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Friedrich Wieck – Gesammelte Schriften über Musik und Musiker

Aufsätze und Aphorismen über Geschmack, Lebenswelt, Virtuosität, Musikerziehung und Stimmbildung, mit Kommentaren und mit einer historischen Einführung

von Tomi Mäkelä (Band-Herausgeber:in) Christoph Kammertöns (Band-Herausgeber:in) Lena Esther Ptasczynski (Band-Herausgeber:in)
©2019 Monographie 390 Seiten

Zusammenfassung

Wie gelingt der Tagesablauf eines Kindes so, dass es sowohl für die schulische Ausbildung als auch für die Musik genügend Zeit hat? Welche Säle eignen sich für Konzerte am besten – und warum? Wie sieht Musikdidaktik in der Praxis aus? Für dies und vieles mehr – etwa für das Verhältnis von Begabung und pädagogischem Einfluss – zeigte Friedrich Wieck (1785–1873) leidenschaftliches Interesse. Der Vater und einzige Lehrer Clara Schumanns wirkt mit seinem künstlerischen und pädagogischen Sendungsbewusstsein ansteckend. In einem einführenden Essay und in zahlreichen ausführlichen Anmerkungen wird Wieck als eine mannigfaltig interessierte, lesefreudige und fachübergreifend denkende Persönlichkeit portraitiert. Erstmalig finden sich auch schwer zugängliche Schriften Wiecks berücksichtigt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Editorische Vorbemerkung
  • »Den Lebenden schulden wir Rücksichtnahme, den Toten nur die Wahrheit.« Eine Einführung in Friedrich Wiecks Welt der »philisterhaften Mittelmäßigkeit« und »besseren Salonmusik« von Tomi Mäkelä
  • Erster Teil Aufsätze, Kritiken und Aphorismen
  • I. »Là ci darem la mano« varié pour le pianoforte, avec accompagnement d’Orchestre, par Frédéric Chopin.
  • II. Musikalisches.
  • III. Beiträge zum Studium des Pianofortespiels.
  • IV. Anonymisierte Kompositionskritiken aus der Neuen Leipziger Zeitschrift für Musik von 1834.
  • V. Musikalisches Geschwornen-Gericht. Zweite Sitzung.
  • VI. »Briefe« und »Signale« aus den Signalen für die musikalische Welt von 1844.
  • VII. Hauptprüfungen im Conservatorium der Musik zu Leipzig.
  • VIII. »Briefe« und »Signale« aus den Signalen für die musikalische Welt von 1845.
  • IX. Offener Brief. Dem singenden und componirenden Deutschland zur Beherzigung.
  • X. Signale aus Wien.
  • XI. Grobe Briefe. VII. Fräulein Würst in Leipzig.
  • XII. Grobe Briefe. VIII. Frau Günther-Bachmann. – Fräulein Caroline Mayer in Leipzig.
  • XIII. Ein rätselhafter Anhang über Rosa Agthe in Leipzig zum Groben Brief. IX.
  • XIV. Die 32 Variationen von Beethoven. Eine Vorlesung von Friedrich Wieck.
  • XV. Carl Maria von Weber. Eine Erinnerung von Fr. Wieck.
  • XVI. Musikalisches.
  • XVII. Eine Stimme in der Wüste.
  • XVIII. Aphorismen aus Friedrich Wiecks »Tagebuch«.
  • Zweiter Teil Clavier und Gesang. Didaktisches und Polemisches
  • Vorwort.
  • Kapitel 1. Ueber Elementarunterricht im Clavierspiel.
  • Kapitel 2. Abendunterhaltung und Speisung bei Herrn Zach.
  • Kapitel 3. Besuch bei Frau N.
  • Kapitel 4. Geheimnisse.
  • Kapitel 5. Opernwirtschaft.
  • Kapitel 6. Ueber’s Pedal.
  • Kapitel 7. Verschiebungsgefühl.
  • Kapitel 8. Viel Clavierlernende und keine Spieler.
  • Kapitel 9. Gesang und Gesangslehrer.
  • Kapitel 10. Rhapsodisches über Gesang.
  • Kapitel 11. Hans Eilig.
  • Kapitel 12. Aphorismen über Clavierspiel.
  • Kapitel 13. Wunderdoctor.
  • Kapitel 14. Frau Grund und vier Lectionen.
  • Kapitel 15. Gesangs- und Clavierunfug.
  • Kapitel 16. Die Kunst ist nur immer durch die Künstler gefallen.
  • Kapitel 17. Vermischtes.
  • Kapitel 18. Ueber Pianoforte.
  • Kapitel 19. Schluss.
  • Dritter Teil Dokumente der zeitgenössischen Rezeption
  • I. Anonym im Rahmen des »Wochenberichts« unter der Redaktion von Gustav Freytag und Julian Schmidt in der Zeitschrift Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst.
  • II. Anonyme Besprechung unter »Vermischtes« in der Neuen Zeitschrift für Musik (Redaktion Franz Brendel).
  • III. Besprechung von »Ker.«, alias Louis Köhler, in den Signalen für die musikalische Welt.
  • IV. Anonyme Erwähnung unter der Rubrik »Leipziger Briefe. III.« in der Rheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler.
  • V. Carl Maria von Weber an Friedrich Wieck am 13. August 1815.
  • Personenregister

