Österreichische Literatur zwischen Moderne und Postmoderne
Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung
- I Die Identität des Nichtidentischen
- II Literatur am Vorabend des Untergangs der Habsburgermonarchie
- Im Zeichen des Modernismus
- Herausragende Persönlichkeiten der Moderne
- Lyrik des neuen Jahrhunderts
- Österreichische Prosa vor dem Zerfall der Monarchie
- Zwischen Wien und Prag
- III Literatur im Zeitalter der Unbeständigkeit
- Auf der Suche nach der schwindenden Wirklichkeit
- Die Überwindung der Tradition
- Grundprobleme in der Prosa der 1930er Jahre
- Drama und Theater in der Zeit der Identitätsverwirrung
- IV Vom Anschluss zur Emigration
- Der literarische Anschluss
- Zentren und Persönlichkeiten der Emigrationsliteratur
- V Der Neubeginn nach 1945
- Der Wiederaufbau
- Lyrisch verschlüsselte Schicksale
- Auseinandersetzung geprägt vom Trauma
- In den Fesseln des Mythos
- VI Im Blickfeld neuer Herausforderungen
- Schwierige Konsolidierung
- Literatur als Protest
- Schriftsteller als Nestbeschmutzer
- Abschied von der Dorfidylle
- Literatur der weiblichen Sensibilität
- VII Die neue Lesbarkeit der Welt
- Auf den Umwegen der Postmoderne
- Vom exzessiven zum fließenden Erzählen
- Die Kunst der literarischen Reportage
- Die Sonderstellung der Migrantenliteratur
- Bibliographie
- Bilderregister
- Personenverzeichnis
- Reihenübersicht
Das vorliegende Buch könnte eigentlich Österreichische Literatur zwischen Moderne und Postmoderne, erzählt von einem ausländischen Literaturhistoriker heißen, wobei der Schwerpunkt dieser Vorformulierung auf den Schlüsselbegriff „erzählt“ gelegt werden soll. Mit dem Verb „erzählt“ wird gewissermaßen der subjektive Blickpunkt des Verfassers beim Beschreiben und Urteilen vorgezeichnet. Durch das Wort „Blickpunkt“ wird zudem der Standort des Autors bestimmt, der hiermit die Position eines neutralen Flaneurs durch die österreichische Bücherwelt einnimmt. Immerhin hat der Verfasser dieser Überlegungen ein halbes Jahrhundert lang als Universitätslehrer den Studierenden die österreichische Literatur vermittelt und in Seminaren über die Grundzüge dieser Literatur diskutiert. Zahlreiche Gespräche mit Studenten und Fachkollegen in Österreich haben erwiesen, dass man im sachbezogenen Meinungsaustausch über die österreichische Literatur so manche Unklarheit über den Gegenstand beseitigen kann, besonders in Fällen, wo die verfügbaren Instrumente der Literaturwissenschaft unzureichend sind, um die inneren Widersprüche des Gegenstands aufzuheben. Trotz der Versuche, methodologische Klarheit im Kommunikationssystem zu schaffen, blieben die Identitätsfrage und die daraus resultierende zeitliche und räumliche Konturlosigkeit der österreichischen Literatur weiterhin umstritten.
Da der Begriff österreichische Literatur, obwohl sie als Gegenstand existiert, sich den poetologischen Regeln entzieht und deshalb undefinierbar bleibt, ist es sinnvoll, den Forschungsbereich in Anlehnung an vorhandene literarhistorische Muster zu beschreiben. Um diese Aufgabe möglichst präzise zu realisieren, sollte man einen eigenen methodologischen Zugang entwickeln. Zu diesem Zweck hat der Autor ein kulturanthropologisches Konzept des österreichischen Kultur-Codes erarbeitet, das sich vor allem beim Konstruieren literarhistorischer Kontexte als hilfreich erwies. Der österreichische Kultur-Code liefert nämlich einen pragmatischen Interpretationszugang, mit dessen Hilfe man strittige Fragen umgehen kann, um sich ideologisch unvoreingenommen den literarhistorischen Inhalten zu widmen. Die semantisch tiefgreifende und für permanente Revisionen offene Geschichte des österreichischen Vielvölkerstaates schließt genetisch das Denken in nationalen Kategorien aus, die historisch gewachsene Multinationalität dieses Staates zwingt dessen Gesellschaften vielmehr zur Akzeptanz einer Vielfalt von Kulturtraditionen, die wiederum als Erweiterung der Erzählperspektive bei der Beschreibung des literarischen Gegenstands wirksam wird. Dabei ← 7 | 8 → zeigt sich, dass den österreichischen Narrationen häufig ein kulturpsychologisch fundiertes Misstrauen zugrunde liegt, welches vermutlich in der legendären Entscheidungsschwäche der Österreicher wurzelt. Ein weiteres Element des österreichischen Kultur-Codes ist die gelegentlich von der Literaturgeschichtsschreibung angemahnte Vorliebe der österreichischen Schriftsteller für die Mythisierung der dargestellten Welt, die letztendlich zu einer Idealisierung von geschilderten Ereignissen und Charaktereigenschaften literarischer Figuren führt. Zu erwähnen ist aber auch die Kehrseite dieser historisch bedingten Idealisierung, sie verwirklicht sich nämlich in der dekonstruktiven Strategie kritisch denkender Autoren, die dabei zu den Mitteln der Ironie, der skurrilen Groteske sowie zu narrativen und sprachlichen Experimenten greifen. Die aufgezählten Merkmale sind kulturgeschichtlich betrachtet ausreichende Argumente, um von einer spezifischen Komplexität der österreichischen Literatur zu sprechen. Wie eingangs bemerkt wurde, stellt der gewählte Erzählstandstandpunkt eine mögliche, aber keineswegs die einzige Perspektive dar, aus welcher der hier angerissene Zeitabschnitt der österreichischen Literaturgeschichte rekonstruiert werden kann.
