassen und ihn in die deutsche Sprache zu überführen. Am Ende des Romans hat der Protagonist erreicht, dass sein Lebenslauf, der sich bis dahin in zwei nicht kommunizierenden Sprachen befand, nun als integrierter Lebenslauf in der Sprache seines Berufs vorliegt und dieser neue Lebenslauf macht ihn zugleich zukunftsfest.
Auf der Sprachebene des Romans Die Unversöhnlichen oder im Labyrinth der Herkunft hat sich Folgendes ereignet: Die Sprache aus der Kindheit und Jugend des Protagonisten ist in einen dialogischen Austausch mit der Sprache seiner Gegenwart getreten und sie hat ihr all das zur Verfügung gestellt, was in ihr als kulturhistorisches Gedächtnis des Protagonisten sowie seiner Herkunftsgemeinde und seines Landes untergebracht vorlag. Dass Franco Biondi für den Aufbau seines Romans sich eine reine interkulturelle Erzählstrategie ausgedacht hat, wird durch Theodor Kallifatides’ Roman Der gefallene Engel (1987) und Salman Rushdies Roman Satanische Verse (1988) im Nachhinein weitgehend bestätigt. Wie bei Biondi geht es in Kallifatides’ und Rushdies Romanen um Kindheit und Jugend des jeweiligen Protagonisten, die sich in einer anderen Sprache und in einem anderen Land zugetragen haben. Ziel der Reise an den Geburtsort, die in der neuen Sprache des Protagonisten bzw. des Schriftstellers stattfindet, ist Kindheit und Jugend in die Sprache des Romans aufzunehmen und somit den zerstückelten Lebensverlauf des jeweiligen Protagonisten als interkulturellen Lebenslauf zu gestalten. Bei Theodor Kallifatides wird die Integration des Lebenslaufs des Protagonisten in schwedischer Sprache soweit glücken, dass am Ende der „Reise“ der Protagonist jenes Gefühl von Freiheit erreicht hat, wonach er sich zuvor gesehnt hat. Bei Salman Rushdie dagegen hat es der Leser mit einem offenen Ende des Romans zu tun, da der Protagonist am Fenster seines Elternhauses steht und Ausschau nach seiner Kindheit und Jugend im Haus und in seinem Geburtsort hält.
Wie sieht nun Biondis Fortentwicklung als interkultureller Romancier aus? So wie es in dem Roman Die Unversöhnlichen oder im Labyrinth der Herkunft vorgeführt wird, sind seine Haupt- und Nebenfiguren auch in den späteren Romanen keine ausländischen Vertreter der deutschen Arbeitswelt. Sie kämpfen weder für soziale Gerechtigkeit noch für die Rechte der Ausländer, wie es z. B. Mamo in der Novelle Abschied der zerschellten Jahre bis zum bitteren Ende getan hat. Selbst in dem Roman In deutschen Küchen, in dem das Leben der ersten Gastarbeitergeneration im Mittelpunkt steht, hat es der Leser mit einer Einführung des jungen Protagonisten in das deutsche Leben der 1960er Jahre zu tun. Das Werk ← 13 | 14 → ist eher eine Art interkultureller Bildungsroman als ein Werk aus der Arbeitsweltliteratur. Biondis Fortentwicklung als interkultureller Autor in deutscher Sprache besteht darin, dass seine Protagonisten durch ihre integrierten Lebensläufe ihren Standort gewechselt haben. Sie handeln nicht mehr in Bezug auf ihre Herkunft und sie kämpfen nicht mehr um soziale Anerkennung. Stattdessen nehmen sie mit ihrem integrierten Lebenslauf die Entwicklung der europäischen Gesellschaft vorweg, gerade weil es immer mehr Bürger mit interkulturellen Lebensläufen in Europa geben wird.
Details
- Seiten
- 250
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783035109009
- ISBN (MOBI)
- 9783035197112
- ISBN (ePUB)
- 9783035197129
- ISBN (Paperback)
- 9783034320504
- DOI
- 10.3726/978-3-0351-0900-9
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Dezember)
- Schlagworte
- Interkulturalität Chamisso-Autoren Robert-Bosch-Stiftung Einwanderung Gedächtnis Sprachlatenz Zugehörigkeit Loyalität Autobiographie Entwicklung Werdegang interkultureller Schriftsteller Lebensprojekt
- Erschienen
- Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien. 2016. 320 S.