Alles andere als unsichtbar / Tudo menos invisível
Theater, Literatur und Film der Iberoromania zwischen Kunst und Leben / Teatro, literatura e cinema no mundo ibero-românico entre vida e arte
Zusammenfassung
Este livro é uma homenagem ao lusitanista Henry Thorau por ocasião do seu 65° aniversário. Nele se reúnem análises originais de produções culturais de Angola, do Brasil, de Cabo Verde e Portugal, assim como da América Latina e da diáspora sefardita, abarcando áreas que vão do teatro e do cinema, à literatura, cultura e tradução. O presente livro mostra, pois, uma lusitanística viva e produtiva e que «é tudo menos invisível.»
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover / Cobertura
- Titel / Título
- Copyright
- Über das Buch / Sobre o livro
- Zitierfähigkeit des eBooks / Este eBook pode ser citado
- Inhaltsverzeichnis
- Tabula Gratulatoria
- Nosso caro amigo! – Gedanken zu Henry Thoraus ‚sichtbarem‘ Wirken (Kathrin Sartingen / Teresa Pinheiro)
- 1. Theater
- Giraffenleben, Wirtschaftskrise und Erwachsenwerden – Das Theaterwerk des Portugiesen Tiago Rodrigues (Sebastian Knoth / Conrad Schwarzrock)
- Unsichtbares im Theater: Das Leben als (Klar)Traum in Rafael Spregelburds Lúcido (Janett Reinstädler)
- Realität und Drama: Das Theater von Dionísio Neto (Christoph Müller)
- Spott, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: Abdulai Silas politische Komödie Dois tiros e uma gargalhada (Renate Heß)
- 2. Film
- Njinga, Rainha de Angola, de Sérgio Graciano (2013): distorção fílmica ou resgate histórico? (Doris Wieser)
- Ohne Rückfahrkarte unterwegs – Die Begegnung zwischen Brasilien und Portugal bei Walter Salles und Daniela Thomas, Luiz Ruffato und José Barahona (Ute Hermanns)
- Dokumentarische Praktiken und das postkoloniale Lissabon: Juventude em Marcha von Pedro Costa (Robert Stock)
- Subjektorientierte Diskursanalyse in Literatur und Film am Beispiel des Romans Memorial de Maria Moura von Rachel de Queiroz und seiner Verfilmung (Marita Rainsborough)
- 3. Literatur
- Zwischen Zentrum und Peripherie: Abdulai Sila (Guiné-Bissau) (Martin Neumann)
- Marginalidades literárias em Portugal (Tobias Brandenberger)
- Auto de exortação da (des)memória em Alabardas, alabardas, Espingardas, espingardas: o romance póstumo e inacabado de José Saramago (Ângela Maria Pereira Nunes)
- As Viríadas, ein portugiesisches Epos aus England (Dietrich Briesemeister)
- 4. Kultur
- Himmlische Klänge, irdischer Lärm: Kultursymbiose und Hybridität in Lateinamerika (Thomas Sträter)
- Zur Intertextualität und Intermedialität von Wissenschaft, Literatur und Musik in Brasilien – Von Josué de Castro, João Cabral de Melo Neto bis zu Chico Science und Fred Zero Quatro (Claudius Armbruster)
- Zwischen Zentrum und Peripherie: Zur Resonanz der antropofagia vom modernismo bis in die brasilianische Gegenwartskultur (Peter W. Schulze)
- Atlético, capital dum país que se chama Alcântara (Thomas Weißmann)
- 5. Übersetzung
- Leid, Freude und Überraschungen beim Übersetzen von José de Alencars Iracema. Legende aus Ceará (Ingrid Schwamborn)
- “Procuro chocar e estranhar o leitor” Grande Sertão: Veredas – o início em diversas traduções (Berthold Zilly)
- Entre Portugal e a Alemanha. A correspondência entre Trindade Coelho e Luise Ey (Maria de Fátima Brauer-Figueiredo)
