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Sinti und Roma in Europa

Die Bedeutung des Minderheitenschutzes und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

von Juliane Stephan (Autor:in)
©2020 Dissertation 438 Seiten

Zusammenfassung

Im juristischen Diskurs werden die Sinti und Roma meist in der Kategorie einer völkerrechtlichen Minderheit aufgerufen. Inwieweit die Sinti und Roma aber tatsächlich die Merkmale einer ethnischen oder sprachlichen Minderheit aufweisen, wird nur selten genauer erörtert. Dieser Frage geht die Autorin nach und beleuchtet außerdem, inwieweit der Minderheitenschutz überhaupt die drängendsten Probleme der Sinti und Roma in adäquater Weise adressieren kann. Ein besonderes Augenmerk legt die Autorin im Übrigen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welcher sich bereits in zahlreichen Urteilen mit den Anliegen von Sinti und Roma befasst hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Teil 1 Sinti und Roma in Deutschland und Europa
  • A. Begriffliche Grundlagen
  • I. Sinti und Roma
  • II. „Zigeuner“
  • III. Antiziganismus
  • B. Historischer Überblick
  • I. Ursprüngliche Herkunft und Wanderbewegung nach Europa
  • II. Ankunft im deutschen Sprachraum
  • III. Frühneuzeitliche Verfolgung
  • IV. Hintergründe der frühneuzeitlichen Verfolgung
  • V. Zwangsassimilation im Zeitalter der Aufklärung
  • VI. Vorarbeit zum Genozid
  • VII. Der Völkermord an den Sinti und Roma
  • 1. Verschärfung der „Zigeunerpolitik“: Zwangssterilisationen, Nürnberger Rassegesetze und „Zigeunerlager“
  • 2. Die polizeiliche „Zigeunerbekämpfung“ im Nationalsozialismus
  • 3. Die „Zigeunerforschung“ in der Wissenschaft
  • 4. Der Einfluss der nationalsozialistischen „Rasselehre“ auf die „Zigeunerpolitik“
  • 5. Deportation und Vernichtung
  • VIII. Antiziganismus in der Bundesrepublik
  • 1. Die bayerische „Landfahrerzentrale“ und „Landfahrerordnung“
  • 2. Wiedergutmachung
  • 3. Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma
  • IX. Sinti und Roma im Sozialismus
  • X. Ergebnis
  • C. Zur aktuellen Situation der Sinti und Roma
  • I. Zwischen Romantisierung und Diskriminierung – Ausprägungen von Antiziganismus in der Gegenwart
  • II. Antiziganistisch motivierte Gewalt
  • III. Die gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Situation von Sinti und Roma im heutigen Europa
  • IV. Interessenvertretungen
  • V. Ergebnis
  • D. Kulturelle Identität
  • I. Herkunft und Sprache
  • II. Religion und Beruf
  • III. „Zigeuner“-Stereotype als vermeintlich kulturelle Eigenarten
  • IV. Kultur der Armut und Bildungsferne?
  • V. Ergebnis
  • Teil 2 Das Konzept des modernen Minderheitenschutzes
  • A. Die historischen Grundlagen des modernen Minderheitenschutzes
  • I. Ursprünge in religiösen Schutzrechten
  • II. Anfänge des Schutzes ethnischer und nationaler Minderheiten
  • 1. Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts als Katalysator
  • 2. Die Wiener Kongressakte von 1815
  • III. Entwicklung eines internationalen Minderheitenrechts in der Völkerbund-Ära
  • 1. Die Minderheitenschutzverpflichtungen
  • 2. Die verfahrensrechtliche Seite des Minderheitenschutzes
  • 3. Bewertung des Minderheitenschutzsystems des Völkerbundes
  • IV. Ergebnis
  • B. Dimension des modernen Minderheitenschutzes
  • I. Menschenrechte und Minderheitenschutz
  • II. Minderheitenschutz zur Friedenssicherung
  • III. Die Elemente des Minderheitenschutzes
  • 1. Diskriminierungsverbot und Gleichheitsgrundsatz
  • 2. Spezielle Minderheitenrechte oder Minderheitenschutz im engeren Sinne
  • a. Inhalt spezieller Minderheitenrechte
  • aa. Positive Rechte als Teil des Minderheitenschutzes im engeren Sinne
  • bb. Affirmative action
  • cc. Beispiele spezieller Minderheitenrechte
  • b. Verhältnis von Diskriminierungsverboten und Minderheitenrechten
  • IV. Individual- oder Kollektivrechte im Minderheitenschutz
  • V. Eigene Bewertung
  • 1. Ausdruck verschiedener Gesellschaftsmodelle
  • 2. Ein kollektiver Ansatz als Gefahr für das Individuum
  • 3. Plädoyer für einen starken Individualbezug
  • C. Der Minderheitenbegriff
  • I. Fehlen einer einheitlichen Definition
  • II. Die einzelnen Elemente des Minderheitenbegriffs
  • 1. Objektive Elemente
  • a. Zahlenmäßige Unterlegenheit
  • b. Keine beherrschende Stellung
  • c. Staatsangehörigkeit
  • d. Stabilität
  • e. Besondere Charakteristika
  • aa. religiöse Minderheit
  • bb. sprachliche Minderheit
  • cc. ethnische Minderheit
  • 2. Subjektives Element
  • III. Der Begriff der nationalen Minderheit
  • IV. Eigene Bewertung
  • D. Der Schutz von Minderheiten im Völker- und Europarecht
  • I. Minderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen
  • 1. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte
  • a. Vorarbeiten zur Aufnahme eines speziellen Minderheitenschutzartikels
  • b. Art. 27 UN-Zivilpakt als zentrale Norm des universellen Minderheitenschutzes
  • c. Andere für den Minderheitenschutz bedeutsame Normen im Rahmen des UN-Zivilpakts
  • d. Durchsetzungsmechanismen
  • 2. Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören (UN-Minderheitendeklaration)
  • 3. Weitere für den Minderheitenschutz bedeutsame Regelungen auf UN-Ebene
  • a. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
  • b. Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord
  • c. Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen
  • d. Übereinkommen über die Rechte des Kindes
  • e. Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung
  • II. Minderheitenschutz im Rahmen der OSZE
  • 1. Die Schlussakte von Helsinki (1975)
  • 2. Wiener Abschlussdokument (1989)
  • 3. Kopenhagener Dokument (1990)
  • 4. Genfer Expertentreffen (1991)
  • 5. Das Amt des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten
  • 6. Der Begriff der nationalen Minderheit im KSZE/OSZE-Kontext
  • III. Minderheitenschutz im Rahmen der Europäischen Union
  • 1. Minderheitenschutz im EU-Primärrecht
  • a. Art. 2 Satz 1 EUV
  • b. Art. 21 und Art. 22 Europäische Grundrechtecharta
  • 2. Kompetenzen der EU zur Regelung minderheitenrelevanter Themen
  • a. Kulturförderung
  • b. Bildung
  • 3. Antidiskriminierungsmaßnahmen
  • 4. Der Minderheitenschutz im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
  • 5. Der Minderheitenschutz im Rahmen der Beitrittsprozesse
  • 6. Politische Initiativen zum Minderheitenschutz
  • 7. Finanzielle Förderung
  • 8. Bewertung
  • IV. Minderheitenschutz im Rahmen des Europarats
  • 1. Die Entwicklung des Minderheitenschutzes auf Europaratsebene
  • a. Initiativen der Parlamentarischen Versammlung
  • b. Der Entwurf der sogenannten Venedig-Kommission
  • c. Das Tätigwerden des Ministerkomitees
  • 2. Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
  • a. Grundsätzliche Haltung zum Minderheitenschutz
  • b. Das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK
  • aa. Zurückhaltung des EGMR
  • bb. Positive Leistungsrechte
  • c. Das Diskriminierungsverbot aus Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls
  • d. Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 10 und Art. 11 EMRK)
  • e. Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)
  • f. Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK)
