Glasmalerei im Dienste der Nation
Standesscheibenzyklen als Zeugnisse des Schweizerischen Bundesstaats
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Dank
- 1 Einleitung
- 1.1 Fragestellung, Aufbau und Methode der Untersuchung1
- 1.2 Zur Entfaltung einer nationalen Kunstgeschichte
- 1.3 Entwicklung und Charakter der Einzelscheibe
- 2 Die Einzelscheibe als Kunst- und Nationaldenkmal
- 2.1 Sammeln für das Vaterland
- 2.1.1 Glasmalerei zwischen Bewunderung und Gleichgültigkeit
- 2.1.2 Sammler in der Schweiz
- 2.1.3 Die Einzelscheibe im Schweizerischen Landesmuseum
- 2.2 Die Rezeption der Einzelscheibe als schweizerische Besonderheit
- 2.2.1 Kunsthistorische Überblickswerke337
- 2.2.2 Darstellungen zur Geschichte der Glasmalerei
- 2.2.3 Die Studie von Hermann Meyer und ihre Nachwirkung
- 2.2.4 Zum Begriff «Schweizerscheibe»
- 3 Standesscheibenzyklen: Zeugen eines frühen Nationalbewusstseins
- 3.1 Frühe Deutungen der eidgenössischen Stiftungen
- 3.2 Die Studie von Hermann Meyer im Lichte jüngster Einschätzungen
- 4 Standesscheibenzyklen für den Schweizerischen Bundesstaat
- 4.1 Der fiktive Zyklus im Gemälde Les Suisses illustres
- 4.1.1 Motivation des Malers Jean-Elie Dautun
- 4.1.2 Ikonographie und Interpretation des Gemäldes
- 4.1.3 Standesscheiben um ein weisses Kreuz
- 4.2 Der Zyklus für das Bundesrathaus in Bern
- 4.2.1 Ringen um eine staatstragende Ikonographie
- 4.2.2 Die Scheibenstiftung – verspätete Anerkennung für Bern
- 4.2.3 Neue Standesscheiben in mittelalterlichem Ornat
- 4.2.4 Zum Schicksal des Standesscheibenzyklus
- 4.3 Der Zyklus in der Stube des Rütlihauses
- 4.3.1 Die Schweizer kaufen das Rütli
- 4.3.2 Das Rütli – ein nationales Denkmal
- 4.3.3 «[…] nicht nur gemalte Scheiben […], sondern Bilder […]»
- 4.4 Der Zyklus im ehemaligen Tagsatzungssaal von Frauenfeld
- 4.4.1 Ein «dem Ansehen der hohen Stände würdiges» Rathaus
- 4.4.2 Standesscheiben für den Bürger- und Grossratssaal
- 4.4.3 Ein «[…] Fenster bis jetzt einzig in seiner Art in der Schweiz […]»1047
- 4.5 Der Zyklus im Schweizerischen Landesmuseum Zürich
- 4.5.1 Die Ruhmeshalle – Höhepunkt der historischen Inszenierung
- 4.5.2 Gesuch um «Wiederaufnahme einer alten Landessitte»
- 4.5.3 Einfache Standesschilde auf farbigem Damast
- 4.6 Der Zyklus in der Kuppel des Bundeshauses in Bern
- 4.6.1 Ein neuer statt des alten Standesscheibenzyklus
- 4.6.2 Das leuchtende Dach der nationalen Ehrenhalle
- 4.6.3 22 Standeszeichen im Kreis
- 4.7 Der Zyklus im ehemaligen Tagsatzungssaal von Baden
- 4.7.1 Die Stiftung für die «neue Stube» im Rathaus von Baden
- 4.7.2 Die Wiederherstellung des Tagsatzungssaals
- 4.7.3 Die Stiftungserneuerung – Kopien und Nachahmungen
- 5 Neue Standesscheibenzyklen im 20. Jahrhundert – ein Ausblick
- 5.1 650 Jahre Eidgenossenschaft: Die Schenkung in das Rathaus von Schwyz
- 5.1.1 Die Stiftung im Klima der «Geistigen Landesverteidigung»
- 5.1.2 Gestaltung zwischen zeitgenössischer Kunst und Tradition
- 5.2 Jubiläumsstiftungen der Kantone
- 5.3 Ergänzungen der Standesscheibenzyklen mit dem Jura-Wappen
- 6 Schluss
- Abbildungen
- Quellen und Literatur
- Personenverzeichnis
- Reihenübersicht
Dank
Zu Beginn meiner Darstellung über die Glasmalerei im Dienste der Nation möchte ich allen danken, die mich während meines Doktoratsstudiums auf vielfältige Weise unterstützt haben.
Allen voran danke ich Prof. Volker Reinhardt für die Betreuung und Begutachtung meiner Arbeit und für seine jederzeitige Offenheit für Fragen und Gespräche. Ebenso danke ich Prof. Hans-Joachim Schmidt für die Beurteilung meiner Dissertation als Zweitgutachter.
Ein besonderer Dank gebührt Prof. em. Peter Kurmann, der mich während der Konzeptionsphase betreut und beraten hat, sowie Prof. em. Brigitte Kurmann-Schwarz für die wertvollen Hinweise auf wichtige Desiderate in der Glasmalereiforschung.
Ganz herzlich danke ich Mylène Ruoss für den fachlichen Austausch und ihre Zuvorkommenheit bei den Archivrecherchen zum Standesscheibenzyklus in der Waffenhalle des Landesmuseums Zürich. Ihr Interesse an meiner Arbeit und unsere Gespräche behalte ich in bester Erinnerung. Ich danke auch Monica Bilfinger für die nützlichen Hinweise bezüglich der Glasmalereien im ehemaligen Bundesrathaus, in der Bundeshauskuppel und im Rütlihaus.