- Vigoleis Thelen und Portugal (Helmut Siepmann)
- Verzeichnis der AutorInnen
Peter Altekrüger
Claudius Armbruster
Torsten Mario Augenstein
Joachim Born
Tobias Brandenberger
Dietrich Briesemeister
Lara Brück-Pamplona
Albert von Brunn
Fernando Clara
Wolf Dietrich
Steffen Dix
Cornelia Döll
Annette Endruschat
Klaus-Dieter Ertler
Maria de Fátima Brauer-Figueiredo
Júlia Garraio
Hans-Martin Gauger
Barbara Göbel
Sybille Große
Eva Gugenberger
Ute Hafner
Susanne Hartwig
Gerda Haßler
Yvonne Hendrich
Ute Hermanns
Renate Heß
Christine Hundt
Dieter Ingenschay
Thomas Johnen
Uta Klagge
Gerlinde Klatte
Sebastian Knoth
Hermann Krapoth
Manuela Krühler
Eulália Lopes
Christina Märzhäuser
Paulo de Medeiros
Benjamin Meisnitzer
Silvia Melo Pfeiffer
Aurelia Merlan
Christoph Müller
Martin Neumann
Ângela Nunes
Manuela Nunes
Christina Ossenkop
Carolin Overhoff Ferreira
Moema Parente Augel
Joaquim Peito
Alexandre Pereira Martins
Maria José Peres Herhuth
Teresa Pinheiro
Jürgen Pohle
Hubert Pöppel
Klaus Pörtl
Marita Rainsborough
Tinka Reichmann
Enrique Rodrigues-Moura
Kathrin Sartingen
Friedhelm Schmidt-Welle
Lydia Schmuck
Axel Schönberger
Peter W. Schulze
Ingrid Schwamborn
Conrad Schwarzrock
Rosa Maria Sequeira Piedade
Helmut Siepmann
Fernanda Silva-Brummel
Carsten Sinner
Henrick Stahr
Robert Stock
Thomas Sträter
Melanie P. Strasser ← 12 | 13 →
Alfonso de Toro
Marcel Vejmelka
Albert Wall
Karin Weise
Thomas Weißmann
Doris Wieser
Georg Wink
Susanne Zepp
Berthold Zilly
Gedanken zu Henry Thoraus ‚sichtbarem‘ Wirken
Meu caro amigo, me perdoe, por favor
Se eu não lhe faço uma visita
Mas como agora apareceu um portador
Mando notícias nessa fita
Chico Buarque1
Im Jahre 1976 erschien Chico Buarques Album Meus caros amigos. Das letzte Lied der B-Seite, „Meu caro amigo“, widmete Buarque seinem Freund, dem Dramatiker und Theaterregisseur Augusto Boal, der sich gerade im portugiesischen Exil befand. Das Lied inszeniert eine auf Kassette aufgenommene Botschaft, durch die Boal die letzten Neuigkeiten aus einem Brasilien unter der Militärdiktatur erhalten sollte. Das Motto inspirierte ebenfalls die Ausstellung Meus caros amigos, die vom 4. Juni bis 21. August 2016 im Instituto Moreira Salles in Rio de Janeiro als große Gesamtschau der Exil-Briefe an und von Augusto Boal zu sehen war.
Cover der Ausstellung Meus caros amigos, Instituto Moreira Salles, Rio de Janeiro 2016)2 ← 15 | 16 →
Meu caro amigo inspirierte nicht zuletzt uns, die Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes, diese Hommage an unseren Kollegen und Freund Henry Thorau so zu überschreiben: Nosso caro amigo!
Dass Augusto Boal mit seinem Teatro Invisível in Deutschland keinen weißen Fleck darstellt, verdanken wir gerade Henry Thorau, dem wir mit dieser Festschrift zu seinem 65. Geburtstag herzlich gratulieren. Noch heute ist Henry Thoraus 1981 an der Universität Hamburg eingereichte Dissertation Theater der Unterdrückten in Theorie und Praxis (1982 beim Schäuble Verlag erschienen) ein Referenzwerk für all diejenigen, die sich mit Augusto Boal und dem brasilianischen Theater befassen möchten. Mit seinem gut 30 Jahre später (!) beim Alexander Verlag erschienenen Buch Unsichtbares Theater (2013) zeigt Henry Thorau, wie unschätzbar und wegweisend ihm das Werk Augusto Boals, aber auch das Theater im Allgemeinen geblieben sind.