  • g. Leiturteile im Bereich des Minderheitenschutzes
  • aa. Der Belgische Sprachenfall
  • bb. Gorzelik./.Polen
  • cc. Sejdić und Finci./.Bosnien und Herzegowina
  • h. Durchsetzungsmechanismen
  • aa. Individualbeschwerde
  • bb. Staatenbeschwerde
  • 3. Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten
  • a. Zielsetzung
  • b. Inhaltliche Ausgestaltung
  • aa. Grundkonzeption als Minderheitenschutzinstrument ohne kollektive Rechte
  • bb. Konkreter materiellrechtlicher Regelungsgehalt
  • cc. Kritik an der inhaltlichen Ausgestaltung
  • c. Durchsetzungsmechanismen
  • d. Der Begriff der nationalen Minderheit im Rahmenübereinkommen
  • aa. Systematische Auslegung im Lichte des übrigen Regelungsgehalts des Rahmenübereinkommens
  • bb. Haltung der Mitgliedstaaten
  • cc. Article-by-article-Ansatz des Beratenden Ausschusses
  • 4. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
  • a. Entstehungsgeschichte
  • b. Zielsetzung
  • c. Inhaltliche Ausgestaltung der Charta
  • aa. Der Sprachenbegriff der Charta
  • bb. Regelungsgehalt der Charta
  • cc. Durchsetzungsmechanismen
  • V. Ergebnis
  • Teil 3 Minderheitenschutz und Sinti und Roma
  • A. Die langjährige Verweigerung eines Minderheitenstatus für Sinti und Roma
  • B. Die Bezugnahme internationaler Organisationen auf die Situation der Sinti und Roma
  • I. Die Vereinten Nationen
  • 1. UN-Menschenrechtsausschuss
  • 2. UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung
  • 3. Engagement der UN-Organe
  • II. OSZE/KSZE
  • 1. Einrichten einer Kontaktstelle für Sinti und Roma
  • 2. Aktionsplan zur Verbesserung der Lage der Roma und Sinti im OSZE-Gebiet
  • 3. Field visits
  • 4. Berichte des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten
  • 5. Kritik von Seiten des Zentralrats
  • III. Europäische Union
  • 1. EU-Osterweiterungen als Katalysator
  • 2. Die Entschließungspraxis des Europäischen Parlaments und des Rates
  • a. Allgemeine Entschließungen zum Minderheiten- und Diskriminierungsschutz
  • b. Entschließungen speziell zur Situation der Sinti und Roma
  • c. Bewertung der Entschließungspraxis
  • 3. Die Ausweisungen von Sinti und Roma durch Frankreich im Jahr 2010
  • 4. Die Roma Gipfel und der EU-Rahmen zur Integration der Roma bis 2020
  • 5. Finanzielle Förderung zu Gunsten von Sinti und Roma
  • IV. Europarat
  • 1. Die Situation der Roma als Gegenstand der Arbeit der Organe des Europarats
  • 2. Kritik am Begriffsverständnis des Europarats
  • 3. Sinti und Roma als nationale Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens
  • 4. Romanes als Schutzobjekt der Sprachencharta
  • V. Ergebnis
  • C. Die Relevanz des Minderheitenschutzes für die Sinti und Roma
  • I. Die Sinti und Roma und der völkerrechtliche Minderheitenbegriff
  • 1. Numerische Unterlegenheit und nicht-dominante Stellung
  • 2. Staatsangehörigkeit und Stabilitätskriterium
  • 3. Ethnische, religiöse oder sprachliche Gemeinsamkeiten
  • 4. Subjektives Solidaritäts- und Identitätsgefühl
  • 5. Die Sinti- und Roma-Nationalbewegung
  • 6. Fazit
  • II. Die Zweckmäßigkeit des Minderheitenschutzes für die Situation der Sinti und Roma
  • 1. Zerstreute Siedlungsweise
  • 2. Heterogenität der europäischen Sinti und Roma
  • 3. Diskriminierung und prekäre Lebensumstände als Hauptprobleme
  • 4. Gesellschaftliche Integration statt Betonung der Andersartigkeit
  • 5. Beispiel: Das Recht auf eigene Bildungseinrichtungen
  • 6. Förderung gesellschaftlicher Exklusion und antiziganistischer Stereotype durch Minderheitenrechte
  • 7. Ergebnis
  • Teil 4 Die EMRK und ihre Bedeutung für die Rechte von Sinti und Roma
  • A. Vorabeinschätzung der Bedeutung der EMRK
  • I. Urteile des EGMR mit Sinti- und Roma-Bezug
  • II. Faktischer Zugang zur Beschwerdemöglichkeit
  • III. Die Wirkungskraft der EGMR-Urteile
  • 1. Die Bedeutung der EMRK als Katalog justiziabler Garantien
  • 2. Der Einzelfall als Teil einer erweiterten Strategie
  • 3. Die Individualbeschwerde als Empowerment-Prozess
  • 4. Öffentlichkeitswirkung der Urteile
  • IV. Ergebnis
  • B. Das Sinti- und Roma-Bild des EGMR
  • C. Die einzelnen Konventionsgarantien in der Sinti- und Roma-Rechtsprechung des EGMR
  • I. Das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK)
  • 1. Gewalt durch Polizeibeamte
  • a. Fälle gezielter Misshandlungen
  • b. Verwendung von Schusswaffen in Fluchtfällen
  • 2. Todesfälle besonders schutzbedürftiger Personen
  • 3. Ineffektive Ermittlungsarbeiten nach Todesfällen
  • 4. Ergebnis
  • II. Verbot der Folter (Art. 3 EMRK)
  • 1. Gewalt durch Polizeibeamte
  • 2. De facto-Zwangssterilisationen
  • 3. Ineffektive Ermittlungsarbeiten bei Misshandlungsvorwürfen
  • 4. Sonstige Verletzungen positiver Verpflichtungen
  • 5. Ergebnis
  • III. Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK)
  • IV. Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK)
  • V. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)
  • 1. Abstellverbote von Wohnwägen
  • a. Die erste Generation der Wohnwagenurteile
  • b. Die zweite Generation der Wohnwagenurteile
  • c. Die dritte Generation der Wohnwagenurteile
  • d. Die vierte Generation der Wohnwagenurteile
  • 2. Räumung einer illegalen Roma-Siedlung
  • 3. De facto-Zwangssterilisationen
  • 4. Roma-feindliche Aussagen in Publikationen
  • 5. Ergebnis
  • VI. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK)
  • VII. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK)
  • VIII. Das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK)
  • 1. Gewalt durch Polizeibeamte
  • a. Die Crux mit der Beweislast
  • b. Annahme einer Beweislastumkehr in Stoica./.Rumänien
  • c. Bewertung
  • 2. Ermittlungsarbeiten infolge rassistischer Übergriffe
  • 3. Gerichtlicher Umgang mit Sinti und Roma
  • 4. Abstellverbote von Wohnwägen
  • 5. Räumung einer illegalen Roma-Siedlung
  • 6. Segregation im Unterrichtwesen
  • a. Die wegweisende Leitentscheidung D.H. u.a./.Tschechische Republik
  • b. Hieran anknüpfende Entscheidungen
  • c. Rezeption und Kritik
  • 7. Anerkennung einer „Roma-Hochzeit“
  • 8. Roma-feindliche Aussagen in Publikationen
  • 9. De facto-Zwangssterilisationen
  • 10. Ergebnis
  • Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Seit dem Jahr 2013 hält die Frankfurter Regionalpresse ein wiederkehrendes Thema in Atem: Osteuropäische Obdachlose, die in der Stadt illegale Siedlungen errichten. Die Rede ist stets vom „Roma-Slum“, dem „Rumänen-Elendsquartier“ oder dem „Bettlerlager“.1 Im Frühjahr 2016 bezogen beispielsweise 30 rumänische Staatsbürger2 ein verlassenes Industriegelände im Frankfurter Gutleutviertel und lebten dort mehrere Monate ohne fließendes Wasser oder Anschluss an sonstige Infrastruktur. Zum Teil gingen die Bewohner einer festen Arbeit nach; sie konnten sich allerdings eine normale Wohnung in Frankfurt schlichtweg nicht leisten. Nach langer Diskussion wurde die Brache schließlich Anfang 2017 geräumt, weil Brandgefahr bestanden hatte und die hygienischen Zustände untragbar geworden waren.3 Seit 2013 wiederholt sich dieses Szenario fast jährlich in Frankfurt in der einen oder anderen Form. In der Tat ist es so, dass es sich zumindest bei einigen der Bewohner der jeweiligen Siedlung nach eigenen Angaben um Roma gehandelt hat.