Nicht zuletzt möchte ich die freundliche Hilfsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zahlreichen konsultierten Archive und Dokumentationsstellen hervorheben und allen danken, die mich durch ihre Erkundigungen über meine Arbeit immer wieder ermuntert haben.
Meine tiefste Verbundenheit gilt Alexander Gysel. Sein Zuspruch und sein Verständnis für den zeitlichen Aufwand, der die nebenberufliche Vollendung der Dissertation mit sich brachte, waren unverzichtbar für das Gelingen meines Forschungsprojekts.
1 Einleitung
1.1 Fragestellung, Aufbau und Methode der Untersuchung1
Zehn Jahre nach der Gründung der Schweizerischen Bundesstaats 1848 erwachte unter den Parlamentariern der Wunsch, die Kantone möchten der Stadt Bern ihre Wappen als Glasmalerei zur Schmückung des Ständeratssaals im Bundesrathaus stiften.2 Mit dieser Idee griffen die Politiker eine alte Sitte auf: Seit dem Ende des 15. bis ins 17. Jahrhundert schenkten die eidgenössischen Orte ihre Standeswappen in Form einer kleinformatigen Glasmalerei in Rathäuser, Kirchen, Klöster, Schützenhäuser sowie auch in Gasthäuser der Mitstände. Dieser Rückgriff auf den ehemaligen Brauch ist eng verknüpft mit den Bemühungen um die Bildung eines Nationalbewusstseins im Klima des internationalen «nation building» und um die Förderung des nationalen Zusammenhalts nach einer konfliktreichen Staatsgründung.
Die staatstragende bürgerliche Elite betrachtete das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit als denkwürdige Epoche eines politischen und kulturellen Höhepunkts der Eidgenossenschaft. Aus der Sicht des 19. Jahrhunderts bildeten die in jener verehrten Zeit entstandenen Zyklen aus einzelnen Standesscheiben aller Bündnispartner frühe nationale Errungenschaften und demnach auch wertvolle Vermittler eidgenössischer Gesinnung. Gerade im frühneuzeitlichen Kunsthandwerk und besonders im kleinformatigen Glasbild – der sogenannten Einzelscheibe3 – sah die ←11 | 12→Kunstforschung das Produkt einer volkstümlichen Tradition, den unmittelbaren Ausdruck des Volksgeistes.4
Die Schenkung für das Bundesrathaus bildete den Beginn einer Reihe von Standesscheibenzyklen, die bis ins 20. Jahrhundert reicht. Sie können zeitlich und örtlich in zwei Gruppen aufgeteilt werden:
Zyklen für national bedeutende Bauten (19. Jahrhundert):
1861: für den Ständeratssaal des Bundesrathauses (heute Bundeshaus-West)
1872: für die Rütlistuben im Gasthaus auf dem Rütli
1888: für den Bürger- und Grossratssaal in Frauenfeld, dem ehemaligen Tagsatzungsort
1896: für die Ruhmeshalle des Schweizerischen Landesmuseums Zürich
1901: für die Kuppelhalle im Bundeshaus Bern
1911/12: als Erneuerung der Stiftung von 1500 im Tagsatzungssaal von Baden, mit Erweiterung der Reihe von 10 auf 13 Standesscheiben.
Zyklen für kantonale Ratssäle (20. Jahrhundert):
1941: für das Rathaus in Schwyz anlässlich der Feier «650 Jahre Eidgenossenschaft»
1951–1982: Schenkungen an die Kantone anlässlich der Zentenarfeiern ihrer eidgenössischen Zugehörigkeit.5
Eine Sonderstellung nimmt ein letzter Zyklus mit heraldischen Glasmalereien und Arbeiten in Glas ein. Er entstand 1991 anlässlich der Jubiläumsfeiern «700 Jahre Eidgenossenschaft» und blieb als Geschenk der Kantone im Schweizerischen Museum für Glasmalerei in Romont.6
Grundlage und Ausgangspunkt meiner Untersuchung bilden die Zyklen der beiden genannten Gruppen, wobei ich mich auf die erste Gruppe des 19. Jahrhunderts konzentriere. Mit diesen Beispielen möchte ich die Funktion der Standesscheibenzyklen im fortlaufenden Prozess der nationalen Integration beleuchten. Dazu prüfe ich folgende These, die sich in ←12 | 13→der kunsthistorischen Literatur zur Epoche und zur Glasmalerei abzeichnete:7
«Die Einzelscheibe wurde im 19. Jahrhundert als schweizerische nationale Kunst rezipiert und diente besonders in der Form von Standesscheibenzyklen der Förderung des nationalen Bewusstseins im jungen Bundesstaat.»
Nachstehende Fragestellungen verweisen auf die Hauptaspekte, die der Thesenprüfung dienen sollen: Welche Einflüsse prägten die Perzeption und Rezeption der frühneuzeitlichen Glasgemälde im 19. Jahrhundert? Inwiefern wurde die Einzelscheibe als nationale Kunst rezipiert und instrumentalisiert? Welche politische Symbolkraft hatten die neuen Standesscheibenreihen im 19. Jahrhundert? Und welche Bedeutung hatte die künstlerische Gestaltung der Zyklen sowie deren Einbettung in die Architektur und Raumgestaltung?