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Editorische Vorbemerkung

Die in diesem Band veröffentlichten Essays und kurzen Abhandlungen bilden einen Fundus an rhapsodisch formulierten Gedanken, die je nach Lesehaltung unterschiedlich und beim wiederholten Lesen immer wieder anders wirken. Mal begeistern an einer einzelnen Passage Beobachtungen zu berühmten Zeitgenossen, mal sind es Wortspiele, mal die historische Sicht des Autors Friedrich Wieck (1785–1873) auf bedeutende Kunstwerke und gesellschaftliche Ereignisse.

Durch die vielen geistreichen und zugleich praktischen Anregungen erhalten die gesammelten Schriften von Wieck fortdauernde Existenzberechtigung. In den allermeisten Fällen hat sich ihre Gültigkeit in den über hundertfünfzig Jahren, die seit dem ursprünglichen Erscheinen vergangen sind, tatsächlich überhaupt nicht gemindert, denn nach den gravierenden musik- und kulturhistorischen Veränderungen in der ersten Hälfte des vorvergangenen Jahrhunderts ist im bürgerlichen Musikleben Grundlegendes unverändert geblieben. Auch das gängige Repertoire hat sich nicht radikal geändert. Deshalb sind die Fragen, die der Autor der hier veröffentlichten Schriften stellt, heute gleichermaßen aktuell wie damals: Wie ist die Kunst des schönen Instrumentalspiels (am Klavier und darüber hinaus) und Gesangs möglichst geradlinig zu erlernen, ohne den »guten Geschmack« zu verletzen, und wie ist ein differenziertes Hörvermögen auszubilden? Wie können Eltern, Lehrerinnen oder Lehrer einer Musikschülerin oder eines Musikschülers die allmähliche Entdeckung der Geheimnisse der Kunst unterstützen und angeborene Anlagen kultivieren? Warum waren Frédéric Chopin, Felix Mendelssohn Bartholdy und der Schwiegersohn des Autors, Robert Schumann, große Meister ihres Faches? Was macht Ludwig van Beethovens und Richard Wagners Werke problematisch? Welche Art von Sälen eignet sich für verschiedene Typen von Aufführungen am besten – und warum? Wie lässt sich der Tagesablauf eines Kindes so gestalten, dass es sowohl für die wissenschaftliche und schulische Ausbildung als auch für die Musik genug Zeit hat – zumal für jeden Menschen sportliche und auch soziale Freizeitaktivitäten nicht nur interessant, sondern auch notwendig sind? Für dies und vieles mehr – etwa dafür, wie wichtig genau Begabung im Vergleich zur guten Pädagogik ist und ob sich der Mensch in einer sukzessiven Stufenfolge oder kontinuierlich entwickelt – zeigte Wieck leidenschaftliches Interesse. Sein Pathos wirkt ansteckend.

Friedrich Wiecks Schriften, die wir mit Ausnahme der Musikalischen Bauernsprüche (1871/75) sowie einiger unveröffentlichter Texte mit ausführlichen Kommentaren veröffentlichen, enthalten außerdem Einblicke in den künstlerisch und gesellschaftlich ereignisreichen Alltag des neunzehnten Jahrhunderts. Besonders viel lernen wir über das Geschehen in Leipzig und Dresden. ← 11 | 12 → Wieck ist ein ungewöhnlicher Zeitzeuge, der uns ohne die Pflichten eines herkömmlichen Chronisten und mit einer emphatisch vorgetragenen persönlichen Agenda erzählt, wie es aus seiner Sicht ›wirklich gewesen ist‹, und uns an Szenen aus seinem Alltag, von Musik aller Art beseelt, teilnehmen lässt. Das Bild, das sich vor unseren Augen beim Lesen entfaltet, ist vielfältig mit dem damaligen Zeitgeschehen verwoben und dabei gestochen scharf.