Die Situation der Sinti und Roma ist also in einer reichen Stadt wie Frankfurt am Main durchaus ein Thema. In fast allen europäischen Großstädten leben Sinti und Roma – oftmals unter ähnlich erschwerten Bedingungen. Es handelt sich um eine Problematik von mindestens europaweiter Dimension, die enorme gesellschaftliche Sprengkraft besitzt. Deshalb befassen sich auch internationale Organisationen seit vielen Jahren auf vielfältige Art und Weise mit den Sinti und Roma und dabei mit der Frage, wie eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation erreicht werden kann.

Ein gutes Beispiel für derartiges Engagement war die sogenannte Roma-Dekade. Im Februar 2005 unterzeichneten die Regierungen von Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, Serbien, Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn eine Erklärung, mit welcher die Decade of Roma Inclusion, 2005 – 2015 ausgerufen wurde.4 Später schlossen sich noch Albanien, Bosnien-Herzegowina, ←19 | 20→Montenegro und Spanien der Initiative an. Die teilnehmenden Staaten verpflichteten sich, ihre Bemühungen zur Beseitigung der Diskriminierung der Roma zu verstärken, deren Integration zu fördern und dazu nationale Decade Action Plans auszuarbeiten. Als Tätigkeitsschwerpunkte wurden die Bereiche Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen ausgewählt. Unterstützt wurde die Roma-Dekade von der Europäischen Union und den Vereinten Nationen sowie auf privater Seite insbesondere von der Soros-Stiftung, die die Dekade auch initiiert hatte.5

Eine Möglichkeit, wie der Problematik auf juristischer Ebene begegnet werden kann, ist der völkerrechtliche Minderheitenschutz. Die Sinti und Roma werden gerne als Europas größte Minderheit bezeichnet. In vielen Staaten sind sie als nationale Minderheit offiziell anerkannt – auch in Deutschland. Damit geht einher, dass die Gewährleistungen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes, wie sie sich etwa aus dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats ergeben, auch auf die Sinti und Roma Anwendung finden. In den meisten juristischen Arbeiten zu diesem Thema wird der Status der Sinti und Roma als völkerrechtliche Minderheit selbstverständlich angenommen und nicht weiter hinterfragt. Ziel dieser Arbeit soll es daher sein, bei kritischer Würdigung des Konzeptes des Minderheitenschutzes insgesamt, genauer zu beleuchten, inwiefern der Begriff der völkerrechtlichen Minderheit für die Sinti und Roma überhaupt passend ist und ob sie die Kriterien für die Einordnung als völkerrechtliche Minderheit erfüllen. Ein wichtiger Aspekt stellt dabei die Frage dar, ob die Gewährleistungen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes, wie sie etwa in dem eben benannten Rahmenübereinkommen zu finden sind, eine Verbesserung der Situation der Sinti und Roma bewirken können oder nicht vielmehr kontraproduktiv sind.