Die weitgehend subjektive Perspektive erlaubt es dem Autor, die literarischen Fakten nach eigenen Kriterien in einem Bezugsrahmen zu verorten, was bereits im Inhaltsverzeichnis der vorliegenden Synthese zum Ausdruck kommt. Hierbei konnte festgestellt werden, dass in der österreichischen Literatur, im Unterschied zu anderen germanischen Literaturen, recht früh die Grenzen zwischen der Moderne und der Postmoderne verwischt wurden. In Österreich gab es schon um die Jahrhundertwende Vorreiter dieser Grenzüberschreitungen, zum poetologischen Prinzip wurden sie aber erst in den neugearteten Narrationen von Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti und Ödön von Horváth. Die charakteristischen Merkmale der postmodernen Literatur wie das Wertevakuum, der Zerfall des einheitlichen Weltbildes, die Destruktion der dargestellten Welt durch den zeitlich und räumlich gestörten Erzählvorgang, die Gefühlskälte der Figuren, schließlich die als Identitätsverlust des Autors verstandene Intertextualität, haben in den Werken der obengenannten Leitfiguren der österreichischen Moderne ihren Anfang genommen. Diese zeitlich auseinanderdriftende Parallele von ‚modern‘ und ‚postmodern‘ festzuhalten lag übrigens dem Konzept dieser Literaturgeschichte zugrunde, sie suggeriert nämlich, dass die österreichische Postmoderne ihre Wurzeln in der Moderne hat, die sie einerseits fortsetzt und andererseits vehement ablehnt. Mit dieser These sollte erneut ein grundlegender Komplex der gesamten österreichischen Literatur zur Debatte freigegeben werden. Im auf diese Weise entworfenen Erscheinungsbild der österreichischen Literatur vom Ausgang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ← 8 | 9 → wurden mit Bedacht die Prioritäten in der literarhistorischen Gliederung des Materials zugunsten der neuesten Tendenzen verschoben. Ziel war es, den Lesern mehr Information über die jüngsten Ausprägungen der österreichischen Literatur zu vermitteln.
Die literaturgeschichtlichen und -theoretischen Grundsatzüberlegungen werden dabei auf ein Mindestmaß reduziert, dafür wird dem steten Wandel der Hauptmotive der österreichischen Literatur mehr Platz eingeräumt. Den Mittelpunkt der hier dargelegten Überlegungen sollen unvoreingenommen dargestellte Fakten zu den Zeiten, den Menschen und den Büchern bilden.
Abschließend ist noch zu berichten, dass diesem literarhistorischen Konstrukt eine 2016 in polnischer Sprache veröffentlichte kleine Literaturgeschichte mit dem Titel Literatura austriacka od moderny do postmoderny vorangegangen ist, um den Erwartungen der deutschsprachigen Leser entgegenzukommen, wurde die hier angebotene Fassung wesentlich erweitert und mit weiterführenden Anmerkungen versehen.
Poznań, Dezember 2018
Stefan H. Kaszyński
I Die Identität des Nichtidentischen
Die Schwierigkeiten bei der Identitätsbestimmung der österreichischen Literatur haben ihren Ursprung in der komplizierten Geschichte Österreichs, einem Staat, dessen politische, wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit heutzutage niemand bestreitet. Dem war aber nicht immer so, das Selbstbewusstsein der modernen Österreicher hatte sich im Prozess einer langwierigen Emanzipation entwickelt, der stets von einer mentalen und kulturellen Unsicherheit begleitet wurde. Geht man den Spuren der historischen Dokumente nach, so tritt der Begriff Österreich erstmalig im Jahre 996 im Kontext der Markgrafschaft „Ostarrichi“ auf, einem politischen Gebilde ohne nationale Konnotationen. Aus der Geschichtsschreibung weiß man, dass auf den Gebieten des heutigen Österreichs zunächst die Kelten lebten, später bauten hier die Römer ihre Festungsanlagen und danach haben sich dort die Germanen angesiedelt. Im Jahre 1156 spricht man bereits von einem Herzogtum, das dann in das Erzherzogtum Österreich umgewandelt wurde. Nach der Wahl des Habsburgers Rudolf I. zum König von Deutschland und bald danach zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gehörte Österreich in verschiedenen ethnischen Konfigurationen bis 1806 dem Deutschen Reich an. Den Absichten Napoleons zur Auflösung des Deutschen Reiches zuvorkommend, ernannte sich 1804 Kaiser Franz II. aus dem Hause Habsburg zum souveränen Kaiser von Österreich und ging unter dem Namen Franz I. in die Weltgeschichte ein.