In einem einführenden Essay und in zahlreichen Anmerkungen wird Wieck als eine sozial aufstrebende, mannigfaltig interessierte, lesefreudige und fachübergreifend denkende Persönlichkeit portraitiert. Sowohl er als auch wir bringen weitaus mehr als Musikalisches zur Sprache, obgleich Wiecks musikalische Notizen den Nimbus berufsbedingter Spezialkenntnisse haben. Da Wieck multiprofessionell aktiv war – auch als Klavierhändler und Konzertveranstalter – breitet sich sein Blickwinkel weit über ästhetisch-pädagogische Belange hinaus aus, die indes seine Kernkompetenz bilden. Unsere Anmerkungen sind mehr als nur gewöhnliche Fußnoten – vielmehr sind sie an Ort und Stelle wie zusätzliche ›Fenster‹ in einer Präsentation zu verstehen.

Die meisten Essays von Wieck erschienen zunächst in Zeitschriften. Die Rechtschreibung der jetzt vorliegenden Ausgabe – bis hin zu Interpunktion, Abkürzungen, Leerzeichensetzung usw. – variiert der jeweiligen Erstveröffentlichung entsprechend. Eine einheitliche Sprach- und Schriftpraxis gab es zu Wiecks Lebzeiten noch nicht; Konrad Dudens Die deutsche Rechtschreibung erschien 1872, der sogenannte Urduden erst 1880.

Auf die ursprüngliche Frakturschrift einzelner Texte mussten wir aus drucktechnischen Gründen verzichten, desgleichen auf die originalgetreu kaum nachzubildende variable Setzung von Binde- und Gedankenstrichen. Viele Elemente der verschiedenen historischen Layouts konnten wir nicht übernehmen, nur für einige Besonderheiten der ausdrucksvollen Setzkunst des 19. Jahrhunderts (zum Beispiel abweichende Buchstabengrößen und irreguläre Einrückungen) wurde eine angemessene Umsetzung gefunden. Druckfehler und sonstige Lapsus, stets im Kontext der jeweils geltenden Rechtschreibung gesehen, merken wir als solche an. Heute unübliche Grammatik und Zeichensetzung kennzeichnen und korrigieren wir nach Augenmaß in eckigen Klammern und nur dann, wenn wir dadurch einen wesentlichen Vorteil der Verständigung erwarten. Missverständliches und aus heutiger Sicht Ungewöhnliches oder gar Verstörendes wird erklärend eingeordnet. Dabei setzen wir keine spezielle Art von Allgemeinbildung oder Fachwissen der Leserinnen und Leser voraus.

Am bekanntesten unter Wiecks Veröffentlichungen ist Clavier und Gesang – eine ›didaktische und polemische‹ Aufsatzsammlung, die wir in der Fassung der Erstausgabe von 1853 wiedergeben, aber mit der dritten, von Marie Wieck initiierten und in deutscher Frakturtypografie gesetzten Ausgabe von 1878 (Klavier und Gesang) Wort für Wort vergleichen. In der Erstausgabe ← 12 | 13 → begegnet uns u. a. die elegante, ans Lateinische angelehnte Schreibung von Wörtern wie Clavier, classisch etc. Deren Umwandlung in die Schreibweise mit ›k‹ und ähnliche Fälle reiner Rechtschreibgepflogenheiten haben wir vergleichend nicht eigens angemerkt.

Was die (wenigen) anonymen Beiträge von Wieck betrifft, orientiert sich unsere Auswahl nach der von Cathleen Köckritz in ihrer Dissertation Friedrich Wieck. Studien zur Biographie und zur Klavierpädagogik (2007) vorgelegten Zusammenstellung. Da die Autorenkürzel seiner Zeit leider nur in Ausnahmefällen als entziffert gelten, ist es möglich, dass Wieck der Autor von weiteren anonymen Rezensionen und Kurzberichten ist. Um die Qualitätsmerkmale einer wissenschaftlich-kritischen Edition zu erfüllen, erklären wir die Unterschiede zwischen verschieden Versionen der einzelnen Essays, ohne allerdings der Idee eines Urtextes nachzueifern. Vier kontroverse Rezensionen von Clavier und Gesang und ein Brief von Carl Maria von Weber an Wieck runden den Band ab.