Neben dem Minderheitenschutz soll auch untersucht werden, inwiefern klassisch individualrechtliche Menschenrechtsgarantien, allen voran Diskriminierungsverbote, eine wichtige Rolle hierbei spielen können. Das zentrale Menschenrechtsschutzinstrument Europas, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), findet in der Literatur nur ←20 | 21→selten oder sehr stiefmütterlich Erwähnung, wenn es darum geht, das Bemühen internationaler Akteure in diesem Bereich zu skizzieren. Dies verwundert, da die in ihr verbrieften Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sogar justiziabel sind. Daher soll in dieser Arbeit auch der Nutzen der EMRK für die konkreten Belange der Sinti und Roma anhand einer eingehenden Betrachtung der Sinti- und Roma-Rechtsprechung des EGMR analysiert werden.

Methodisch wird zur Erreichung der angestrebten Ziele ein vierteiliger Aufbau gewählt. Notwendige Grundlage der Arbeit bildet die Erfassung der Situation der Sinti und Roma in Europa. Nach einer kurzen Erläuterung der für die Arbeit zentralen Begrifflichkeiten wird daher im ersten Teil ein historischer Überblick über die Geschichte der Sinti und Roma in Europa gegeben. Dabei wird – auch wegen der Bedeutung des nationalsozialistischen Völkermordes für die Sinti und Roma in ganz Europa – der Schwerpunkt auf Deutschland gelegt. Anschließend wird näher auf die gegenwärtige soziökonomische Lage der Sinti und Roma in Europa und die Verbreitung eines spezifisch auf sie bezogenen Rassismus eingegangen sowie auf das Verhältnis beider Aspekte. Der erste Teil schließt mit dem Versuch, die kulturelle Identität der Sinti und Roma zu skizzieren und gängige Vorstellungen davon auf ihren Realitätsbezug zu überprüfen.

Im zweiten Teil wird sodann das Konzept des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes näher beleuchtet, da die Betonung des Minderheitenstatus der Sinti und Roma allgegenwärtig ist und diesem für die rechtliche Einordnung ihrer Situation offenbar eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Dabei werden zunächst die historischen Grundlagen des Minderheitenschutzes erläutert, die bis in die Frühe Neuzeit zurückreichen. Bevor ein genauer Blick auf die bis heute umstrittene Definition der völkerrechtlichen, das heißt der ethnischen, religiösen, sprachlichen oder nationalen Minderheit geworfen wird, erfolgt eine Analyse der Zielsetzung und Grundkonzeption des Minderheitenschutzes. Verbunden wird dies mit einer Auseinandersetzung mit der kollektivschützenden Ausrichtung des Minderheitenschutzes. Den Abschluss des zweiten Teils bildet ein Überblick über die Instrumentarien des Minderheitenschutzes im Völker- und Europarecht.

Der dritte Teil stellt anschließend die Verbindung her zwischen der konkreten Situation der Sinti und Roma und den Zielsetzungen des Minderheitenschutzes. Zunächst wird beleuchtet, inwieweit die verschiedenen Systeme des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes tatsächlich auf die Sinti und Roma Bezug nehmen und deren Organe die Sinti und Roma auch als Minderheit begreifen. Sodann wird geprüft – und dies bildet einen der Hauptteile der Arbeit –, ob sich die Sinti und Roma bei genauerer Betrachtung überhaupt und ohne weiteres von der ←21 | 22→gängigen Definition der völkerrechtlichen Minderheit erfassen lassen. In einem zweiten Schritt wird schließlich analysiert, ob der Minderheitenschutz zu einer Verbesserung der Lage der Sinti und Roma beitragen kann.

Nachdem die Wirkungskraft des Minderheitenschutzes in Bezug auf die Sinti und Roma im dritten Teil erläutert wurde, wird im vierten und letzten Teil schließlich der Fokus auf die Europäische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten gelegt. Ziel soll hierbei sein, die tatsächliche Bedeutung eines klassisch individualrechtlich ausgestalteten Menschenrechtsschutzinstruments wie der EMRK für die Belange der Sinti und Roma der entsprechenden Bedeutung des Minderheitenschutzes direkt gegenüber zu stellen. Dabei wird eine extensive Rechtsprechungsanalyse der EGMR-Urteile vorgenommen, die ihren Schwerpunkt im Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK findet. In der Analyse werden ausschließlich Fälle aufgegriffen, in denen die Beschwerdeführer Sinti und Roma waren und die von der Kammer oder der Großen Kammer des EGMR entschieden wurden. Obwohl es eine ganze Fülle entsprechender Urteile gibt, findet dies in Facharbeiten zum Thema nur sehr selten Beachtung.

Diese Arbeit stellt den Versuch dar, eine Lücke zu schließen, indem sie das grundsätzliche Konzept des Minderheitenschutzes sowie dessen Bedeutung für die Sinti und Roma kritisch beleuchtet. Beides hat bisher in der deutschsprachigen juristischen Literatur nur unzureichend stattgefunden. Zudem möchte die Arbeit das Blickfeld auf die EMRK lenken, welcher bisher generell zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde bei der Beurteilung der Relevanz völkerrechtlicher Schutzsysteme für die Sinti und Roma.


1 Voigts, Ein Slum mitten in Frankfurt; Palm, Slum mit Skyline-Blick; Ortmann, Schlagenhaufer, Pohl, Mancuso, Bettler-Horrorlager an der Weißfrauenkirche.

2 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form benutzt. Es können dabei aber sowohl männliche als auch weibliche Personen gemeint sein.

3 Majic, Baracken-Slum im Gutleutviertel wird geräumt.

4 Zur Dekade vgl. etwa: Nenkova, Jahrzehnt für die Integration der Roma.

5 Zwar gelang es der Initiative, die Notwendigkeit der Integration der Sinti und Roma in den öffentlichen Fokus zu rücken. Eine flächendeckende Veränderung der Lebensrealität der Sinti und Roma konnte hierdurch allerdings nicht erreicht werden. Gründe für den geringen Erfolg der Dekade werden in den zu hoch gesteckten Zielen bei zu knapp bemessener Zeit gesehen, sowie in dem Unwillen der Regierungen, tatsächliche Veränderungen zu bewirken. Vgl. etwa das Fazit der Gesellschaft für bedrohte Völker: Wolff, „Erste Schritte und große Versprechen“.