←13 | 14→Die vorliegende Untersuchung soll einen Beitrag zur Nationalismusforschung und zur (Rezeptions-)Geschichte der Glasmalerei leisten. Dazu öffne ich den Blickwinkel von der Rezeption der alten Zyklen als Kunst- und Kulturerbe bis hin zu deren Indienstnahme durch nationale Idealvorstellungen in Form von neuen Schöpfungen. Neben dem Schenkungsakt – und der Wappenscheibe als Symbol einer solchen – müssen die neuen Zyklen auch in künstlerischer Hinsicht näher betrachtet werden. Als Staatssymbole sowie als Kunst- oder kunsthandwerkliche Ausstattungsobjekte im Zusammenspiel mit Architektur und Raumensemble unterlagen sie teilweise einem für die Ermittlung ihrer Bedeutung aufschlussreichen Gestaltfindungsprozess. Auf handwerkliche oder technische Belange der Glasmalerei oder die Situation des Handwerks im 19. Jahrhundert tritt die Untersuchung nicht näher ein. Mit der Darlegung der Entstehung der Zyklen liefert sie dennoch Wissenswertes dazu.8
Der Untersuchungszeitraum umfasst das lange 19. Jahrhundert: Die Einzelscheibe war gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein international beliebtes Sammelobjekt. Im 19. Jahrhunderts galt sie als nationales Kunstdenkmal und stiess auf grosses Interesse. Nach der Bundesstaatsgründung 1848 entstanden neue Zyklen für national bedeutsame Bauten. Und wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1910/11) wurde anlässlich der Renovation des alten Tagsatzungssaals in Baden der alte Standesscheibenzyklus von 1500/01 wieder hergestellt und von ursprünglich 10 auf 13 Standeswappen erweitert. Dies zur Erinnerung an die 13 Orte, die von 1513 bis 1798 die alte Eidgenossenschaft bildeten.
Ein weiterer Impuls für neue Standesscheibenschenkungen ging vom Klima der «Geistigen Landesverteidigung» aus. Den Auftakt bildete die Stiftung von 1941 anlässlich der Feier zum 650-Jahr-Jubiläum der Schweizerischen Eidgenossenschaft in das Rathaus Schwyz. Wenige Jahre später entstand nach dem grossen Umbau des Berner Rathauses von 1942 ein dreizehnteiliger Zyklus für die Fenster der Halle im Erdgeschoss. ←14 | 15→Schliesslich folgten ab den 1950er bis zu Beginn der 1980er Jahre Jubiläumsstiftungen an die Kantone. Im Sinne eines Ausblicks soll abschliessend die Bedeutung dieser Wiederaufnahme der alten Schenksitte nur kurz beleuchtet werden. Gleichzeitig sei damit eine detaillierte Untersuchung über die Standesscheibenzyklen im 20. Jahrhundert als weiterführendes Forschungsthema empfohlen.
Die vorliegende Darstellung gliedert sich nebst der Einleitung und dem Schlusswort in einen Hauptteil mit drei Kapiteln und einen Ausblick. Das erste Thema des Hauptteils – Kapitel 2 – schlägt einen Bogen von einem ersten romantisch geprägten Interesse an den Einzelscheiben, das zu einer ästhetischen Wertschätzung der Glasbilder führte, bis zur patriotischen Rezeption, die ihren Höhepunkt in einer staatlich unterstützten Repatriierung der vielfach ins Ausland verkauften Glasmalereien hatte. Ein grosser Teil dieser Scheiben wurde im 1898 eröffneten Schweizerischen Landesmuseum in Zürich in die Fenster eingesetzt.
In Kapitel 3 fokussiert sich der Blick auf die Auffassung der Kunstforscher, die in den Standesscheibenzyklen Zeugen eines frühen Nationalbewusstseins sahen. Sie deckten nicht zuletzt das Bedürfnis nach historischen Vorbildern für die angestrebte nationale Einheit ab. In einem ersten Schritt lege ich die frühesten Deutungen der Standesscheibenzyklen dar, auf die sich auch Hermann Meyer (1833–1897) in seiner «kulturhistorischen Studie»9 stützte. Danach prüfe und ergänze ich seine Resultate anhand der neueren und jüngsten kunsthistorischen und historischen Forschung.10 Ziel ist es, die Rezeption der Standesscheibenzyklen in der kunsthistorischen Literatur des 19. Jahrhunderts nach aktuellen Massstäben aufzuzeichnen und damit eine Hintergrundfolie für das Verständnis der neu geschaffenen Zyklen bereitzustellen.
Kapitel 4 stellt die Wiederaufnahme der eidgenössischen Schenkungen umfassend dar: Als Erstes behandle ich den fiktiven Standesscheibenzyklus im Ölgemälde Les Suisses illustres (um 1829) von Jean-Elie Dautun (1766–1832). Er nimmt die Wiederaufnahme der Schenksitte gewissermassen vorweg. Danach folgt in chronologischer Reihenfolge die Untersuchung der sechs oben erwähnten Zyklen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Darin zeichne ich das Zustandekommen der einzelnen ←15 | 16→Schenkungen auf. Wer waren die Initianten, welche Motive hatten sie? Zusätzlich berücksichtige ich auch die künstlerische Gestaltung und die Einbindung in die Architektur und Raumgestaltung und versuche, Vorbilder zu ermitteln. Wie in der ganzen Untersuchung kommen die Akteure oft selber zu Wort. Ihre Zitate sollen die Leserinnen und Leser möglichst nahe an das Geschehen und an die – oft auch unspektakulären – Befindlichkeiten der Zeit führen.
Kapitel 5 ist als Ausblick zu verstehen und thematisiert in groben Zügen die Fortsetzung der Standesscheibenschenkungen im 20. Jahrhundert. Etwas detaillierter betrachte ich dabei die gemeinsame Stiftung der Kantone von 1941 in das Rathaus von Schwyz zum Jubiläum 650 Jahre Eidgenossenschaft.