Denn: Mit Theater begann alles…. Nach einem Studium der Psychologie, Germanistik und Romanistik in Tübingen, Coimbra, Hamburg und Berlin absolvierte Henry Thorau eine Ausbildung in Psychodrama. Zwischen 1979 und 1980 war er Redakteur von Theater Heute und von 1981 bis 1983 Chefdramaturg an der Freien Volksbühne in Berlin. Neben den erwähnten theaterwissenschaftlichen Untersuchungen zu Augusto Boal machte Henry Thorau auch durch die Übersetzung von Theater der Unterdrückten (1979, mit Marina Spinu), Mit der Faust ins offene Messer (1981, mit Peter Urban) und Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler (1989, mit Marina Spinu) den brasilianischen Theaterautor in Deutschland bekannt.
Doch Henry Thoraus wissenschaftlichen Werdegang auf das Theater zu reduzieren, würde zu kurz greifen. Als Inhaber der Professur Carolina Michaëlis de Vasconcelos für Brasilianische und Portugiesische Kulturwissenschaft an der Universität Trier trug er von 1996 bis 2017 maßgeblich zur Dynamisierung und zum Bekanntwerden der lusophonen Kulturen und Literaturen in der deutschsprachigen Welt bei. Dies hat er in der akademischen Forschung und in der institutionellen Arbeit mit höchster Kompetenz und Verve getan – und tut es noch immer.
Seine Publikationen schlagen einen Bogen zwischen Literatur, Theater, Film und Übersetzung aus Brasilien, Portugal und dem lusophonen Afrika. Er ist Autor von wichtigen und im deutschen Sprachraum unabdingbaren Standardwerken wie dem Band Theaterstücke aus Brasilien (1996, mit Sábato Magaldi) oder dem 1997 rechtzeitig zum Portugal-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse erschienenen Buch Portugiesische Literatur. Mit einem seltenen Gespür für den passenden Augenblick dynamisiert Henry Thorau die lusitanistische Forschung mit aktuellen Themen, mit denen er dazu beiträgt, neueste theoretische Überlegungen für ← 16 | 17 → kritische Betrachtungen von Phänomen der lusophonen Welt zu nutzen, die entweder verschämt ignoriert oder im Gegenteil enkomiastisch-devot gelobt wurden. Mit Büchern wie Heimat in der Fremde (2007), Portugal und Spanien – Probleme (k)einer Beziehung (2005, mit Tobias Brandenberger), À procura da Lisboa africana (2009, mit Orlando Grossegesse), Corpo a Corpo (2011, mit Tobias Brandenberger) oder Die Nelkenrevolution und ihre Folgen (2015, mit Janett Reinstädler) trug Henry Thorau dazu bei, Themen wie Migration, Gender Studies oder Postcolonial Studies in die deutschsprachige Lusitanistik einzubringen und diese damit zugleich auch um kultur- und medienwissenschaftliche Herangehensweisen zu öffnen.
Unermüdlich hat sich Henry Thorau an der Rezeption der portugiesischen und brasilianischen Literatur in Deutschland beteiligt, hat dabei vor allem selbst auch viel übersetzt, besonders brasilianisches Theater (hier vor allem die Theaterstücke von Nelson Rodrigues, der dadurch im deutschsprachigen Raum überhaupt erst bekannt wurde, und natürlich die Stücke von Augusto Boal), und sich als wahrer Vermittler der Kulturen – der deutschsprachigen und der portugiesischsprachigen – hervorgetan. Wenn das Genie eines Schriftstellers an der Zahl seiner Übersetzungen, das Talent einer Sängerin am Applaus im Ausland gemessen wird, so können wir hinzufügen: Henry Thorau können wir am Engagement seiner vielfältigen und zahlreichen kleinen und großen Auftritte auf der Bühne der deutschen Lusitanistik messen.