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»Den Lebenden schulden wir Rücksichtnahme, den Toten nur die Wahrheit.«

Eine Einführung in Friedrich Wiecks Welt der »philisterhaften Mittelmäßigkeit« und »besseren Salonmusik«

von Tomi Mäkelä

Bewegtes Bild im Zwielicht

Mit einer trivial verzerrenden Maske der Fiktion hatte Friedrich Wieck in leinwandgerechten Nacherzählungen der deutschen Kulturgeschichte einige bemerkenswerte Auftritte. Etwas in Vergessenheit geraten ist Harald Brauns, Herbert Witts und Fritz Thierys Film Träumerei von 1944 mit dem »Gottbegnadeten« Friedrich Kayßler als Friedrich Wieck und Hilde Krahl als Clara – ein aufwendig produziertes Projekt, aus der Sicht der Reichsführung jedoch »pflaumenweiches Zeug«, unangemessen in schicksalhaften Zeiten.1 Vor dem Ende des Krieges wurde Träumerei in Deutschland, in der Schweiz sowie in Portugal und Finnland mit großem Erfolg vorgeführt, geriet aber anschließend in den Schatten der Filmgeschichte.

In relativ frischer Erinnerung dürften viele Cineasten Peter Schamonis »halbdokumentarische« Frühlingssinfonie (1983) mit Rolf Hoppe als Friedrich Wieck haben. Neben der an Prominenz kaum zu übertreffenden Besetzung – Nastassja Kinski spielt Clara Wieck, Herbert Grönemeyer Robert Schumann und Gidon Kremer Niccolò Paganini – prägen Originalschauplätze in Sachsen diesen Film, dessen Regie mit dem Bayerischen Filmpreis geehrt wurde. Beide Filme belegen, in welchem Maße einseitig und wie sehr in Schumanns Schatten sich die Öffentlichkeit ein Bild von Friedrich Wieck hat machen müssen.

Dass Friedrich Wieck in einem Dokument für das gesamtdeutsche Kulturschaffen aus der Zeit der Spaltung überhaupt eine Rolle einnimmt, ist natürlich auch erfreulich. Das Wieck-Bild des Regisseurs und des Drehbuchautors veranschaulicht aber, wie dringend notwendig Aufklärung und eine sorgfältigere, differenzierte Beschäftigung mit dem alten Meister auch in unserer Gegenwart noch immer sind. In der Frühlingssinfonie wird Wieck nicht etwa als der faszinierende Meister Raro, der älteste Davidsbündler – ›der Außergewöhnliche‹ – vorgestellt, sondern als garstig-gieriger Vater, der das ← 15 | 16 → Liebesglück des ideal-romantischen Paares Clara und Robert2 vernichten und sich auf Kosten seiner Kinder, Schülerinnen und Schüler profilieren will. Die Beziehung zu seiner Tochter Clara wird zugunsten eines literarisch-theatralischen Effektes im besonderen Maße reißerisch behandelt.3

Nach 1983 ist das populäre Wieck-Bild durch die Clara Schumann-Forschung – von Nancy B. Reich bis Janina Klassen – in Bewegung gekommen.4 Durch die gezielte Auseinandersetzung mit Wiecks Schriften und seinem Umfeld, das nur teilweise mit dem Claras und Roberts übereinstimmt, wird das Bild klarer. Auf dem Weg zum Ziel, zum fairen und differenzierten Wieck-Bild, sind allerdings noch einige Hürden zu nehmen. Wieck selbst muss zu Wort ← 16 | 17 → kommen und ausreden dürfen. Seine Schriften sind zwar zugänglich (sogar in digitalisierter Form im Internet), aber seine Art zu schreiben fordert den heutigen Leser unverhältnismäßig heraus. Wieck schreibt rhapsodisch, nicht akademisch. Für die Pflege eines universal-humanistischen Stils fehlte es ihm an Zeit und Erfahrung, womöglich auch an Interesse. Durch Kommentare kann dem an Erkenntnissen interessierten Leser jedoch geholfen werden.