Die nach der Methode der historisch-kritischen Analyse erstellte Untersuchung bedient sich eines umfassenden historischen (Quellen-)Materials: Glasmalereien, Münzen, Siegel, Wappen, Architektur, Entwürfe, Gemälde, Photos, Ausstellungskataloge, amtliche Schriften (u. a. Korrespondenz, Gesetze, Verordnungen, Protokolle, Entscheide von Behörden), die Tagespresse, private Schriften (u. a. Korrespondenz, Tagebücher, Nachlässe), darüber hinaus Publikationen der Kunstforschung im weiteren Sinn, also auch Zeitschriften und Jahrbücher etc. von historischen und kunsthistorisch ausgerichteten Vereinen und Gesellschaften. Das innerhalb dieser Kategorien greifbare und ausgewählte Material habe ich entsprechend der genannten Fragestellungen untersucht.11
1.2 Zur Entfaltung einer nationalen Kunstgeschichte
Nationale Ideologien, Nationalbewusstsein und nationale Integration wurden seit dem Spätmittelalter12 wie in anderen Ländern auch in der Schweiz ←16 | 17→von der Pflege eines spezifischen, teleologisch gefärbten Geschichtsbilds genährt. Die Gründung der Eidgenossenschaft im Mittelalter und die zunehmende Verfestigung des losen Bundesgeflechts in der Frühen Neuzeit wurden als Ausgangspunkt und Vorläufer für die Entstehung des Schweizerischen Bundesstaats von 1848 gesehen.13 Zu diesem Verständnis trugen auch die sich im 19. Jahrhundert entfaltende nationale Kunstforschung und die Kunstgeschichte als junge wissenschaftliche Disziplin bei. Massgebliche Faktoren waren die zunehmend positivistisch geprägte Forschung sowie der Wandel des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtsforschung.14
Insbesondere drei Themenbereiche kamen in dieser Zeit neu zum Tragen: die Vorstellung einer nationalen Ur- und Frühgeschichte, die Überwindung der überlieferten Gründungsmythen sowie das Postulat einer allen Schweizern gemeinsamen Heldenzeit. Verbunden damit entwickelte sich die Auffassung einer gemeinsamen Kultur über alle Differenzen hinweg.15 Gleichzeitig richtete sich die Geschichtsforschung in zwei Epochen neu aus: Die zunächst unbefriedigende Suche nach dem schweizerischen Urvolk, nach direkten Vorfahren aus der Zeit vor der Völkerwanderung,16 fand mit der Entdeckung der Pfahlbauten einen erfolgreichen Abschluss. In Ferdinand Kellers (1800–1881) archäologischen Funden von 1854 sah man sofort einen allen Landesteilen gemeinsamen Charakter der vaterländischen Geschichte. Im ganzen Land lagen Pfahlbausiedlungen, die den überzeugenden Beweis einer gemeinsamen Geschichte lieferten, einer ←17 | 18→Geschichte, die weder Sprachkonflikt noch konfessionelle Grenzen kannte sowie Mittelland und Berggebiet verband.17
Die zweite Neuausrichtung ging mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der vorreformatorischen Geschichte vor sich: Die nationale Geschichtsschreibung wollte weg von den alten innerschweizerischen Gründungsmythen, die mit ihrer unsicheren Quellenlage in der vorherrschenden positivistischen Forschung nicht mehr haltbar waren. Anziehungspunkt waren neu die kriegerischen Ereignisse des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts18 und zwar als gesamteidgenössische Taten: die Burgunderkriege (1474–1477) und die italienischen Feldzüge oder Mailänderkriege (1494–1515), besonders auch der Schwabenkrieg (1499), in dessen Folge die dreizehnörtige Eidgenossenschaft entstand.19 Die herrschenden Differenzen innerhalb der damaligen Eidgenossenschaft wurden ignoriert.20 Gleichzeitig blieb Aegidius Tschudis (1502–1572) Vorstellung von einem Befreiungsgeschehen lebendig und wurde wissenschaftlich untermauert. Man versuchte, den Sagenstoff und die urkundlich belegten Ereignisse zu kombinieren, in der Hoffnung, die Quellenkritik mit den patriotischen Erwartungen in Einklang bringen zu können.21 An die Stelle der Sagengestalt Wilhelm Tell trat der Bundesbrief der drei Waldstätte von 1291. Ein Dokument,22 das fortan bis in die jüngste Vergangenheit als nationale Reliquie23 behandelt wurde und dessen Datierung incipiente mense augusto 1891 Anlass zur Festlegung des schweizerischen Nationalfeiertags auf den 1. August gab.24 Im Hinblick auf das 600-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft wurde der ←18 | 19→Bund von 1291 zu einer Art «Magna Charta des eidgenössischen Rechts, der staatlichen Ordnung, der nationalen Unabhängigkeit und Freiheit»25 stilisiert. Durch den ideologischen Rückgriff auf die alten, bäuerlich geprägten Eidgenossen wurden die einstigen Gegner des Nationalstaats und damit insbesondere die Innerschweiz, das Gebiet des konservativen Katholizismus, zum Stammland der modernen Freiheit erhoben und eine bereits im Mittelalter angelegte Symbiose von Stadt und Land festgestellt. Auf dieser neuen Basis konnten die ideologischen und politischen Gegensätze des liberalen und konservativen Lagers leichter überwunden werden.26
Die Grundlage für die Konstruktion einer nationalen Kulturgeschichte bildete das mit dem neuen Geschichtsbewusstsein verbundene Interesse für die vorindustrielle Tradition. Denn gerade im 16. Jahrhundert glaubte man neben einem historisch-politischen Höhepunkt auch eine Blütezeit des nationalen kulturellen Erbes zu erkennen.27 Dabei bot die Epoche des Historismus und mit ihr einhergehend die Renaissance-Verehrung die nötigen Voraussetzungen: Nach der Gotik wurde in Europa nun auch die Renaissance in ihren nationalen Ausprägungen für die Architektur ←19 | 20→und das Kunstgewerbe neu entdeckt.28 Gleich wie die Renaissance galt das 19. Jahrhundert als eine Epoche des Umbruchs und eines aufstrebenden Bürgertums, weshalb sich das Bürgertum des 19. Jahrhunderts mit der Renaissance geistig verbunden fühlte.29 Oder um mit Karl Dändliker (1849–1910) zu sprechen:
«Über dem Gezänk der Glaubensparteien, über dem Hader der politischen Koterien, über der Schmach der auswärtigen Politik der Schweiz erhob sich unbeirrt der gesunde, a[n];s Ideale gerichtete Geist der Nation. Es mutet uns wahrlich wie ein Vorzeichen einer besseren Zukunft an, wenn trotz der konfessionellen Gegensätze Katholiken und Reformierte an der künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeit – allerdings nicht gleichmässig – sich beteiligten […].
