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Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Weimarer Republik 1919–1933

von Thomas Sirges (Band-Herausgeber:in)
©2020 Monographie 474 Seiten

Zusammenfassung

Über die Schrecken der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerät oft in Vergessenheit, dass sich viele Deutsche in der Weimarer Republik für Frieden, Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern eingesetzt haben. Dies geschah oft gegen starke gesellschaftliche Widerstände und unter großen persönlichen Opfern. Zahlreiche Zeitgenossen aus dem In- und Ausland haben den Einsatz von Deutschen für den Frieden in der Welt für so bedeutsam gehalten, dass sie diese oder ihre Organisation bzw. Institution für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen haben. Dieser Band stellt die 19 deutschen Kandidaten von 1919 bis 1933 vor und beleuchtet die Hintergründe und Begleitumstände ihrer Kandidatur für den weltweit wichtigsten Friedenspreis. Er ist der Nachfolger zum Band Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten im Kaiserreich 1901–1918 .

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Deutsche Friedensnobelpreiskandidaten als Forschungsthema
  • Der Friedensnobelpreis und die Deutschen
  • 1. Kandidaten
  • 2. Vorschläge
  • 3. Nobelkomitee
  • 3.1. Vorauswahl
  • 3.2. Gutachten
  • 3.3. Entscheidungen
  • 4. Öffentliche Reaktionen
  • Die deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in Einzelporträts
  • I.   Personen
  • 1.   Georg Bonne
  • 2.   Adolf Damaschke
  • 3.   Adolf Deißmann
  • 4.   Reinhard Dohrn
  • 5.   Friedrich Wilhelm Foerster
  • 6.   Hellmut v. Gerlach
  • 7.   Harry Graf Kessler
  • 8.   Hans Luther
  • 9.   Jakob Münter
  • 10.   Ludwig Quidde
  • 11.   Erich Maria Remarque
  • 12.   Paul v. Schoenaich
  • 13.   Walther Schücking
  • 14.   Friedrich Siegmund-Schultze
  • 15.   Gustav Stresemann
  • 16.   Karl Strupp
  • 17.   Hans Wehberg
  • II.   Organisationen und Institutionen
  • 1.   Deutsche Liga für Menschenrechte
  • 2.   Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
  • Anhang
  • Abkürzungen
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Nachweis der Abbildungen
  • Namenregister

Deutsche Friedensnobelpreiskandidaten als Forschungsthema1

Über die Schrecken der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerät oft in Vergessenheit, dass sich viele Deutsche in der Weimarer Republik für Frieden, Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern eingesetzt haben – oft gegen starke gesellschaftliche Widerstände und unter großen persönlichen Opfern. In 19 Fällen haben zahlreiche Zeitgenossen aus dem In- und Ausland den Einsatz von Deutschen für den Frieden in der Welt sogar für so bedeutsam gehalten, dass sie diese oder ihre Organisation bzw. Institution für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen haben. Einige deutsche Kandidaten galten als aussichtsreiche Anwärter, andere waren wiederum nur chancenlose Außenseiter. Von ihrer Kandidatur für den weltweit wichtigsten Friedenspreis handelt dieses Buch, das die mit einer Studie über das Kaiserreich begonnene Geschichte der deutschen Friedensnobelpreiskandidaten für die Zeit der Weimarer Republik fortsetzt.2

Zwischen 1919 und 1933 verzeichnen die Rechenschaftsberichte des norwegischen Nobelkomitees die Namen folgender deutscher Kandidaten: den Arzt und Schriftsteller Georg Bonne, den Bodenreformer Adolf Damaschke, den Theologen Adolf Deißmann, den Meeresbiologen Reinhard Dohrn, den Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster, den Publizisten Hellmut v. Gerlach, den Kunstmäzen und Diplomaten Harry Graf Kessler, den Politiker Hans Luther, den Kaufmann Jakob Münter, den Historiker Ludwig Quidde, den Schriftsteller Erich Maria Remarque, den Generalmajor Paul Freiherr v. Schoenaich, den Juristen Walther Schücking, den Theologen und Sozialarbeiter Friedrich Siegmund-Schultze, den Politiker Gustav Stresemann, den Juristen Karl Strupp sowie den Juristen Hans Wehberg. Bei den beiden institutionellen Kandidaten handelt es sich um die Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM), gegründet von dem Rittmeister Kurt v. Tepper-Laski und dem Buchhändler und Publizisten Otto Lehmann-Rußbüldt unter dem Namen Bund Neues Vaterland (BNV), ←7 | 8→und um das Berliner Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, gegründet von dem Juristen Viktor Bruns.3