Eine Würdigung von Henry Thoraus bisherigem Beitrag zur Lusitanistik wäre unvollständig, würde sie nicht seine institutionelle Arbeit berücksichtigen. Bereits zwischen 1997 und 1999 war er Vizepräsident des 3. DLV-Vorstands. Noch heute erinnert er sich immer wieder mit großer Sehnsucht an diese Zeit, in der der Vorstand des DLV einer UNO-Generalversammlung ähnelte: bestehend nicht nur aus einem Präsidenten, zwei Vize-Präsidenten, einem Schriftführer und einem Kassenwart, sondern auch aus Referenten für interkulturelle Beziehungen, Referenten für Volkshochschulen, für Universitäten, für Galicien, für Österreich und für die deutschsprachige Schweiz – zusammengenommen 16 Personen! Bei insgesamt 45 Anfangs-Mitgliedern….
In den zwei darauffolgenden Amtszeiten war Henry Thorau durchgängig Präsident des DLV – insgesamt von 1999 bis 2003. Es waren schwierige Zeiten für die Lusitanistik in Deutschland. Aber Henry Thorau lenkte gekonnt das lusitanische Schiff durch den Sturm wie einst das Seefahrervolk am cabo das tormentas, mit Fassung trat er mit seiner Besatzung – einem Vasco da Gama gleich – den Hochschulreformen entgegen und brachte die Lusitanistik wieder in ruhigere Fahrwasser. Zwischen 2009 und 2013 engagierte sich Henry Thorau erneut als ← 17 | 18 → Präsident im Vorstand der Lusitanisten – und das hat er, wie wir es von ihm nicht anders kennen, mit Kompetenz, Leidenschaft und Humor gemacht.
Henry Thorau war der einzige, der mit der Professur Carolina Michaëlis in Trier innerhalb der deutschsprachigen Romanistik eine rein lusitanistische Professur bekleidete. Hier hat er 1997 das Portugalzentrum gegründet und gleich zwei Jahre danach den 3. Lusitanistentag ausgerichtet. Hinzu kamen richtungweisende Veranstaltungen zur brasilianischen Literatur, Musik, und vor allem zum Theater, zahlreiche Gastprofessuren oder -vorträge in Portugal und Brasilien, unzählige Kooperationen. Auch als unaufhaltsamer Networker für die Lusitanistik hat Henry Thorau Vieles bewegt. Erinnert sei nur an die umfangreiche Datenerhebung zum Bestand lusitanistischer Studien an deutschen Hochschulen, die uns erstmalig einen Überblick über unsere gesammelten Studienmöglichkeiten und -orte geboten hat.
Als eines der dienstältesten Mitglieder war und ist er das Gesicht, die Geschichte des DLV. Kein Ereignis, kein Detail, kein Datum entgeht seinem ungeheuren Gedächtniskasten. Unvergessen bleiben uns seine vielen pointierten Reden, in denen er detaillierteste, datumsgenaueste Schilderungen aus den bewegten Dimensionen der Verbandsgeschichte verkündete, Anekdoten wiedergab, Geburts- oder Todestage treffsicher aus seiner Erinnerung hervorholte, wortgewandte Hommages auf alle zu feiernden portugiesischsprachigen Autorinnen und Autoren verfasste; all dies mit viel Begeisterung und Herzblut für die Lusitanistik und den Deutschen Lusitanistenverband.
Wir sehen also, auch wenn Henry Thorau viel zum Teatro Invisível gearbeitet hat, so war sein Beitrag zur deutschsprachigen Lusitanistik alles andere als unsichtbar.
*
Lieber Henry, nosso caro amigo! Wir können nicht singen – aber schreiben! Deshalb nutzen wir nicht wie einst Chico Buarque einen Tonband, um dir unsere herzlichsten Glückwünsche zu übermitteln, sondern diesen Sammelband. An dieser Festschrift haben zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus Brasilien, Portugal, Deutschland und Österreich mitgewirkt: Weggefährten aus den Entstehungszeiten der Lusitanistik in Deutschland ebenso wie junge und vielversprechende Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Und sie haben originelle und spannende Beiträge zu Papier gebracht, die sich in ihrer Gesamtheit wie ein Spiegel deines Wirkens lesen: Insgesamt sind in diesem Band innovative Artikel zu angolanischen, brasilianischen, kapverdischen, lateinamerikanischen, portugiesischen ← 18 | 19 → und sephardischen Produktionen aus den Bereichen Theater, Film, Literatur, Kultur und Übersetzung versammelt. Dies zeigt uns zugleich auch eine deutschsprachige Lusitanistik, die lebendig und produktiv ist. Wir sind sicher, dass dein Beitrag hierfür kein geringer war.