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Teil 1 Sinti und Roma in Deutschland und Europa

Seit Jahrhunderten sind Sinti und Roma in Europa ansässig und fester Bestandteil europäischer Geschichte. In vielen Staaten, insbesondere in (Süd-)Osteuropa, stellen sie einen beachtlichen Anteil der Gesamtbevölkerung dar. Bezogen auf ganz Europa wird ihre Zahl heute auf 10 bis 12 Millionen geschätzt, wobei Sinti und Roma in fast allen europäischen Staaten zu finden sind.6 In Deutschland leben heute groben Schätzungen zufolge circa 70.000 Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit.7 1995 wurden sie neben den Friesen, Dänen und Sorben von der Bundesrepublik offiziell als nationale Minderheit anerkannt.8

A. Begriffliche Grundlagen

Wenn es um das Thema Sinti und Roma geht, finden oftmals auch Begriffe wie „Zigeuner“ oder „Fahrendes Volk“ Verwendung. Da diese Begrifflichkeiten nicht unproblematisch sind, erscheint es notwendig, zunächst einmal den Hintergrund und die Bedeutung der verschiedenen Termini aufzuzeigen, bevor ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung und die aktuelle Situation der Sinti und Roma geworfen wird.

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I. Sinti und Roma

Im deutschen Sprachraum fungiert der Doppelbegriff Sinti und Roma als die am häufigsten verwendete Bezeichnung der gesamten Bevölkerungsgruppe.9 Er wird von der Mehrheit der Betroffenen favorisiert und stellt somit eine Selbstbezeichnung dar.10 Beide Begriffe entstammen dabei dem Romanes, der Sprache der Sinti und Roma. Mit Sinti sind dabei diejenigen unter ihnen gemeint, die seit Jahrhunderten in West- und Mitteleuropa beheimatet sind und meist die entsprechende Staatsangehörigkeit besitzen; als Roma werden dagegen diejenigen bezeichnet, die sich zunächst im (süd-)osteuropäischen Raum angesiedelt haben, heute noch dort leben oder seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach West- beziehungsweise Mitteleuropa migriert sind.11

Anders als im deutschen Sprachraum wird im internationalen Kontext Roma als Überbegriff für alle Gruppen und Einzelpersonen verwendet, die sich der Minderheit im weitesten Sinne zugehörig fühlen.12 Die Minderheit als ganze besteht aus zahlreichen Untergruppen, deren spezielle Eigenbezeichnungen in vielen Fällen an die ursprünglich ausgeübten Berufe angelehnt sind. So sind zum Beispiel die sogenannten Lovara (abgeleitet von , ungarisch für Pferd) eine Gruppe, die lange Zeit vom Pferdehandel lebte und in Ungarn beheimatet war. Die sogenannten Kalderaš (abgeleitet von caldare, rumänisch für Kübel/Eimer) stellten dagegen vorwiegend in Rumänien als Kesselflicker und -schmiede Kupferkessel her.13

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Auch die Sinti stellen eine der zahlreichen Untergruppen dar. Da sie die Gruppe sind, die am längsten in Mittel- und Westeuropa ansässig ist, hat sich im deutschen Sprachgebrauch der oben bezeichnete Doppelbegriff durchgesetzt trotz der begrifflichen Inkonsistenz (Kombination der Bezeichnung einer Teilgruppe mit der Bezeichnung für die Gesamtgruppe). Besonderen Wert hierauf legen insbesondere Vertretungsorgane wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, in welchen mehrheitlich Sinti-Repräsentanten organisiert sind. Da es ihnen ein Bedürfnis ist, dass ihre distinkte Sinti-Identität anerkannt wird, liegt es in ihrem Interesse, dass sich dies auch begrifflich niederschlägt.

Da es sich bei dieser Dissertation um eine deutschsprachige Arbeit handelt, soll hier überwiegend der Doppelbegriff entsprechend seiner Bedeutung im deutschen Sprachraum verwendet werden. Wird allerdings ausschließlich auf die Situation in (Süd-)Osteuropa Bezug genommen, wird der einfache Begriff Roma herangezogen.

II. „Zigeuner“

Neben den eben erläuterten Begrifflichkeiten ist auch die Bezeichnung „Zigeuner“ im deutschen Sprachgebrauch existent.14 „Zigeuner“ stellt aber nicht, wie lange vermutet wurde, eine Verschmelzung von „ziehender Gauner“ dar, sondern leitet sich wohl von dem griechischen Wort Athinganoi ab, was so viel bedeutet wie „Unberührbare“. Als Athinganoi wurden im Mittelalter die Mitglieder einer gnostischen Sekte bezeichnet, die vor allem im westlichen Anatolien verbreitet war und im Verdacht stand, Zauberei und Wahrsagerei zu betreiben. Eventuell hatten die Sinti und Roma mit ihnen Kontakt; warum genau die Sinti und Roma mit Ihnen begrifflich in Verbindung gebracht wurden ist allerdings nicht geklärt.15

Von den meisten Sinti und Roma und ihren Interessenvertretungen wird die Bezeichnung „Zigeuner“ als diskriminierend empfunden und daher abgelehnt.16 ←25 | 26→Anders als beim Begriffspaar Sinti und Roma, welches eine Selbstbezeichnung darstellt, handelt es sich bei „Zigeuner“ um eine Fremdbezeichnung, die der Minderheit von der Mehrheitsgesellschaft auferlegt wurde und eben nicht dem Romanes selbst entsprungen ist.17

Der Begriff „Zigeuner“ ist mit einer Geschichte der Verfolgung und Stigmatisierung verbunden und mit einer Reihe negativer Vorurteile behaftet, die seit der Ankunft der Sinti und Roma in Europa im 13./14. Jahrhundert bestehen.18 Die Mehrheitsgesellschaft assoziiert mit ihm bestimmte Eigenschaften und konstruiert so ein stereotypes „Zigeunerbild“. Mit der Bezeichnung geht die automatische und pauschale Zuordnung zu einer sozialen Randgruppe einher, die als umherziehend, verarmt, delinquent und arbeitsscheu angesehen wird und somit das Gegenbild zum rechtschaffenden Bürger darstellt. Neben diesen negativen Merkmalen werden mit dem „Zigeunerbegriff“ auch romantische und mystische Vorstellungen verknüpft. So existiert das Bild vom exotischen, naturverbundenen und lustigen „Zigeunerleben“, welches vermehrt in Kunst und Literatur aufgegriffen wurde und wird. Hierdurch wird eine romantisierende Sehnsucht der Mehrheitsbevölkerung bedient.19 Die genannten Attribute sind mittlerweile untrennbar mit dem „Zigeunerbegriff“ verbunden:

Die antiziganistischen Stereotype, etwa „Nomadentum“, „Betteln“ oder „Diebstahl“, die über die Jahrhunderte herangezogen wurden, um Verfolgung und Diskriminierung zu legitimieren, treten nicht wie zufällige Ergänzungen oder beliebig austauschbare Adjektive zur hier thematisierten Bezeichnung hinzu. Vielmehr sind sie im Laufe der Zeit so ←26 | 27→sehr mit dieser verschmolzen, dass die Bezeichnung diese Bilder notwendig beinhaltet und nicht losgelöst von ihnen gebraucht werden kann.20

Durch die Verwendung des „Zigeunerbegriffs“ für Sinti und Roma werden die stereotypen Bilder, die mit ihm verknüpft sind, automatisch auf diese übertragen. So werden die Sinti und Roma zur Projektionsfläche antiziganistischer Klischees. Die Wahrnehmung der Sinti und Roma durch die Mehrheitsgesellschaft bewegt sich dementsprechend zwischen zwei ambivalenten Stereotypen, nämlich dem der Ablehnung und Ausgrenzung einerseits und der Romantisierung andererseits.

Nicht nur Sinti und Roma werden mit dem Stigma „Zigeuner“ belegt. Auch andere Gruppen, wie die vorwiegend in Irland und Großbritannien verbreiteten Irish Travellers oder die in der Schweiz und Süddeutschland lebenden Jenischen sind hiervon betroffen. Ihnen allen gemein ist, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft als unangepasst und nicht rechtsschaffend und daher als „Zigeuner“ oder „fahrendes Volk“ wahrgenommen werden.21

Aus den eben genannten Gründen wird der Begriff „Zigeuner“ in der Wissenschaft kaum mehr als neutrale Bezeichnung für die Sinti und Roma verwendet.22 Auch von der Autorin wird der Begriff „Zigeuner“ auf Grund seines diskriminierenden Charakters und aus Respekt vor dem Wunsch der Mehrheit der Sinti und Roma, nicht als „Zigeuner“ bezeichnet zu werden, abgelehnt. Da auf ihn ←27 | 28→im Rahmen der Erläuterung des historischen und gesellschaftlichen Kontextes nicht verzichtet werden kann, wird er als Zeichen der Distanzierung in Anführungszeichen gesetzt. Es sei jedoch angemerkt, dass ein bloßer Verzicht auf die Fremdbezeichnung und die Verwendung der Selbstbezeichnung das Problem eines antiziganistischen Sprachgebrauchs nur zum Teil löst. Antiziganistische Vorurteile und Stereotype lassen sich nämlich auch auf die Doppelbezeichnung Sinti und Roma übertragen. Auch diese Begriffe werden häufig in ebenso ressentimenthafter Weise gebraucht und dienen so als Träger des oben benannten rassistischen Konstrukts. Dies spricht nicht gegen eine Verwendung der Eigenbezeichnung, soll aber verdeutlichen das eine Verwendung derselbigen nicht automatisch vor antiziganistischen Inhalten schützt.23

III. Antiziganismus

Antiziganismus bezeichnet die Feindseligkeit gegenüber Sinti und Roma, umfasst dabei (historisch gewachsene) Vorurteile und Stereotype und reicht von Reserviertheit und Ablehnung bis zur physischen Verfolgung.24 Valeriu Nicolae, der aktuelle Special Representative of the Secretary General for Roma Issues des Europarates, schlägt folgende Definition von Antiziganismus (im Englischen: Anti-Gypsyism) vor: “Anti-Gypsyism is a specific form of racism, an ideology of racial superiority, a form of dehumanisation and of institutional racism […] fuelled by historical discrimination”.25 Der deutsche Antiziganismusforscher Markus End stellt auf eine „dreiteilige abstrakte“ Definition ab:

Antiziganismus bezeichnet ein historisch gewachsenes und sich selbst stabilisierendes soziales Phänomen, das eine homogenisierende und essentialisierende Wahrnehmung und Darstellung bestimmter sozialer Gruppen und Individuen unter dem Stigma „Zigeuner“ oder anderer verwandter Bezeichnungen, eine damit verbundene Zuschreibung spezifischer devianter Eigenschaften an die so Stigmatisierten sowie vor diesem Hintergrund entstehende diskriminierende soziale Strukturen und gewaltförmige Praxen umfasst.26

←28 | 29→

Wie sich aus Ends Definition ergibt, sind auch andere Gruppen als die Sinti und Roma Adressaten von Antiziganismus. Dies betrifft etwa die Irish Travellers, die Jenischen oder andere angeblich „unangepasst“ Lebende, die mit dem Stigma „Zigeuner“ belegt werden.27

Der Begriff des Antiziganismus ist verhältnismäßig jung und tauchte im Englischen als Anti-Gypsyism erstmals 2005 in einer Entschließung des Europäischen Parlaments auf.28 Mittlerweile ist er ein fester Begriff auf der Agenda internationaler Organisationen wie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder des Europarats. Obwohl der Begriff des Antiziganismus in der Wissenschaft nach wie vor umstritten ist, erfährt er immer weitere Verbreitung und Akzeptanz.29

B. Historischer Überblick

Die Sinti und Roma verbindet mit Europa eine jahrhundertelange, facettenreiche Geschichte. Die Erforschung dieser Geschichte gestaltet sich jedoch seit jeher schwierig, da das Romanes ursprünglich keine Schriftsprache war und somit keinerlei historische Selbstzeugnisse der Sinti und Roma existieren. Nichtsdestotrotz soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die Historie der Sinti und Roma in Europa verschafft werden. Eine umfassende und vollständige Darstellung unter Berücksichtigung aller historischen Entwicklungen in sämtlichen ←29 | 30→europäischen Staaten würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.30 So beziehen sich die folgenden Ausführungen schwerpunktmäßig auf Deutschland.