Mit Ausnahme des unbekannten Kaufmanns Jakob Münter handelt es sich ausnahmslos um Personen der Zeitgeschichte. Zu den prominentesten und bis heute einer breiteren Öffentlichkeit bekannten Kandidaten gehören die früheren Staatsmänner Hans Luther und Gustav Stresemann sowie die Schriftsteller Harry Graf Kessler und Erich Maria Remarque. Sie dürfen in keiner politischen Geschichte bzw. Kultur- und Literaturgeschichte zur Weimarer Republik fehlen, und ihr Leben und Wirken ist in zahlreichen Biographien festgehalten. Umfängliche, oft auch moderne Biographien sowie zahlreiche Spezialstudien finden sich ebenfalls zu Adolf Damaschke, Adolf Deißmann, Reinhard Dohrn, Friedrich Wilhelm Foerster, Hellmut v. Gerlach, Ludwig Quidde, Paul v. Schoenaich, Walther Schücking, Friedrich Siegmund-Schultze, Karl Strupp und Hans Wehberg.4 Zur Deutschen Liga für Menschenrechte (DLfM) und zum Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht liegen mehrere Eigendarstellungen in Form von Aufsätzen und Beiträgen in Handbüchern vor. Über ihre Vorsitzenden und wichtigsten Mitglieder geben biographische Lexika Auskunft.

In Anbetracht dieses Kenntnisstands zu den deutschen Friedensnobelpreiskandidaten, der alles in allem als außerordentlich gut einzuschätzen ist, mutet es umso überraschender an, dass die Nobelpreiskandidatur von den meisten Biographen übergangen oder nur im Vorbeigehen erwähnt wird.5 Es gibt allerdings zwei Ausnahmen. Zum einen geht Albrecht Gerber in seiner Studie über Deißmann auf dessen Nominierung ein und zitiert ausführlich aus den beiden Vorschlagsschreiben.6 Zum anderen dokumentiert Klaus Hugler in seiner Biographie ←8 | 9→über den Bodenreformer Adolf Damaschke sowohl das umfängliche Vorschlagsschreiben als auch die Liste mit den Namen der zahlreichen Unterstützer.7 Der Autor konnte in diesem Falle auf das Jahrbuch für Bodenreform zurückgreifen, in dem das Dokument zeitgleich mit dem Vorschlag abgedruckt worden war. Eine solche zeitnahe Veröffentlichung ist aber die Ausnahme gewesen, obschon auch bereits damals von interessierter Seite Namen in der Öffentlichkeit, sprich in den Zeitungen, lanciert worden sind. In etlichen Fällen aber dürfte es den Biographen gar nicht bekannt gewesen sein, dass sie es mit einem Friedensnobelpreiskandidaten zu tun hatten. Der Grund dafür liegt auch an der Praxis des norwegischen Nobelinstituts, zwar die Zahl der Kandidaten bekanntzugeben, ihre Namen aber mit einer 50-jährigen Sperrfrist zu versehen, an die sich auch die zur Verschwiegenheit verpflichteteten Mitglieder des Nobelkomitees in der Regel eisern halten, nicht zuletzt, um ihre Unabhängigkeit zu verteidigen.

Nach Ablauf der Sperrfrist steht aber umfängliches Archivmaterial zur Verfügung, von dem die Forschung bislang hauptsächlich für die Preisträger,8 kaum jedoch für die Kandidaten Gebrauch gemacht hat. Das ist eigentlich erstaunlich, denn zum einen schlummern in dem Archiv des Nobelinstituts spektakuläre ←9 | 10→Fälle, wie jüngst Alma Hannig am Beispiel der Kandidatur von Tomáš Masaryk gezeigt hat,9 und zum anderen lassen sich die Entscheidungen des höchst verschwiegenen Nobelkomitees nur dann eingehender untersuchen, wenn auch die anderen Bewerber einbezogen werden. Schon im Jahre 1920 hatte das Berliner Tageblatt anlässlich der Preisverleihung an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und den Präsidenten des Völkerbundrates Léon Bourgeois völlig zu Recht angemerkt: „Man müßte die achtzehn (?) Kandidaten für den Friedenspreis, unter denen, wie es heißt, der Storthingausschuß zu wählen hatte, kennen, um die Gründe der Entscheidung […] besser würdigen zu können.“10