Das sechzehnte Jahrhundert bleibt, wenn wir das Kulturleben ins Auge fassen, unserer ganzen Nation unvergesslich. Es hat dasselbe eine schöne Mitgift den folgenden Jahrhunderten übermacht: den begeisterten Bildungseifer, den feinen Sinn für künstlerische Verschönerung des Daseins, die Hingabe an religiöse, gemeinnützige und humane Bestrebungen.»30
Es entstand eine «rückwärtsgewandte soziale Utopie», die zusammen mit der Verehrung des frühneuzeitlichen Kunstgewerbes auch zum Kristallisationspunkt der Kritik an der Industriegesellschaft mit ihren sozialen Konflikten wurde.31 In diesem Sinne – wenn auch nicht sozialkritisch – äusserte sich Johann Rudolf Rahn (1841–1912) schon früher als Dändliker. Er beklagte die anhaltenden Folgen des Klassizismus genauer gesagt die Epoche der Aufklärung mit ihrer Nüchternheit und den Verlust des «guten alten Geistes»:
←20 | 21→«Nur in Einem Punkte hat dieser Cäsarenstyl eine nachhaltige und eine grausame Herrschaft behauptet, denn ‹Luft und Licht› war sein Feldgeschrei, und so sind Farbe und Relief, Form und Wechsel rasch und sicher unter seinem kritischen Weiss verschwunden. Wie anders ist seither die Physiognomie unserer Städte geworden! Mauern und Thürme, einst vom Grün umrankt, von munteren Dohlen umkreist, sie sind gefallen; denn ihr Dasein hemmte den Verkehr, ihr Schatten das Licht der Sonne. Weg sind die bilderprangenden Façaden, die auf Schritt und Tritt die Schaulust und den Humor ihrer Beschauer lockten, weg die Erker und die Portale mit ihren Ziergliedern und Schildereien, denn es hiess: ein Jeder sei dem Anderen gleich! Und welch ein fremder und kalter Geist weht uns vollends in diesen Häusern entgegen! Wer findet noch die bildgeschnitzten Decken und Geräthe, wo sind die stattlichen Gitter, die gesprächigen Oefen, die bunten Gläser, wo endlich ist der gute alte Geist, der jedem Werkzeuge des täglichen Lebens, auch dem kleinsten Geräthe einen künstlerischen Ausdruck seiner Function, ihm Leben und Individualität verlieh? Heute freilich wird exact gegossen und gepresst, auch ohne Stempel verrathen Chinametall, Cement und Pappe, aus welchen Fabriken wir unsern modernen Luxus (!) beziehen.»32
Eine Verklärung des Spätmittelalters ist hier unverkennbar, ebenso die in der Geschichtsschreibung seit dem frühen 19. Jahrhundert charakteristische Abwertung des 18. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum geschichtlichen Höhepunkt der Eidgenossenschaft, der wie oben beschrieben Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts verortet wurde, galt die nachreformatorische Periode bis zur Helvetischen Republik als eine von einer Lähmung des Geisteslebens geprägte Zeit. Die Historiker des jungen Bundesstaats brachten diese Einschätzung in einen nationalideologischen Zusammenhang, wobei sie den Bundesstaat von 1848 zum zeitgenössischen Gegenstück der spätmittelalterlichen politischen und kulturellen Blütezeit machten. Dazwischen lag eine Übergangsperiode, die als Degenerationsphase gebrandmarkt wurde, während die revolutionäre Zeit zwischen 1798 und 1848 als eine zwischen Partikularismus und Fremdherrschaft schwankende Periode galt.33
←21 | 22→Das oben dargelegte Geschichtsbild, gepaart mit dem Fokus auf eine positivistische und historisch-kritische Forschung, prägte die vielerorts entstehenden privaten und öffentlichen Sammlungen und Museen.34 Die gleiche Auffassung durchdrang die Protagonisten und Organe der noch jungen schweizerischen Kunstgeschichtsschreibung. Der zunehmend verengte Blick auf die vaterländische beziehungsweise nationale Vergangenheit mit einem ursprünglichen und eigenen Charakter kommt auch in Johann Rudolf Rahns Geschichte der Bildenden Künste in der Schweiz35 zum Ausdruck.