I. Ursprüngliche Herkunft und Wanderbewegung nach Europa

Lange Zeit existierten in Europa wilde und teils skurrile Spekulationen über die ursprüngliche Herkunft der Sinti und Roma.31 Verbreitet war etwa die Theorie, dass sie eigentlich deutsche Juden seien, die sich im 14. Jahrhundert zum Schutz vor Verfolgung über 50 Jahre lang im Wald und in Höhlen versteckt gehalten hätten und sich anschließend als Sinti und Roma ausgegeben hätten, um ihre eigentliche Herkunft zu verschleiern.32

Erst 1782 gelang es dem Sprachwissenschaftler Johann Christian Christoph Rüdiger, den Nachweis über die Verwandtschaft des Romanes mit dem alt-indischen Sanskrit zu erbringen.33 Auf Grund dieses Sprachvergleichs gilt die Herkunft der Sinti und Roma aus dem nordwestlichen Indien heute als erwiesen. Zwischen dem 5. und dem 13. Jahrhundert, wie in der Wissenschaft angenommen wird, verließen die Vorfahren der Sinti und Roma in mehreren Intervallen und einzelnen Gruppen Indien in Richtung Europa. Auf Grund der Sprachfärbung der einzelnen Romanes-Dialekte kann davon ausgegangen werden, dass sich die Wanderbewegung über Persien, Armenien, Griechenland und die südslawische Region erstreckte.34 Zudem existieren verschiedene byzantinische und europäische Quellen, die auf die Anwesenheit von Sinti und Roma in diesen ←30 | 31→Gebieten schließen lassen.35 Heute geht die Wissenschaft mehrheitlich davon aus, dass äußere Faktoren wie Verfolgung, Vertreibung und wirtschaftliche Zwänge Anlass für die stetige Migration waren und nicht – wie lange angenommen wurde – ein natürlich veranlagter Wandertrieb der Sinti und Roma.36

Die erstmalige Ausbreitung der Sinti und Roma nach Mittel- und Westeuropa im 14. und 15. Jahrhundert hing mit den Eroberungen des osmanischen Reiches in Kleinasien und Südosteuropa zusammen. Viele flüchteten vor den nahenden Osmanen und den drohenden Bürgerkriegen. Ein großer Teil der Sinti und Roma blieb jedoch in den osmanisch besetzten Gebieten, konvertierte zum Teil zum Islam und war in das osmanische Heer eingegliedert.37 In den rumänischen Fürstentümern Walachei und Moldau fielen die Sinti und Roma als sogenannte „Zigeunersklaven“ der Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft durch Kirche oder Großgrundbesitzer zum Opfer. Als Sklaven lebten viele Sinti und Roma als Handwerker und Händler vom Reisegewerbe und mussten ihrem Herrn einen Jahreszins zahlen.38 Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Leibeigenschaft in den altrumänischen Fürstentümern abgeschafft.

II. Ankunft im deutschen Sprachraum

Mitte des 15. Jahrhunderts waren die Sinti und Roma bereits in fast alle europäischen Länder vorgedrungen. Erstmals urkundlich erwähnt auf deutschem ←31 | 32→Gebiet wurden die Sinti 1407 in den „Kämmereirechnungen“ der Stadt Hildesheim, in denen die Bewirtung von sogenannten „Tataren“ vermerkt ist.39 Der Begriff „Tataren“ wurde lange Zeit vor allem in Norddeutschland als Synonym für „Zigeuner“ gebraucht.40

Zunächst genossen die Sinti im deutschen Sprachraum weitgehende Gastfreundschaft und wurden von der ansässigen Bevölkerung zwar misstrauisch jedoch mehr oder minder offen empfangen. Mit sogenannten Schutz- oder Geleitbriefen, die ihnen etwa von Sigismund, dem König des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1410–1437) und späteren deutsch-römischen Kaiser (1433–1437), ausgestellt wurden, war es ihnen möglich, meist unbehelligt durch die Gebiete des Reiches zu ziehen.41 Doch neben Interesse und Akzeptanz, die den Sinti in der Anfangszeit entgegengebracht wurden, traten schnell erste Anzeichen von Ablehnung und Verfolgung. Aus den Jahren 1448 bis 1497 existieren beispielsweise mehrere Aufzeichnungen in den Büchern der Stadt Frankfurt am Main, die die Vertreibung von Sinti-Gruppen aus der Stadt dokumentieren.42 Schließlich wurden in vielen Territorien des Reiches Gesetze und Edikte durch die Obrigkeiten erlassen, die den Aufenthalt von „Zigeunern“ in ihrem Gebiet untersagten, wie etwa 1472 durch Friedrich I., Kurfürst der Pfalz, oder 1482 durch Kurfürst Albrecht Achilles von Brandenburg.43 Auf den Reichstagen von Lindau und Freiburg von 1496/97 und 1498 wurde der Schutzbrief Sigismunds von den dort versammelten weltlichen und geistlichen Machthabern des Reiches (sogenannte Reichsstände) aufgehoben. Im Reichsabschied von Freiburg, welcher die Beschlüsse des Reichstags zusammenfasste, wurde den Sinti der Aufenthalt im gesamten Reich untersagt und sie wurden für vogelfrei erklärt. Von da an befanden sie sich somit in einem Zustand völliger Rechtlosigkeit; sie waren zur Verfolgung, Folterung und Tötung freigegeben.44

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III. Frühneuzeitliche Verfolgung

Die Bestimmungen in den Reichsabschieden von Lindau und Freiburg lösten eine Welle von „Zigeuneredikten“ in den einzelnen Fürstentümern und Herrschaftsgebieten des Reiches aus, mit denen ein Aufenthalt der Sinti und Roma im jeweiligen Territorium verhindert werden sollte. Vor allem nach Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 stieg die Zahl der sie betreffenden Polizeiordnungen und Einzelgesetze stark an, was wohl vor allem an der Zersplitterung des Reichs in zahlreiche Kleinstaaten als Folge des Westfälischen Friedens lag, aber auch daran, dass der Krieg die Zahl der umherziehenden Personen stark hatte steigen lassen.45 Da sie als umherziehendes Volk (wobei hier anzumerken ist, dass ihnen ein dauerhaftes Niederlassen auf Grund der ständigen Vertreibung verwehrt wurde) das Gegenstück zum Leitbild eines sesshaften und geschlossenen Gemeinwesens bildeten, wurden die Sinti, sowie andere mobile Gruppen dauerhaft kriminalisiert und reglementiert. Angedroht wurde ihnen Militär- und Galeerendienst, Landesverweisung meist in Kombination mit Prügelstrafen und Brandmarkung, Zuchthaus- und sogar die Todesstrafe.46 Fokussiert wurde durch die Obrigkeiten auch die Zerstörung des Familienverbandes – so wurden zahlreichen Eltern die Kinder entrissen und zwangsweise in christlichen Erziehungsanstalten untergebracht.47 Hier zeigten sich erste Formen von Zwangsassimilation.