Caro amigo, obrigada por tudo e… volte sempre!
Kathrin Sartingen/Teresa Pinheiro
Wien/Chemnitz, im April 2017
1 Buarque, Chico: „Meu caro amigo”. In: Buarque, Chico: Meus caros amigos. CD, Universal Music, Neuauflage von Novodisc: São Paulo 2012 [1976].
2 Foto Antonio d’Ávila, Instituto Augusto Boal 1979.
Giraffenleben, Wirtschaftskrise und Erwachsenwerden – Das Theaterwerk des Portugiesen Tiago Rodrigues1
Volte já…
na velha frescura, caro Henry
1. Tiago Rodrigues – vom Theaternomaden zum Direktor des Teatro Nacional Dona Maria II
Der künstlerische Werdegang Tiago Rodrigues’ (*1977) von der Schauspielschule in Amadora bei Lissabon über seine kollektiv geführte Theaterstruktur Mundo Perfeito bis hin zur Berufung zum bisher jüngsten Direktor des Teatro Nacional Dona Maria II ist alles andere als linear und sieht zunächst nicht vielversprechend aus. 21-jährig bricht Rodrigues die Schauspielschule aufgrund schlechter Noten und auf Anraten seiner Dozenten ab, um sich daraufhin 1998 der Gruppe STAN in Brüssel anzuschließen. Hatte er in seiner Schauspielausbildung noch darunter gelitten, nicht den Erwartungen einer formalen Ausbildung gerecht zu werden, definiert er hier seine Rolle als Schauspieler neu:
[T]ive uma espécie de revelação de um teatro muito diferente daquele mais convencional para o qual estava a ser treinado no Conservatório e que ia ao encontro da liberdade que procurava em palco e de uma ideia de actor que não tinha de ser um ser amestrado obrigado a fazer sempre igual, mas sim uma criatura da criatividade e da imaginação.2
Die unabhängige Theatergruppe STAN aus Brüssel definiert sich durch die Autonomie des Schauspielers gegenüber seinem Regisseur, dessen Rolle in die ← 23 | 24 → Schauspieler selbst verlegt wird. Sowohl in den Proben als auch in den Aufführungen wird zudem auf Konsens in der Ausgestaltung der Rollen verzichtet.3 Im Interview mit der portugiesischen Theaterzeitschrift Sinais de Cena gibt Rodrigues Auskunft über seine Arbeit mit STAN:
[E]ntão, quando encontrei […] a prática dos STAN, que é uma prática libertária, semi-anarquista, de forte compromisso com a liberdade e com a responsabilidade do actor, com autonomia do actor em palco, encontrei a prática que me libertava e me fazia estar em paz com todos os inimigos.4
Der Schauspieler wird konsequenterweise zum actor-criador, zum Schauspieler, der zugleich kreativ für die Entstehung des Stücks, von der Szene über den Text bis hin zur Inszenierung, verantwortlich ist. Hier lernt Rodrigues Theater als kooperatives Arbeiten und Erarbeiten von Stücken kennen – ein grundlegendes Prinzip, das fortan alle seine künstlerischen Arbeiten trägt.5
Vor seiner Zeit bei STAN arbeitete Rodrigues in Lissabon mit Jorge Silva Melo und der Gruppe Artistas Unidos an Stücken wie Sem Deus nem Chefe zusammen, in denen die Theaterpraxis schon die Eliminierung der Rolle des Regisseurs vorzeichnet und auch hier Schauspieler die Leitung übernehmen6 – auch wenn Jorge Silva Melo in der Rolle als Tutor letztendlich bestehen bleibt. ← 24 | 25 →
1.1 Mundo Perfeito – ein Unternehmen ohne festen Sitz
Im Jahr 2003 wagt Rodrigues die Gründung einer eigenen Theatergruppe. Dabei handelt es sich weniger um eine der vielen companhias de teatro, sondern eher um eine Produktionsstruktur, in deren Zentrum Rodrigues als Schauspieler, Regisseur und Dramatiker steht, unterstützt von seiner Frau Magda Bizarro.7 Dieses Tandem wird über das kollektive Element ergänzt, wie Rui Catalão erklärt:
[É] o trabalho de mobilização, em que são convidados artistas para experiências de trabalho colectivo. Há um pequeno grupo de actores que em dez anos se tornaram recorrentes no percurso do Mundo Perfeito.8
Die Bezeichnung Produktionsstruktur soll eine Theaterorganisation beschreiben, in der der Schauspieler weitgehend autonom handelt. Von der Planung bis zur Durchführung einer Aufführung ist der beziehungsweise sind die Schauspieler eigenverantwortlich, weshalb das Gelingen einer jeden Unternehmung von jedem einzelnen abhängt. Hierarchien wie in konventionellen Theatergruppen sind weitestgehend aufgelöst. Auch wenn Rodrigues in Mundo Perfeito die ersten Impulse und Textideen für ein Stück vorbringt, werden diese von den Schauspielern diskutiert und in einem offenen Schreibprozess weiterentwickelt. Rodrigues sagt zu dieser Arbeitsweise:
Houve trabalhos em que senti a necessidade de apresentar soluções, mas nunca precisei de trair a ideia de trabalhar em conjunto. Nem preciso saber porquê quando alguém me diz ‘esta frase não’. A frase vai à vida e rescreve-se logo. Democracia para mim significa que tens a última palavra sobre ti próprio.9
Bezeichnenderweise werden auch alle anderen am Arbeitsprozess beteiligten Personen beziehungsweise Funktionen von Rodrigues als gleichbedeutend aufgewertet, wie zum Beispiel die des Produzenten:
[O] ‘produtor’ é visto muitas vezes de forma muito estreita. Mas eu gosto muito dessa palavra, entendida no sentido de alguém que interfere criativamente, que está na origem da produção: arruma as cadeiras e telefona, mas também discute o texto. A minha escola foi essa: a do trabalho colectivo, onde todas as funções têm uma valência artística.10
Im Vergleich zu anderen Theatergruppen verfügt Mundo Perfeito nicht über eigene Räumlichkeiten – Workshops, Schreiblaboratorien und Arbeitstreffen finden in dazu angemieteten Gebäuden statt; etwa im Kloster Saudação, Sitz von O Espaço ← 25 | 26 → do Tempo – einem multidisziplinären Zentrum für künstlerisches Schaffen – im Alentejo, bei dem mehrere Theatergruppen zugegen sind. Rui Catalão, ebenfalls Theaterschaffender aus Portugal, berichtet von einem dieser Treffen und sagt in Bezug auf Mundo Perfeito:
[F]iquei entontecido pela capacidade daquela gente para se organizar e conviver e trabalhar e divertir-se e produzir colectivamente uma quantidade aflitivamente grande de trabalho em apenas duas semanas, arrastando no seu entusiasmo a comunidade local e espremendo até ao caroço da exaustão os recursos e meios disponíveis sem exibir a mais pequena gota de cansaço.11
Neben dieser bemerkenswerten Produktivität – insgesamt fast 30 Stücke (im Zeitraum 2003–2013)12 – arbeitet Mundo Perfeito regelmäßig im Ausland, in bisher mehr als 20 Ländern. Rodrigues definiert diese Arbeitspraxis von Mundo Perfeito außerhalb der heimischen Gefilde als Teil der artistischen Ausrichtung der Gruppe und nicht als eine Überlebensstrategie seiner Gruppe:
O nomadismo é completamente assumido […]. Ensaiamos nos espaços dos teatros ou de estruturas que nos apoiam. Somos uma companhia de computadores portáteis, não queremos nenhum computador fixo.13
1.2 Tiago Rodrigues als Direktor des Teatro Nacional Dona Maria II
Im Oktober 2014 wird Rodrigues vom Staatssekretariat für Kultur während der konservativen Regierungszeit von Pedro Passos Coelho zum neuen künstlerischen Leiter des TNDM II ernannt: Rodrigues ist zu diesem Zeitpunkt mit 38 Jahren der jüngste Direktor der seit 1846 bestehenden Institution, und das, ohne je selbst ein ← 26 | 27 → Theater geführt zu haben. Unter diesen Umständen scheint die Nominierung eine Bestätigung der Arbeiten des Kollektivs Mundo Perfeito zu sein.