Rahn sieht die Kunstforschung nicht mehr als universal an. Sie bewege sich aus den umfassenden Gebieten in einzelne begrenzte Bereiche. Die Zersplitterung begründet er mit der täglich wachsenden Fülle an Kenntnissen, wie sie auch die Kunstgeschichte erfahre. Hier vollziehe sich der Wandel Hand in Hand mit einer neuen Methode, die sich im Gegensatz zu der ästhetisch-philosophischen Behandlungsweise, wie sie noch im vorigen Jahrhundert vorherrschend gewesen sei, einer vorwiegend historisch-kritischen Richtung zugewendet habe.36
Dieser Richtung entspricht auch der Aufruf von Ludwig Stantz (1801–1871).37 In der Einleitung seiner umfassenden Monographie über das Berner Münster schreibt er:
«Wer wird die religiös begeisterte Zeit des Mittelalters, der wir die herrlichen Dombauten verdanken, die noch jetzt unsere Bewunderung erwecken, in Hinsicht des vielseitigen positiven Wissens und der freien Geistesentwicklung, mit der unserigen gleichstellen wollen – und umgekehrt, wer wird von unserer materiellberechnenden Verstandeszeit die Opferfähigkeit des Mittelalters für äussere kirchliche Zwecke verlangen? Was heut zu Tage hierin geschieht, gilt mehr den Monumenten selbst, als der Kirche.
Darum dürfen wir auch, bei kritischer Betrachtung der Alterthümer unseres Münsters und der ihm geweihten, oder auch nur anvertrauten Kunstwerke, nicht den Maassstab unserer heutigen religiösen Anschauungsweise, am allerwenigsten einen ←22 | 23→protestantischen anlegen, noch den des gegenwärtigen politischen Zeitgeistes, sondern müssen wir uns mit ächt christlicher oder philosophischer Toleranz in die Denkweise und das Gefühlsleben unserer Vorfahren zurückversetzen, wie sie sich gerade in diesen Kunstwerken aussprachen, sonst nennen wir profan, was sie biblisch nannten, belächeln was ihnen ehrwürdig und passend schien, und verfallen so, zu Unehre unserer bessern Einsicht, in moralische Bilderstürmerei.»38
Nicht mehr nur rein ästhetische Urteile waren also interessant, sondern die Umstände und Bedingungen, welche die Kunstproduktion förderten oder hemmten:39
«… erst dann, wenn wir das Kunstwerk als einen Organismus betrachtet haben, in dem sich der Geist eines Schöpfers, seiner Zeit und seines Ortes wiederspiegelt, sind wir im Stande ein sicheres Urtheil über den Werth desselben zu fassen.»40
Rahn führt hier das Beispiel der Gotik an, deren Untersuchung und Verständnis nur möglich sei, wenn alle Entwicklungsstufen in Frankreich und Deutschland sowie die kulturgeschichtlichen Wandlungen berücksichtigt würden. Er bezeichnet das rege Forschen an den Monumenten unter Berücksichtigung der historischen und kulturgeschichtlichen Quellen als eigentliche Fundamente der zeitgenössischen kunstwissenschaftlichen Methode.41 Die Entstehung der Kunstwissenschaft beschreibt er wie folgt:42
«Es kam die Zeit der Romantik und mit ihr erwachten, zuerst in Deutschland, auch wieder die Erinnerungen an die ruhmvollen Stellen der eigenen Geschichte. Man besann sich plötzlich darauf wie bisher das ganze Leben von den affectirten Formen einer fremden Cultur beherrscht worden, und wie in der Literatur so erwachte bald auch auf anderen Gebieten die Lust zur Nachahmung und damit das Studium des mittelalterlichen Nachlasses. So entwickelte sich aus bescheidenen Anfängen die jüngste der Wissenschaften, die Kunstgeschichte.»43
Johann Rudolf Rahns hohe Bedeutung für die Entwicklung der Altertümer- und Kunstforschung in der Schweiz ist unbestritten. Er gilt als ←23 | 24→«Schöpfer und Meister»44 oder «Begründer»45 der schweizerischen Kunstgeschichte. Gerade seine vielseitige Tätigkeit auf diesem Gebiet liefert das anschaulichste Bild der nationalen Kunstgeschichte,46 denn in seiner Person47 vereinigten sich die unterschiedlichen Ausrichtungen des Faches: die Kunstgeschichte als universitäre Disziplin, Museen als Stätten der Kunstwissenschaft, geschichtsforschende Gesellschaften und Vereine als Organe der Kunstforschung sowie die Pflege der nationalen Altertümer, die spätere Denkmalpflege. In allen diesen Bereichen war Rahn, der aus einer alten angesehenen Zürcher Familie stammte, aktiv tätig und trug massgeblich zu deren Entwicklung in der Schweiz bei.48
Drei Persönlichkeiten prägten Rahns Werdegang: Ferdinand Keller, Wilhelm Lübke (1826–1893) und Anton Springer (1825–1891). Schon vor und während seiner Studienzeit hatte Rahn regen Kontakt zu Ferdinand Keller und seiner Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, der er 1860 beitrat.49 Keller liess Rahn an seinen breiten historischen Kenntnissen teilhaben,50 während Wanderfahrten mit Freunden dem jungen Rahn die Augen für die Besonderheit des schweizerischen Kunsthandwerks öffneten. Die Reisen liessen ihn aber auch den fehlenden Schutz des Kulturguts und die Vernachlässigung sowie die Gleichgültigkeit erkennen, mit der die Öffentlichkeit dem Verkauf und der Zerstörung künstlerisch wertvoller Objekte zusah.51