Der Königsberger Louis Köhler, ständiger Mitarbeiter der Leipziger Signale für die musikalische Welt, bezeichnete Wieck als »Erzrevolutionair«.5 Sich selbst nannte Wieck wiederholt »conservativ«. Im Vorwort zu Clavier und Gesang6 heißt es: »Ich aber werde so lange conservativ bleiben, bis die Männer der Zukunft mich durch Resultate überzeugen, welche die der alten Zeit übertreffen oder doch ihr wenigstens gleichstehen.« Hier wird deutlich, wie die gesellschaftstheoretische Debatte der Zeit Wieck und Köhler beeinflusste. Wieck war tatsächlich nicht nur ein renommierter Musiklehrer, sondern auch ein zivilgesellschaftlich wachsamer »Bildungsbürger«7, der allerlei Zeitungen las und gerne diskutierte – nicht nur über Musik.8 Deshalb müssen seine ← 17 | 18 → Schriften nicht nur musikhistorisch, sondern auch fachübergreifend kulturwissenschaftlich kommentiert werden.

Hauptsächlich wirkte Wieck als Pädagoge, zuerst als Hauslehrer, dann als Klavierlehrer und ab 1840 in Dresden auch als Gesangslehrer – zur Überraschung vieler Leipziger.9 Zudem war er Essayist, Klavierhändler und -techniker, Konzertveranstalter, Manager, Buchhändler und Privat-Bibliothekar. Er kämpfte an vielen Fronten für das künstlerische Engagement und die Ernsthaftigkeit der musizierenden Jugend. Dabei war es nicht entscheidend, ob deren Ziel die Professionalität war. Wieck verteidigte eine Haltung, die den gymnasialen Hauptfächern seit jeher nahezu selbstverständlich entgegengebracht wird, der Musik aber selten. Er attackierte die von Karl Marx 1844 in seiner Pariser »Kritik« der Hegel’schen Rechtsphilosophie angeprangerte »philisterhafte Mittelmäßigkeit« seiner mehr oder minder gebildeten Zeitgenossen und insbesondere der »Mittelclasse«10, überhaupt eiferte er gegen den Schlendrian aller an Musik interessierten Menschen ohne Rücksicht auf deren gesellschaftlichen Stand und Aufgabe.

Dass es viel Schlendrian und Mittelmäßigkeit gab, fanden auch Andere. 1852, als Wieck seine Aufsatzsammlung Clavier und Gesang edierte, veröffentlichte Johann Christian Lobe seine elegischen Gedanken zur ›Harmonie‹ in einer Zeit vor dem Triumphzug der »modernen« und »falschen« Virtuosen und »Pianofortehelden«, deren Egomanie die »Kunst« gefährdeten:11 ← 18 | 19 →

Den von Lobe gemeinten Konflikt der Gegenwartskulturen gibt es möglicherweise heute noch in unveränderter Gestalt, was die Aktualität von Wiecks Schriften erhöht.12 Die Probleme betreffen Wiecks Hauptfach Klavier in besonderem Maße. Dieses einfach zugängliche Instrument lockt so viele junge Musiker an, dass ein Überangebot an durchtrainierter Klavierbegabung entsteht. Das generiert Missstände, die nicht verschwiegen werden dürfen, sollten sie, wie Lobe und Wieck fast im Einklang betonten, die höhere Würde der Tonkunst gefährden.

Wieck, der sich mit Lobe in Clavier und Gesang flüchtig auseinandersetzte,13 sehnte sich nicht nach den Lautenspielern, aber er bekämpfte das laute Spiel und die »Pianoforteklimperei«. Wieck war kein Gegner der »Virtuosität« im Wortsinn, nur von deren kunstfremden Auswüchsen. Er konnte nicht untätig zuschauen, wie »die Musik, die Himmelstochter, gemißbraucht und herabgewürdigt wird, der Eitelkeit und Prahlerei zu dienen«.14 Seine Pädagogik war behutsam und reformiert. In Anna von Meichsners Worten über Wieck als Gesangslehrer kommt gerade das deutlich zum Ausdruck: »Es kommt eben darauf an, die jungen, frischen Stimmen nicht durch Verbildung im Keime zu zerstören, und diese rechte Weise des Bildens und des Schonens ist die Hauptstärke des Hr. Prof. Wieck.«15 ← 19 | 20 →

Mehr als ein Vater

Während heute nur noch die historisch interessierten Kolleginnen und Kollegen Wiecks Pädagogik und Ansichten über die Ästhetik und das Musikleben im Allgemeinen kennen, ist die monumentale Ausnahmegestalt seiner Tochter Clara, einer der berühmtesten deutschen Frauen der Geschichte, als ›Bildungsgut‹ gegenwärtig. Unvergesslich ist der anmutig blaue 100 DM-Schein von 1989 mit einem Clara Wieck-Porträt von 1838 als »k. u. k. österreichische Kammer-Virtuosin«, gezeichnet nach dem Vorbild einer Lithografie von Andreas Staub aus Wien.