Seine Sicht auf das nomadenhafte Theaterschaffen ist allerdings ambivalent. Projekte im Ausland zu unternehmen, solle, so Rodrigues, eine bewusste, strategische, ästhetisch und politisch begründete Wahl sein, nicht zwingend eine finanzielle Notwendigkeit.14 Gleichzeitig fordert er für alle unabhängigen Gruppen in Portugal eine bedeutende Aufstockung der finanziellen Mittel, damit diese ihrer Arbeit nachgehen können. Die Bedeutung dieser kleinen Gruppen für das zeitgenössische portugiesische Theater sei fundamental, auch für die Nationaltheater:
[As] companhias independentes […] são o território mais fértil do teatro português, são as companhias, os actores independentes que fazem a história do teatro português, que permitem também às grandes instituições ter espetáculos e trabalhos para apresentar, porque nenhum dos teatros nacionais ou municipais consegue ser uma casa de criação em exclusivo que apenas faz teatro de produção própria, nessa noção, muito alemã do ‘Staatstheater’.15
Für die Arbeit als Direktor des TNDM II in Lissabon hat Rodrigues eine Mission: Er will ein Theater anbieten, das Fragen aufwirft und Probleme aufzeigt, und weniger eines, das Lösungen anbietet.16 Rodrigues bekräftigt bereits zu Beginn seines Mandats am Nationaltheater, dieses zum Theater aller Portugiesen machen zu wollen; als Begegnungsort in Lissabon, aber auch als Theater, das seinen Auftrag in Aufführungen an Orten peripherer Regionen sieht:
Essa é uma das nossas prioridades no TNDM II, a de dizer que para o teatro não há uma centralidade, há muitos centros, e o país tem felizmente muitos teatros. […] Em alguns teatros o que detetamos foi que havia uma grande vontade de fazer um trabalho artístico e cultural nas suas comunidades, mas que havia falta de meios. Portanto, uma instituição como o TNDM II que deve fazer serviço público de teatro, poderia fazer a diferença nesses lugares, porque não havendo meios, o TNDM II seria ali um interlocutor, um trabalho, uma semente já plantada.17
Im Rahmen des Projekts Rede Eunice18 finden ständige Gastspiele des TNDM II in kleinen Stadttheatern auf dem Festland und den Inseln Portugals statt. Rodrigues ← 27 | 28 → folgt dabei einem Gedanken Almeida Garretts (1799–1854), dem Gründer des Nationaltheaters in Lissabon:
Ele [Almeida Garrett] dizia, é preciso oferecer, oferecer, oferecer, oferecer, até haver procura, e, portanto, é preciso continuar a apostar em apresentar teatro de qualidade onde ele [teatro] não é apresentado com regularidade e apresentá-lo até que seja uma necessidade, uma exigência daquela comunidade.19
Ebenso auf internationaler Ebene präsentiert sich das TNDM II in regelmäßigen Abständen und hat nach Aussage Rodrigues’20 bereits jetzt schon mehr Auftritte im Ausland absolviert als in allen anderen Mandaten vor seiner Leitung zusammengenommen.
Details
- Seiten
- 448
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783631726204
- ISBN (ePUB)
- 9783631726211
- ISBN (MOBI)
- 9783631726228
- ISBN (Hardcover)
- 9783631726198
- DOI
- 10.3726/b11331
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (Juli)
- Schlagworte
- Portugiesische und Brasilianische Kultur- und Landeskunde Theatergeschichte – Spanien und Portugal Literarische Übersetzung Filmwissenschaft Festschriften Portugiesische und Brasilianische Literatur
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 448 S., 2 Abb., 5 Tab.