←24 | 25→Rahn begann sein Studium 1860/61 an der Zürcher Universität und besuchte Vorlesungen am Polytechnikum,52 wo der aus Dortmund stammende Wilhelm Lübke lehrte. Lübke erforschte als einer der Ersten neben den klassischen Kunstgattungen auch kunsthandwerkliche Schöpfungen wie Öfen und Glasgemälde. In vielen Gesprächen ermunterte er Rahn, sich mit dem Kunstschaffen in der Schweiz zu beschäftigen.53
Ein wichtiger Mentor wurde auch Anton Springer, bei dem Rahn 1863 in Bonn studierte.54 Springer verfolgte einen historisch-kritischen Forschungsansatz und setzte in der Werkinterpretation starke kulturhistorische Akzente: Ausgangspunkt und Grundlage für die Kunstwissenschaft war für ihn das Kunstwerk mit der einzigartigen «Handschrift» des Künstlers, das den Ort und die Zeit der Entstehung anzeigt, aufgrund dessen die Überlieferung nachgeprüft werden kann. Die Einführung in die Kunst als solche, die Bewertung des einzelnen Kunstwerkes nach ästhetischen oder weltanschaulichen Gesichtspunkten, lag für ihn ausserhalb der Wissenschaft. Was Springer lehrte, war vielmehr eine Untersuchung des Formenwandels und eine Morphologie der Kunst.55 Die gängigen Epochenmodelle, das heisst die Auffassung von homogenen Stilformationen mit einer linearen chronologischen Entwicklung, waren nicht mehr haltbar.56
Rahn begann 1869 seine Laufbahn als Privatdozent an der Universität Zürich, 1870 wurde er zusammen mit Friedrich Salomon Vögelin (1837–1888)57 zum ausserordentlichen und 1877 zum ordentlichen Professor des neuen Hochschulfachs «Kultur- und Kunstgeschichte» ernannt. Rahns Vorlesungen umfassten immer auch Schweizer Themen, und so konnte er zwei Aufgaben koordinieren und sein Hauptwerk beginnen: Die ←25 | 26→Geschichte der Bildenden Künste in der Schweiz. Es erschien zwischen 1873 und 1876 in mehreren Folgen.58 Seine kunsthistorische Abhandlung zur Schweiz bildete den Auftakt zur «Ära Rahn»,59 die 35 Jahre dauern sollte: Rahn fand in mehreren historisch ausgerichteten Gesellschaften die Basis, seine Ideen zu verwirklichen und «das Kunstgut zu entdecken, zu restaurieren und zu bewahren sowie der Öffentlichkeit durch seriöse, aber auch dem Laien verständliche Publikationen teuer zu machen».60 Vom Anzeiger für Schweizerische Alterthumskunde, den Rahn von 1879 bis 1905 redigierte, ist fast keine Nummer ohne einen Beitrag von ihm erschienen. Auch für die Neujahrsblätter der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich verfasste Rahn von 1870 bis 1905 insgesamt 15 Ausgaben.61 Mit der Statistik schweizerischer Kunstdenkmäler, die seit 1872 als Artikelfolge und ab 1890 kantonsweise als einzelne Lieferungen dem Anzeiger für Schweizerische Alterthumskunde beilagen, schuf er den Grundstein für eine nationale Kunsttopographie.62 Neben diesen wissenschaftlichen Studien nahmen die Sorge und der Kampf gegen die Verwahrlosung und Veräusserung des schweizerischen Kunstguts immer mehr seiner Zeit in Anspruch. 1880 wurde die Gesellschaft für Erhaltung schweizerischer Kunstdenkmäler63 gegründet; Théodore de Saussure (1824–1903) amtierte als erster Präsident und Johann Rudolf Rahn als erster Vizepräsident. Die Gesellschaft machte sich – wie schon der Name sagt – den Schutz der nationalen Altertümer zur Aufgabe und ist als erstes Organ der später64 staatlich verankerten Denkmalpflege zu betrachten.
←26 | 27→Nach bescheidenen Anfängen erlaubten vermehrt Zuschüsse des Bundes, Restaurierungen an Bauten vorzunehmen und gefährdete Altertümer zu erwerben oder in die Schweiz zurückzuführen. Dabei profitierte die Gesellschaft von den Mitteln, die Lydia Welti-Escher (1858–1891) in der 1890 von ihr gegründeten Gottfried Keller-Stftung angelegt und dem Bund für die Erwerbung von Kunstwerken vermacht hatte.65 Durch die Bemühungen Rahns war es gelungen, auch weitere Kreise auf den Verlust heimischer Altertümer aufmerksam zu machen. Schliesslich muss vor diesem Hintergrund auch der konkrete Plan zur Errichtung eines Nationalmuseums gesehen werden. Friedrich Salomon Vögelin spielte dabei als Nationalrat eine wegbereitende Rolle.66 Die Errichtung des Landesmuseums in Zürich verlieh Johann Rudolf Rahn vollends eine dominierende Stellung auf dem Gebiet der nationalen Kunstdenkmäler.67 Rahns unermüdlicher Einsatz förderte einen Kreis von Schülern, die sein Werk fortsetzten,68 und die, wie er selber auch, im Zusammenhang mit den neuen Standesscheibenzyklen auftreten werden.
Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts und danach erschienen in Deutschland hintereinander umfassende Handbücher über die gesamteuropäische, mitunter bis nach Fernost und Amerika reichende Kunstgeschichte. Sie beherrschten den Büchermarkt bis zum Ersten Weltkrieg. Dazu gehören das Handbuch der Kunstgeschichte (zwei Halbbände, 1841–1842) von Franz Kugler (1808–1858), die Geschichte der bildenden Künste (sieben ←27 | 28→Bände, 1843–1864) von Carl Schnaase (1798–1875),69 der Grundriss der Kunstgeschichte (1860) von Wilhelm Lübke und die Grundzüge der Kunstgeschichte (1888) von Anton Springer. Sie ersetzten die lange unentbehrlich gebliebene, mit Kupfertafeln ausgestattete Histoire de l’art par les monuments depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe von Jean Baptiste Louis Georges Séroux dʼAgincourt (1730–1814), die in sechs Bänden von 1810 bis 1823 in Paris erschienen war.70 Vergleichbare Publikationen gab es in anderen europäischen Ländern nicht.71
Die deutschen Sachbücher erschienen wiederholt in erweiterten Auflagen und wurden von namhaften Kunsthistorikern der Zeit bearbeitet: Jacob Burckhardt (1818–1897) aktualisierte und vermehrte Kuglers Handbuch der Kunstgeschichte für die zweite Auflage (1848) und Wilhelm Lübke für die fünfte Auflage (1871–1872).72 Im Vorwort der Erstausgabe hält der Autor fest, es handle sich um das erste Werk seiner Art für die noch junge Kunstgeschichte.73 Das Handbuch umfasst die Entwicklung der bildenden Künste und Architektur vom Altertum bis ins 18. Jahrhundert sowie Bemerkungen zur Kunst der Gegenwart. Auch Rahn wurde für die Produktion dieser Gattung kunsthistorischer Literatur beigezogen. Carl Schnaase, der ihn in Berlin kennengelernt hatte,74 stellte ihn für die Mitarbeit an der zweiten Auflage der Geschichte der bildenden Künste (1869) an.75 Als guter Kenner frühchristlicher Bauwerke76 betraute er ←28 | 29→Rahn mit der Abfassung der altchristlichen, byzantinischen und islamischen Kunst.77
Diese breit angelegten Überblickswerke waren keine Expertenliteratur im engeren Sinn. Sie beschränkten sich nicht mehr auf vorrangige Stilepochen wie die griechische Antike oder die italienische Kunst des 16. Jahrhunderts, sondern deckten die historische Kunst in ihrer Gesamtheit teilweise bis in die Gegenwart ab.78 Die Handbücher waren auch in der Absicht entstanden, einem breiten Publikum durch die Erkenntnisse aus der Kunstgeschichte ein ästhetisches Verständnis zu vermitteln, das in die Gegenwart wirken und nicht zuletzt die Bildung eines Nationalbewusstseins unterstützen sollte.79
Im Unterschied zu Kuglers positivistisch geprägter Methode, die die Monumente in vier Entwicklungsstufen am Raster einer kohärenten Stilgeschichte festmachte und sich auf eine formale Analyse beschränkte, brachte Schnaase die Kunstentwicklung der verschiedenen Gebiete und Epochen in einen historischen und weltanschaulichen Zusammenhang.80 Wie Kuglers war auch Schnaases Standpunkt und Einfluss auf die Kunstbetrachtung der Zeit sowie auf die Methodik der kunsthistorischen Disziplin grundlegend. Entsprechend hält Wilhelm Lübke im Vorwort seines Grundriss der Kunstgeschichte von 1860 fest:
←29 | 30→«Wie erfreulich seit den letzten zehn Jahren die Theilnahme an den Schöpfungen der bildenden Künste sich gesteigert hat, lässt sich aus manchen günstigen Zeichen erkennen. Dieselbe geht nicht vom blossen Interesse an der schönen Form aus, sondern sie verbindet sich mit dem tieferen Zuge nach historischer Erkenntnis, der unsere Zeit durchdringt. Nachdem Kugler in seinem ‹Handbuch der Kunstgeschichte› das ganze grosse Gebiet zum erstenmal durchmessen und in festen Zügen klar dargestellt, Schnaase dann in seiner ‹Geschichte der bildenden Künste› den Zusammenhang des künstlerischen Schaffens mit den innersten Leben der Zeiten und Völker tiefsinnig ergründet und geistvoll entwickelt hat, ist in den Kreisen der Gebildeten das Verlangen nach Erkenntnis dieser geschichtlichen Entfaltung der Künste erwacht und zugleich damit die Ueberzeugung gefördert, dass der Genuss des einzelnen Werkes durch das Begreifen seiner historischen Existenzbedingungen unendlich an Vertiefung gewinne.»81
Weil inzwischen selbst kunstwissenschaftlich Gelehrte fast keinen Überblick mehr über das immense kunsthistorische Material hätten und dieses in seiner Fülle dem gebildeten Laien den Zugang zu Belehrung und Genuss verwehrte, machte sich Lübke an das Unternehmen seines Grundrisses, der auch als Vorbereitung für die umfassenden Werke von Kugler und Schnaase gedacht war.82 Eine wesentliche Neuerung von Kugler und Schnaase bestand darin, dass sie in ihrer Bewertung zwar dem klassischen Kanon historischer Kunst83 folgten, jedoch künstlerische Schöpfungen fremder Kulturen in gleicher Weise behandelten,84 wenn auch nach dem klassischen Verständnis von höheren und niedereren Artefakten, wie den kunsthandwerklichen Erzeugnissen.
Details
- Pages
- 518
- Publication Year
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783034340328
- ISBN (ePUB)
- 9783034340335
- ISBN (MOBI)
- 9783034340342
- ISBN (Softcover)
- 9783034338875
- DOI
- 10.3726/b16784
- Language
- English
- Publication date
- 2021 (January)
- Keywords
- Frühe Neuzeit Nationalismus Eidgenossenschaft Geschichte Politik Tradition Kunsthandwerk Kantonswappen Instrumentalisierung Identität
- Published
- Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 518 pp., 9 fig. col., 68 fig. b/w.