Friedrich Wiecks pädagogischer »Geist« lässt sich anhand seiner Schriften rekonstruieren. Die Lektüre lohnt sich aus vielerlei Gründen. Wieck nahm auf »Wohlbekanntes«, heute jedoch Verblichenes und sogar Verlorenes Bezug, was das historische Bewusstsein der Leserinnen und Leser belebt. Die Davidsbündler-Idylle etwa, in der Wieck als Meister Raro mit ausgewählten Zitaten auftrat und die alle Schumann-Liebhaber faszinieren dürfte, findet man in seinen Essays wieder. Seine Worte sind vom genuinen Pathos beflügelt. Er hinterließ Pamphlets und Essays für die Zeitgenossen, die er auf Irrwegen wähnte, keine Traktate. Seinen Schriften ist der Duktus eines leidenschaftlichen mündlichen Vortrags eigen.16

Als Klavierlehrer, Musikkaufmann, Vater und Essayist machte er sich Sorgen um die Gegenwart und Zukunft der Kunst. Er versuchte erst gar nicht zu verheimlichen, dass er eine schwer fassbare Zwittergestalt war. Wie authentisch er blieb, erkannte auch Heinrich Dorn, Komponist und seit 1829 königlich sächsischer Musikdirektor am Leipziger »Hoftheater« (später »Altes Theater«):17 »Und wer Friedrich Wieck überhaupt gekannt hat, der erkennt ihn sofort an den ersten Zeilen seiner Hand, das sind keine Hebbel’schen Hausfreundweisen, sondern so dachte, so sprach er wirklich, ganz unbekümmert darum, was andere darüber denken und sprechen würden.« ← 20 | 21 →

Als Essayist hatte er literarisch-künstlerische Ambitionen,18 jedoch selten so eindeutig erkennbar wie im Kapitel 14 von Clavier und Gesang: »Frau Grund und vier Lectionen«, wo er eine fiktive Person auffordert, die anderen Kapitel des Buches zu lesen. Im Alter von 24 Jahren, als Wieck noch Hauslehrer war, schrieb er »Wöchentliche Bemerkungen über den Schüler Emil von Metzradt«,19 eine Art Erziehungsprotokoll und ein fernes Echo von Jean-Jacques Rousseaus Émile ou De l’éducation (1762).20

In seinen späteren Essays gab er sich selbst unterschiedliche Charakterisierungen – Pädagoge, »Philosoph«, »Psycholog« –, wies aber nie auf das Theologiestudium in Wittenberg hin, obwohl er es immerhin zum Predigerexamen gebracht hatte. In seiner Argumentation finden sich auch keine Spuren von genuin theologischer Gesinnung. Wieck hat das Fach offenbar genutzt, um sich humanistisch zu bilden. Dem Predigeramt kehrte er gleich im Anschluss an das Examen den Rücken. Als Klavierlehrer profitierte er später von seinen Erfahrungen als Hauslehrer. Sogar als Komponist pädagogischer Stücke versuchte Wieck sein Glück.21

Sein Gang zur multiplen Professionalität erfolgte in ernst gemeinten Schritten, war aber für viele Spezialisten der älteren Schule trotzdem verdächtig. So berichtet Dorn über die erste Zeit ihrer Bekanntschaft:22

»Gleichwohl kann ich nicht behaupten, daß Wieck schon damals [1829–1832] in den musikalischen oder überhaupt künstlerischen Kreisen Leipzigs irgend welche hervorragende Rolle gespielt habe; die Herren vom Fach mißtrauten dem früheren Hauslehrer, welcher noch dazu eine Nebenbeschäftigung trieb, die mehr merkantiler als artistischer Natur war […].«