Im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Gesetzgebung wird nochmals deutlich, dass der Begriff „Zigeuner“ nicht nur die ethnische Gruppe der Sinti und Roma bezeichnete, sondern vielmehr ein Synonym für umherziehende und (im Sinne der Obrigkeiten) „kriminelle Vaganten“ war, was die negative Konnotation des Begriffs weiter verdeutlicht.48 Trotz der Verfolgung konnten die Sinti in manchen Territorien von handwerklichen Tätigkeiten, Handel oder künstlerischen Darbietungen leben und wurden trotz Ablehnung geduldet.

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IV. Hintergründe der frühneuzeitlichen Verfolgung

Hier drängt sich unweigerlich die Frage auf, warum den Sinti und Roma derartige Ablehnung entgegenschlug. Die deutsche Ethnologin Katrin Reemtsma begründete dies abschließend damit, dass die Sinti und Roma als zugereiste Fremde zur „Projektionsfläche für spätmittelalterliche Ängste und Mißstände“ wurden.49 In einer Zeit der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit dienten sie, aber auch andere stigmatisierte Gruppen wie Bettler oder Juden, der Bevölkerung als willkommene Sündenböcke. Vor allem der haltlose Verdacht, die Sinti und Roma seien als osmanische Spione tätig, diente als Katalysator für die zunehmende Verfolgung in einer Gesellschaft, in der die Angst vor den herannahenden Türken groß war.50 Auf Grund ihrer als fremdartig und exotisch empfundenen Erscheinung wurden sie schnell für die Pest und andere Katastrophen verantwortlich gemacht. Die Initiatoren dieser negativen Zuschreibungen verfolgten oft einem Selbstzweck. Die sich in einer Krise befindliche katholische Kirche etwa, der die Wahrsagerei der Sinti und Roma ein Dorn im Auge war, erhoffte sich durch Zauberei- und Hexereivorwürfe, das Vertrauen der Bevölkerung in die Kirche zu stärken. Auch die Handwerkszünfte und Handelsgilden hatten Interesse daran, wirtschaftliche Konkurrenz, wie die als Handwerker und Händler umherziehenden Sinti und Roma, auszuschalten.51

Die Stigmatisierung und Verfolgung der Sinti und Roma in Europa ist folglich ein Phänomen, welches seine Anfänge schon in der Frühen Neuzeit, kurz nach ihrer Ankunft auf europäischem Territorium, findet. Den Höhepunkt dieser Verfolgungsgeschichte stellte die systematische Vernichtung der Sinti und Roma während des deutschen Nationalsozialismus dar, für die die frühneuzeitliche „Zigeunerpolitik“ die ersten Weichen legte.

V. Zwangsassimilation im Zeitalter der Aufklärung

Im Zeitalter der Aufklärung wandelte sich die bisherige Vertreibungs- und Verfolgungspolitik zu einer Politik der Zwangsassimilation. Besonders hervorzuheben ←34 | 35→sind die Assimilierungsversuche durch Maria Theresia von Österreich und ihrem Sohn Joseph II. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erließen sie mehrere Vorschriften, die darauf abzielten, den Sinti und Roma die kulturelle Identität zu rauben und sie zu „zivilisieren“.52 Dies beinhaltete unter anderem die Zwangssesshaftmachung, ein Verbot des Romanes, reiner Sinti- und Roma-Ehen sowie klassischer Sinti- und Roma-Berufe sowie die erzwungene Unterbringung von Kindern in christlichen Einrichtungen oder Pflegefamilien.53 Ähnliche Initiativen wurden auch in anderen Herrschaftsgebieten ergriffen, wie etwa durch Friedrich II. von Preußen, der die Gründung von sogenannten „Zigeunerkolonien“ anordnete, um umherziehende Sinti und Roma fest anzusiedeln.54 Die meisten dieser Vorhaben waren jedoch wenig erfolgreich, da ihnen seitens der Betroffenen massiver Widerstand entgegengebracht wurde.55

VI. Vorarbeit zum Genozid

Nach der Reichsgründung 1871 setzte sich die restriktive „Zigeunerpolitik“ der vergangenen Epochen weiter fort und ging einher mit dem Aufbau eines straffen Verwaltungsapparates nach preußischem Vorbild. Infolge der Abschaffung der Leibeigenschaft in der Moldau und der Walachei migrierten viele Roma auf der Suche nach erträglicheren Lebensbedingungen auch nach Deutschland.56 Die Antwort des deutschen Reiches war jedoch in vielen Fällen die Verweigerung der Einreise beziehungsweise die Abschiebung der ausländischen Roma. Die Sinti und Roma, die sich im Reich aufhielten, wurden strengen Kontrollen und Reglementierungen unterworfen, zum Beispiel durch die Einführung von Wandergewerbescheinen, Meldepflichten und Gruppenreiseverboten.57 Im Jahre 1906 erging schließlich in Preußen die „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, die die diversen administrativen Regelungen zu bündeln versuchte. ←35 | 36→Sie sah neben präventiven Maßnahmen wie die äußerste Zurückhaltung bei der Ausstellung von Ausweispapieren oder Wandergewerbescheinen auch repressive Maßnahmen wie die Beobachtung und Auflösung „umherziehender Zigeunerbanden“ vor.58 Die zahlreichen neuen Regelungen machten den Sinti und Roma das Ausüben eines legalen Gewerbes nahezu unmöglich, sodass die Kriminalität für viele Familien die einzige Möglichkeit zur Existenzsicherung war.

Details

Seiten
438
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631810231
ISBN (ePUB)
9783631810248
ISBN (MOBI)
9783631810255
ISBN (Hardcover)
9783631797365
DOI
10.3726/b16480
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Europarat Antiziganismus Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten Diskriminierungsverbot Diskriminierung Europäische Menschenrechtskonvention Minderheitenrechte Minderheit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, 2020., 438 S.

Biographische Angaben

Juliane Stephan (Autor:in)

Juliane Stephan studierte Rechtswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Université de Genève. Ihr Rechtsreferendariat absolvierte sie am Landgericht Frankfurt am Main mit Ausbildungsstationen an der Deutschen Botschaft in Sofia und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht in Straßburg. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig, an der auch ihre Promotion erfolgte.

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Titel: Sinti und Roma in Europa
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