Seit dem 13. Jahrhundert war die Geschichte Österreichs eng mit dem Geschlecht der aus der Schweiz stammenden Habsburger verbunden. Im Jahre 1556 gelang es den Habsburgern, die Hauptstadt des Reiches nach Wien zu transferieren, wo sie dann bis zum Ende des ersten Weltkriegs residierten. Von Wien aus bauten sie Österreich zur politischen Großmacht aus, indem sie in ihrem Machtbereich mehrere mitteleuropäische Länder einverleibten. So gehörten zum Habsburgischen Reich u.a. Ungarn, Siebenbürgen, Kroatien, Böhmen, Mähren, aber auch Teile von Italien. Nach der Aufteilung Polens im 18. Jahrhundert kamen noch ostpolnische und ruthenische Gebiete, bekannt als Galizien, dazu. Abgesehen von der militärischen Abwehr der osmanischen Bedrohung aus dem Osten bauten die Habsburger ihren territorialen Machtbereich durch geschickte Heiratspolitik und diplomatische Friedenspolitik aus. Als Meisterstück der österreichischen Diplomatie galt im 18. Jahrhundert die konfliktlose Übernahme der Provinz Bukowina in die Monarchie. Deswegen sprach man im sonst durch Kriege heimgesuchten Europa mit Bewunderung vom glücklichen ← 11 | 12 → Österreich (Felix Austria).1 In Folge dieser Politik errichteten die Habsburger im Herzen Europas eine Großmacht, deren Einflüsse zeitweilig von Spanien über Italien bis in die Niederlande reichten, den Kern dieser politischen Struktur bildeten jedoch die habsburgischen Erbgebiete und die an Österreich gebundenen Länder Mitteleuropas.
Im Habsburgischen Herrschaftsbereich lebten in mehr oder weniger konfliktfreien Beziehungen verschiedene Völker nebeneinander, man verständigte sich in vielen Sprachen, praktizierte unterschiedliche Religionen, pflegte eigene Sitten und Kulturtraditionen. Einen beachtlichen Teil in dem bunten Völkergemisch stellten die Juden dar. Da sie zerstreut in vielen Regionen der Monarchie lebten, standen sie zwar unter dem Schutz des Kaisers, konnten aber keine eigene Provinz bilden und waren von den Privilegien, die den Völkern der Kronländer zustanden, ausgeschlossen. Im Zuge der politischen und administrativen Reformen, die im 18. Jahrhundert von Kaiser Joseph II. eingeleitet wurden, hatte man die gesamte Verwaltung der Monarchie modernisiert. Um das Reich regierungsfähig zu machen, führte man eine einheitliche Gesetzgebung ein, reformierte die Armee, die Polizei und das Schulwesen, reduzierte die Privilegien der katholischen Kirche, zentralisierte die Bürokratie und ordnete sie dem absolutistisch regierten Staatsapparat unter. Infolge der Josephinischen Reformen wurde die deutsche Kultur zur Leitkultur erklärt und die deutsche Sprache als Amtssprache im ganzen Habsburgerreich eingeführt. Die ersten Jahrzehnte nach der Verwaltungsreform waren hart für die Länder Mitteleuropas, man hatte deutsche Kolonisten als Beamte angesiedelt und die Bevölkerung durch das einheitliche Kommunikationssystem von Schule, Kirche, Militär und Amt zwangsweise germanisiert. Die absolutistischen, einem Polizeistaat ähnlichen Maßnahmen lösten eine allgemeine Unzufriedenheit in den Provinzen aus, die 1848 zum Aufstand gegen die Politik der Habsburger erst in Ungarn und dann fast in der ganzen Monarchie führte. Nur mit Hilfe der ausländischen Großmächte gelang es den Habsburgern den „Völkerfrühling“ in Österreich gewaltsam zu unterdrücken.
Details
- Seiten
- 206
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631761342
- ISBN (ePUB)
- 9783631761359
- ISBN (MOBI)
- 9783631761366
- ISBN (Hardcover)
- 9783631761335
- DOI
- 10.3726/b14372
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (August)
- Schlagworte
- Österreichische Literaturgeschichte Moderne und Postmoderne Österreichischer Kultur-Code Migrantenliteratur in Österreich
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 206 S., 12 s/w Abb.