Das Misstrauen ging so weit, dass »die damaligen Musikheroen der Pleißestadt – Fink, Marschner, Pohlenz, Rochlitz, Weinlig«23 – mit Wieck zumindest ← 21 | 22 → bis 1832, als Dorn Leipzig verlies, keinen engeren Umgang pflegten. In Wiecks vielfältigem Engagement wurde ein Indiz für fehlende Spezialkompetenz gesehen. 1829 war Wieck quasi ein ehemaliger, später »umgesattelter Candidat der Theologie«, »welcher im Begriff stand, sich durch Führung der von ihm gegründeten Logier’schen Lehranstalt, durch rasches Emporblühen seines damit verbundenen Pianoforte- und Musikalien-Leihinstituts, mehr noch durch sein originelles Wesen, eine städtische Berühmtheit zu verschaffen«.24 Ihm fehlten frühe Erfolge in einem Spezialgebiet, was bei seiner kleinstädtischen Herkunft wenig erstaunlich ist – er war am 18. August 1785 in Pretzsch an der Elbe südlich der Lutherstadt Wittenberg geboren und die Situation seiner Familie war zum Teil problematisch, wie Wieck später zu berichten wusste (siehe unten Anmerkung 62f.). Er verfügte über keine Beziehungen und andere Standesmerkmale der mächtigen Vertreter der Generation, weshalb er sich nach weniger begehrten Segmenten des Musiklebens richten musste. Auch Dorn selbst lernte Wieck erst nach 1856 besser kennen, als er im Dresdner Vorort Loschwitz, wo auch Wieck ein Haus hatte und am 6. Oktober 1873 starb, öfter als Sommergast weilte.25

Im Alter von 46 Jahren debütierte Wieck als Essayist mit einem zeitlos wichtigen Thema in einem denkbar feinen Rahmen, mit einer »Recension« über Frédéric (Fryderyk) Chopins op. 2 in Gottfried Webers vornehm akademischer Zeitschrift Caecilia, eine Zeitschrift für die musikalische Welt, herausgegeben von einem Vereine von Gelehrten, Kunstverständigen und Künstlern, die bei B. Schott’s Söhnen in Mainz erschien.26 Das letzte Produkt seiner Essayistik war »Eine Stimme in der Wüste« in der Leipziger Zeitschrift ← 22 | 23 → Signale für die musikalische Welt von 1869. Bereits 1843 waren die Signale sein Hauptorgan geworden. Davor hatte er auch in Schumanns Neuer Zeitschrift für Musik veröffentlicht.27

Das Schreiben von Essays bedeutete ihm, dem Insgeheim-Gelehrten, eine Erfüllung des »feurigen Wunsches zu wirken«.28 Wir möchten uns an der Spekulation darüber nicht beteiligen, ob es ihm »in erster Linie« um »erzieherische Intentionen«, »Profilierungswillen« oder »kommerzielle Interessen« ging.29 Seine Essayistik sehen wir als einen Teil seiner bürgerlichen Erhebung, seiner Berufung zum »Wirken« und des »Berufs zum Sich-äußern«, um Köhler zu zitieren. Wie bei vielen anderen Autoren der Zeit ging es darum, in der bröckelnden aber noch bestehenden Ständegesellschaft der eigenen Begabung gemäß gesellschaftlich aktiv zu sein.

Wieck sei vielseitig und unkonzentriert, »unruhig und hastig, nicht glatt und geordnet genug, wenn es gilt, ruhig das gerade vorliegende Thema zu durchdringen und zu verarbeiten«, meinte ein anonymer Rezensent in Gustav Freytags und Julian Schmidts national-liberaler Zeitschrift Die Grenzboten.30 Tatsächlich variiert das Niveau der Sachlichkeit von Essay zu Essay. Konstant bleibt die überregionale Bedeutung seiner Ambitionen und Ideen, die dem Zeitgeist zum Trotz nie provinziell, nationalistisch oder chauvinistisch wirken. Allein das verdient heute noch Lob. Kein einziges Mal führt Wiecks Argumentation ins Rassistische, auch wenn er einmal in Clavier und Gesang das im Kontext seiner Zeit harmlose, heute inakzeptable Wort »Negerthemen« wählt. Wiecks »Aerger an den Deutschen« und das Liebäugeln »mit den Andern« fiel zumindest Louis Köhler auf. Während dieser sich wünschte, dass man auf die »französischen Leithammel« »haute«, jagte Wieck in seiner Kritik Liszt, Wagner und deren offensiv ›deutsche‹ Anhänger. Wiecks Idole waren Ferdinand David, Ignaz Moscheles, Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn Bartholdy.31 Seine kulturelle Toleranz einerseits und die ← 23 | 24 → Vorbildrolle andererseits, die er für seine Tochter Clara, eine der gefragtesten Klavierprofessorinnen der Zeit,32 innehatte, legitimieren ihn als Klassiker der Musikpädagogik.