Bis es aber möglich sein wird, auf Grundlage von (vergleichenden) Studien zu den Friedensnobelpreiskandidaten die Entscheidungsprozesse im Nobelkomitee genauer untersuchen zu können, ist es noch ein weiter Weg. Der Anfang ist aber mit der oben genannten Veröffentlichung über das Kaiserreich von 1901 bis 1918 gemacht und findet nun mit einer Studie zur Weimarer Republik von 1919 bis 1933 seine Fortsetzung. Wie ihre Vorgängerstudie stützt auch sie sich in der Hauptsache auf die schriftlichen Kandidatenvorschläge, die gedruckten Rechenschaftsberichte mit den Namen der Kandidaten und der Antragsteller und den Gutachten sowie auf die Korrespondenz des Nobelinstituts.11

Auch diesmal liegen die Entscheidungsprozesse im Nobelkomitee weitgehend im Verborgenen, denn es existieren keine offiziellen Sitzungsprotokolle. Trotzdem stellt sich die Lage für die Zeit der Weimarer Republik sehr viel günstiger dar als für die Zeit des Kaiserreichs, denn es gibt die schriftlichen Aufzeichnungen ←10 | 11→des langjährigen Komiteemitglieds Halvdan Koht. Sein Arbeidsdagbok (Arbeitstagebuch) von den Sitzungen des Nobelkomitees, das er in der Zeit von 1919 bis 1936 geführt hat und dem von Seiten der Forschung eine hohe Zuverlässigkeit bescheinigt wird,12 vermittelt interessante Aufschlüsse über die Voten und das Abstimmungsverhalten im Komitee, gibt allerdings nur wenig über den Inhalt der Beratungen preis.

Der dreiteilige Aufbau dieses Buches folgt dem bei der Vorgängerstudie eingeschlagenen Weg. Der erste Teil fasst die wichtigsten Ergebnisse zur Geschichte der deutschen Friedensnobelpreiskandidaten in der Weimarer Republik in systematisch-vergleichender Form zusammen, wobei auch zahlreiche Vergleiche mit dem Kandidatenfeld im Kaiserreich gezogen werden. Ergänzt wird der erste Teil mit einer Darstellung des deutschen Presseechos auf die Preisverleihungen. Der zweite Teil enthält kurze Biographien der Kandidaten mit dem Schwerpunkt auf ihren friedenspolitischen Idealen und Aktivitäten sowie ihrer Kandidatur. Dabei werden auch die Motive und Intentionen der Antragsteller und Unterstützer wiederum eingehend untersucht. Bei den beiden Kandidaten Gustav Stresemann und Ludwig Quidde, die den Friedensnobelpreis erringen konnten, wird zusätzlich auf die Nobelpreisfeiern eingegangen. Der dritte Teil rundet schließlich die Studie mit ausgewählten Dokumenten zu den deutschen Kandidaten ab.13

1. Kandidaten

Von 1919 bis 1933 sind insgesamt 464 Kandidatenvorschläge – einschließlich der mehrfach nominierten Kandidaten – an das Nobelkomitee eingesandt worden. Davon entfielen 368 auf Personen und 96 auf Organisationen und Institutionen. Durchschnittlich konnte also das Nobelkomitee pro Jahr aus 30,9 Kandidaten den oder die Friedensnobelpreisträger auswählen. Damit war die durchschnittliche Bewerberquote gegenüber dem Zeitraum von 1901 bis 1918 um 2,0 leicht angestiegen. Für deutsche Kandidaten – wiederum einschließlich der mehrfach nominierten Kandidaten – wurden in diesem Zeitraum 36 Vorschläge, die 33 Mal Personen und drei Mal Organisationen bzw. Institutionen galten, eingereicht. Im Durchschnitt wurden also 2,4 deutsche Kandidaten pro Jahr vorgeschlagen. Insgesamt waren das 7,8 % aller Nominierungen. Sowohl die durchschnittliche deutsche Bewerberquote (+0,2 %) als auch der Anteil an allen Nominierungen (+0,3 %) hatte sich damit gegenüber dem Kaiserreich kaum verändert. Eine auffallende Veränderung ist aber auf deutscher Seite im Verhältnis zwischen Personen und Organisationen bzw. Institutionen eingetreten. Während sich insgesamt das Verhältnis nur unwesentlich von 3,6:1 auf 3,8:1 zugunsten der Personen verändert hat, hat sich bei den deutschen Vorschlägen das Verhältnis markant von 4,6:1 auf 11:1 zugunsten der Personen verschoben. Der Grund liegt darin, dass die im Kaiserreich fünf Mal vorgeschlagene Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) überhaupt nicht mehr nominiert worden ist. Im Vergleich mit Frankreich (41,5 Mio. Einwohner) und Großbritannien (46,0 Mio.) schnitt die Weimarer Republik (65,1 Mio.) gegenüber dem Kaiserreich bei den Kandidatenvorschlägen besser ab. Auf französische und britische Kandidaten entfielen jetzt 45 bzw. 31 Nominierungen. Damals waren es noch rund doppelt so viele gewesen. Gemessen an der Bevölkerungszahl im Jahr 1931 war aber Deutschland im Vergleich mit diesen beiden europäischen Ländern weiterhin unterrepräsentiert:

Tab. 1: Kandidaten für den Friedensnobelpreis 1919–1933 (N = Numerus; P = Person(en); I = Institution(en)/O = Organisation(en))1

←15 | 16→

Die Entwicklungskurve der nominierten deutschen Kandidaten weist Mitte der 1920er Jahre und zu Anfang der 1930er Jahre zwei Ausschläge auf. Auf die Jahre 1925/26 entfielen 16,7 Prozent und auf das Jahrviert 1930–1933 sogar 61,1 Prozent aller Vorschläge, zusammen also fast vier Fünftel. Davor und dazwischen gab es mit Ausnahme des Krisenjahres 1923, in dem überhaupt kein deutscher Kandidat nominiert worden ist, nur jeweils einen Kandidaten pro Jahr.

Für das Jahr 1926 lässt sich wohl von einem Locarno-Pakt-Effekt sprechen. Zwei Politiker, der vormalige Reichskanzler Hans Luther und der amtierende Außenminister Gustav Stresemann, wurden wegen ihrer Beteiligung am Zustandekommen des Locarno-Pakts für den Friedensnobelpreis nominiert, wohingegen der Vorschlag des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Heinrich ←16 | 17→Ströbel für Harry Graf Kessler auch darauf abzielte, eine Ehrung der am Locarno-Pakt beteiligten Spitzenpolitiker zu durchkreuzen. Einen Stresemann-Effekt und auch einen Quidde-Effekt in Verbindung mit ihren Friedensnobelpreisen hat es indes nicht gegeben. Die Zahl der deutschen Vorschläge ist in den folgenden Jahren wieder zurückgegangen.

Zwischen 1930 und 1933 verzeichnet auch die Entwicklungskurve aller vorgeschlagenen Kandidaten mit einem Anteil von 38,6 Prozent einen beträchtlichen Anstieg, wenn auch nicht so stark wie das deutsche Segment. Immerhin lag in jedem einzelnen Jahr die Zahl der Vorschläge deutlich über allen vorangegangen Jahren. Die Gründe hierfür sind bislang nicht untersucht worden. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die Weltwirtschaftskrise die Begehrlichkeit auf das attraktive Preisgeld gesteigert hat. Als Erklärung für die Zunahme der deutschen Vorschläge trifft sie aber nur auf zwei Fälle zu. Sowohl das meeresbiologische Institut von Reinhard Dohrn in Neapel als auch das Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin waren durch die Weltwirtschaftskrise in akute Finanznöte geraten. Bei den übrigen Kandidaten können dagegen primär finanzielle Interessen weitgehend ausgeschlossen werden. Wirft man einen Blick auf die Nominatoren, so fällt auf, dass seit 1930 deutsche Hochschullehrer, die vorher als Antragsteller überhaupt nicht in Erscheinung getreten waren, plötzlich aktiv wurden. Der Vorschlag von Walther Schücking für Ludwig Quidde im Namen der Deutschen Gruppe der Interparlamentarischen Union (IPU) von 1925 ist tatsächlich der einzige Vorschlag eines deutschen Professors bis 1928 geblieben, den er allerdings als Politiker eingereicht hat. Erst ab 1929/30 änderte sich das schlagartig. Etliche liberale, sozialdemokratische und konservative Professoren setzten sich jetzt für Friedrich Wilhelm Foerster, Paul v. Schoenaich, Walther Schücking, Friedrich Siegmund-Schultze, Hans Wehberg u.a. ein. Bei diesen akademischen Antragstellern handelte es sich keineswegs um Hochschullehrer, die zurückgezogen im Elfenbeinturm ihren gelehrten Forschungen nachgegangen sind. Etliche sind, wie z.B. Hans Driesch, Adolf v. Harnack, Karl Heldmann, Immanuel Herrmann oder Gustav Radbruch, politisch aktiv gewesen und haben sich öffentlich zu Wort gemeldet. Deshalb liegt es nahe, einen Zusammenhang mit den innenpolitischen Verhältnissen anzunehmen. Die Nominierung von Kandidaten, die für Frieden, Freiheit, Recht, internationale Zusammenarbeit und Völkerverständigung eintraten, kann als Versuch gewertet werden, der Radikalisierung der Politik ein Friedens- und Verständigungssymbol entgegenzustellen, um die gefährdete Republik zu verteidigen.