Ideenreichtum einer Ära

Das Gerüst, das Wiecks Gedankengänge umrahmt, manifestiert sich in Andeutungen und Hinweisen. Legendäre Wissenschaftler, Künstler, Theoretiker und Philosophen wie Gustav Theodor Fechner, Johannes von Müller, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Christian Lobe, Johann Heinrich Pestalozzi, Jean-Jacques Rousseau und Karl Rosenkranz bilden ein ideengeschichtliches Geflecht, das allerdings nur vereinzelt durch Referenzen konkret wird. Unter den außermusikalischen Einflüssen fällt der Königsberger Kant-Nachfolger Johann Friedrich Herbart (1776–1841) besonders auf. In seinen pädagogischen Schriften unterstrich er die Bedeutung der Psychologie für die Pädagogik und trug der »Bildsamkeit des Zöglings«33 mit der Wertschätzung wissenschaftlicher Förderung und Charakterbildung Rechnung. Sein Ziel war weder Gehorsam noch Gewöhnung, sondern die Beförderung der Urteilsfähigkeit des Schülers. Entsprechend sollte der Unterricht durch den Wechsel von Vertiefung und Besinnung rhythmisiert sein. Herbarts Nachfolger trieben zwar die Institutionalisierung der Volksschule voran, aber er selbst verteidigte den Hauslehrerberuf, was auch für Wieck mit Blick auf den privaten Klavier- und Gesangsunterricht als zukunftsträchtig galt.

Auch dort, wo Wiecks Denken widersprüchlich wirkt und vom eigentümlichen, unserer Zeit fremden »Geschmack« und vom »Erlebten« gelenkt wird, lässt sich bei näherer Betrachtung eine Dialektik erkennen. Oft lässt Wieck »Geist« und Unterhaltung, Aussage und Genuss, Sinndeterminierung durch das Kunstwerk (den Werkcharakter) und Selbstbezogenheit des Einzelnen im Ereignis (den Ereignischarakter) kollidieren. So räumt er der von ihm selbst sogenannten »besseren Salonmusik«, also jener von Chopin, Schumann und Mendelssohn Bartholdy, Platz in seinem Kanon ein.34 Es wirkt, als habe ← 24 | 25 → Wieck Georg Wilhelm Friedrich Hegels Diskurs der »Lebendigkeit« als Besonderheit der Musik gegenüber der Bildenden Kunst, die lediglich »als das objektiv für sich dastehende Resultat künstlerischer Thätigkeit« erscheinen kann, verinnerlicht.35

Immer wieder verlangt er vom Instrumentalisten Gesanglichkeit und das »Gesangsgemäße«. Dabei ist wichtig, dass er den Gesang nicht von Sprache und Sprachmelodik ableitet,36 sondern von instrumentalen Idealen. Das geschieht im Einklang mit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1835):37

»Als das freieste und seinem Klang nach vollständigste Instrument können wir drittens die menschliche Stimme bezeichnen, welche in sich den Charakter des Blas- und Saiteninstrumente vereinigt, indem es hier teils eine Luftsäule ist, welche erzittert, teils auch durch Muskeln das Prinzip einer straff gezogenen Saite hinzukommt.«

Auch Arthur Schopenhauer dient Wieck als ideelle Stütze, wenn er im zweiten Teil von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) schreibt:38 »Die Musik als solche kennt allein die Töne, nicht aber die Ursachen, welche diese hervorbringen. Demnach ist für sie auch die vox humana [menschliche Stimme] ursprünglich und wesentlich nichts Anderes, als ein modificirter Ton, eben wie der eines Instruments […].«

Details

Seiten
390
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631767467
ISBN (ePUB)
9783631767474
ISBN (MOBI)
9783631767481
ISBN (Hardcover)
9783631767450
DOI
10.3726/b14758
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 390 S.

Biographische Angaben

Tomi Mäkelä (Band-Herausgeber:in) Christoph Kammertöns (Band-Herausgeber:in) Lena Esther Ptasczynski (Band-Herausgeber:in)

Tomi Mäkelä, Professor für Musikwissenschaft, Klavierpädagoge, 2008 Preisträger von »Geisteswissenschaften International«. Christoph Kammertöns, Dr. phil., Lehrbeauftragter für Musikwissenschaft an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Lena Esther Ptasczynski, MSc, Studium der Musik- und Neurowissenschaften in Halle-Wittenberg, Paris, London.

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Titel: Friedrich Wieck – Gesammelte Schriften über Musik und Musiker
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