Von 1919 bis 1933 sind 19 Kandidaten aus Deutschland für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Darunter befanden sich 17 Personen – im Unterschied ←17 | 18→zum Kaiserreich ausschließlich Männer2 – sowie je eine Organisation und Institution. Sieben Kandidaten wurden mehrfach vorgeschlagen. Eine Rangierung der Kandidaten nach Häufigkeit der Vorschläge ergibt folgende Verteilung:

Tab. 2: Deutsche Kandidaten nach Häufigkeit der Vorschläge 1919–1933 (N = 36)

Personen Nominierungen
Walther Schücking 8
Ludwig Quidde 4
Friedrich Wilhelm Foerster 3
Paul v. Schoenaich 3
Georg Bonne 2
Adolf Damaschke 2
Adolf Deißmann 1
Reinhard Dohrn 1
Hellmut v. Gerlach 1
Harry Graf Kessler 1
Hans Luther 1
Jakob Münter 1
Erich Maria Remarque 1
Friedrich Siegmund-Schultze 1
Gustav Stresemann 1
Karl Strupp 1
Hans Wehberg 1
Organisationen und Institutionen
Deutsche Liga für Menschenrechte 2
Institut für ausländisches öffentliches Recht
und Völkerrecht
1

Wie schon im Kaiserreich waren auch in der Weimarer Republik die in der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) organisierten Pazifisten mit Friedrich Wilhelm Foerster, Hellmut v. Gerlach, Harry Graf Kessler, Ludwig Quidde, Paul v. Schoenaich, Walther Schücking, Friedrich Siegmund-Schultze und Hans ←18 | 19→Wehberg auf der Kandidatenliste stark vertreten.3 Auf diese acht Personen entfielen 22 Nominierungen und damit drei Fünftel aller Vorschläge (61,1 %). Fünf von ihnen – Foerster, Quidde, Schücking, Siegmund-Schultze und Wehberg – sind schon im Kaiserreich überzeugte Pazifisten gewesen, die sich zwar der neuen Zeit anpassten, ihren Grundüberzeugungen aber treu blieben und die von Adolf Richter,4 Otto Umfrid5 und Richard Feldhaus6 begonnene Friedensarbeit fortführten. Im Unterschied zu den Repräsentanten des demokratischen und organisatorischen Pazifismus fanden Gerlach, Graf Kessler und Schoenaich erst durch den Krieg bzw. im Verlauf der sich daran anschließenden politischen Umbruchzeit zum Pazifismus. Auffallend ist dabei, daß die Traditionalisten fest im liberalen politischen Milieu verankert blieben, wohingegen Gerlach zur Sozialdemokratie tendierte, Schoenaich sich auf die Seite der radikalen linken Pazifisten schlug und Graf Kessler zwischen den liberalen und linken Strömungen des Pazifismus hin und her schwankte.

Von den übrigen Kandidaten war nur der Schriftsteller Erich Maria Remarque ein bekennender Pazifist,7 hielt sich aber wie auch die übrigen Kandidaten von der organisierten Friedensbewegung fern. Doch lassen sich für Georg Bonne, Adolf Damaschke, Adolf Deißmann, Reinhard Dohrn, Jakob Münter und Karl Strupp Berührungspunkte mit der Friedensbewegung oder Kontakte zu (führenden) Pazifisten nachweisen. Letzteres trifft sogar auch für die Politiker Hans Luther und Gustav Stresemann zu. Luther ist z.B. als Reichskanzler mit dem norwegischen Pazifisten Fridtjof Nansen zusammengetroffen, und Außenminister Stresemann pflegte zumindest zeitweilig einen recht vertrauensvollen Umgang mit Harry Graf Kessler.

←19 | 20→

Von den zwei für den Friedensnobelpreis vorgeschlagenen deutschen Organisationen bzw. Institutionen war die Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM) eine klassische Friedensorganisation, wohingegen das Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht eine wissenschaftliche Einrichtung für Grundlagenforschung war, zu deren Teilgebieten auch die Frage von Krieg und Frieden gehörte.

Details

Seiten
474
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631808849
ISBN (ePUB)
9783631808856
ISBN (MOBI)
9783631808863
ISBN (Hardcover)
9783631805848
DOI
10.3726/b16489
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Friedensnobelpreis Nobelkomitee Historische Friedensforschung Friedensbewegung Pazifismus Friedenspolitik Völkerverständigung Deutsche Geschichte Norwegische Geschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 474 S., 19 s/w Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Thomas Sirges (Band-Herausgeber:in)

Thomas Sirges ist Professor für Deutsche Kulturkunde am Institut für Literatur, Kulturkunde und europäische Sprachen der Universität Oslo.

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