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Die extraterritoriale Geltung von Grund- und europäischen Menschenrechten

Ein Rechtsprechungsvergleich

von Sarah Friedrich (Autor:in)
©2020 Dissertation 296 Seiten

Zusammenfassung

Die extraterritoriale Anwendbarkeit der deutschen Grundrechte und Menschenrechte der EMRK beschäftigten spätestens seit vermehrten multinationalen Militäreinsätzen die zuständigen Gerichte. Zudem eröffnen Auslieferungs- und Abschiebungskonstellationen sowie digitale Möglichkeiten der Telekommunikationsüberwachung oder Satellitensteuerung neue Fragestellungen im grenzüberschreitenden Grund- und Menschenrechtsschutz. Einer Antwort auf die Frage der Reichweite des Grundgesetzes sowie der EMRK nähert sich die Arbeit durch eine Analyse der bestehenden Judikatur deutscher Gerichte sowie des EGMR. Anhand dieser Rechtsprechungsanalyse entwickelt die Arbeit ein dogmatisches Grundkonzept als Vorschlag für eine einheitliche Herangehensweise an extraterritoriale Grund- bzw. Menschenrechtsbindung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Teil: Einleitung
  • 2. Teil: Allgemeines Verhältnis von Grund- und Menschenrechten
  • A. Historischer Kontext
  • I. Entwicklung der Grundrechte in Deutschland
  • 1. Freiheitliche Ideen im 18. Jahrhundert
  • 2. Erstlingswerk „Grundrechte“ in der Paulskirche
  • 3. Grundrechtliche Wiedergeburt in der WRV
  • 4. Abschluss der deutschen Grundrechtsentwicklung im GG
  • II. Entstehungsgeschichte der Menschenrechte
  • 1. Dynamik auf internationaler Ebene
  • a. Menschenrechtstaufe mit der UN-Gründung
  • b. UN-Menschenrechtstrias und ihre Implementierung
  • 2. Schöpfungsidee in Europa
  • a. Ambivalente Zielsetzungen der EMRK-Schöpfer
  • b. Durchbruch der EMRK
  • III. Historische Zwischenbilanz
  • B. Dogmatische Gemeinsamkeiten
  • I. Allgemeine Übereinstimmungen und Differenzierungen
  • 1. Schutzumfang
  • 2. Einschränkungsmöglichkeiten und -voraussetzungen
  • 3. Allgemein-dogmatische Zwischenbilanz
  • II. Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht
  • 1. Einfluss des Völkerrechts auf die Auslegung
  • a. Grundrechte des GG
  • aa. Allgemeine Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG)
  • bb. Völkervertragsrecht (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG)
  • cc. Völkerrechtlich-grundgesetzliche Zwischenbilanz
  • b. Menschenrechte der EMRK
  • 2. Rechtfertigung durch völkerrechtlich rechtmäßiges Handeln
  • a. Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs
  • aa. Durch allgemeine Regeln des Völkerrechts
  • bb. Durch Völkervertragsrecht
  • b. Rechtfertigung eines EMRK-Eingriffs
  • 3. Völkerrechtlich-dogmatische Zwischenbilanz
  • C. Inkorporation der EMRK in das deutsche Recht
  • I. Status der EMRK im deutschen Recht
  • II. Rechtsverbindlichkeit der EGMR-Rechtsprechung
  • III. Beachtung und Auslegung der EMRK durch deutsche Gerichte
  • IV. Rechtsschutzmöglichkeiten bei Grundrechts- bzw. Konventionsverletzungen
  • 1. Deutschland – Klagevarianten vor den Fachgerichten
  • a. Erfolgsaussichten eines Amtshaftungsprozesses
  • b. Verhältnis zur verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage
  • c. Deutsche rechtsschutztechnische Zwischenbilanz
  • 2. Rechtsschutz vor dem EGMR
  • a. Voraussetzungen der Individualbeschwerde
  • b. Verhältnis zum BVerfG
  • D. Zwischenbilanz – Zusammenspiel von Grund- und EMRK-Menschenrechten
  • 3. Teil: Überblick über die relevante Rechtsprechung
  • A. EGMR-Judikatur
  • I. Soering (Urt. v. 7.7.1989, Nr. 1/1989/161/217)
  • II. Drozd & Janousek (Urt. v. 26.6.1991, 12747/87)
  • III. Loizidou (Urt. v. 23.3.1995, 15318/89)
  • IV. Bankovic (Urt. v. 12.12.2001, 52207/99)
  • V. Ilaşcu (Urt. v. 8.7.2004, 48787/99)
  • VI. Issa (Urt. v. 16.11.2004, 31821/96)
  • VII. Behrami & Saramati (Urt. v. 2.5.2007, 71412/01 & 79166/01)
  • VIII. Al-Jedda (Urt. v. 7.7.2011, 27021/08)
  • IX. Al-Skeini (Urt. v. 7.7.2011, 55721/07)
  • X. Hirsi Jamaa (Urt. v. 23.2.2012, 27765/09)
  • XI. Hassan (Urt. v. 16.9.2014, 29750/09)
  • XII. Jaloud (Urt. v. 20.11.2014, 47708/08)
  • B. Spruchpraxis in Deutschland
  • I. BVerfG, Washingtoner Abkommen (Beschl. v. 21.3.1957, 1 BvR 65/54)
  • II. BVerfG, Spanier-Beschluss (Beschl. v. 4.5.1971, 1 BvR 636/68)
  • III. BVerfG, Fernmeldeüberwachung durch BND (Urt. v. 14.7.1999, 1 BvR 2226/94)
  • IV. BVerfG, Schuldgrundsatz (Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14)
  • V. BVerfG, Varvarin (Beschl. v. 13.8.2013, 2 BvR 2660/06 & 2 BvR 487/07)
  • VI. BGH, Kunduz (Urt. v. 6.10.2016, III ZR 140/15)
  • VII. OVG Münster, Pirateriebekämpfung (Urt. v. 18.9.2014, 4 A 2948/11)
  • VIII. VG Köln, Ramstein (Urt. v. 27.5.2015, 3 K 5625/14)512
  • IX. VG Köln, Somalia (Urt. v. 27.04.2016, 4 K 5467/15)520
  • 4. Teil: Rechtsprechungsanalyse
  • A. Grundsatzentscheidung zugunsten der Extraterritorialität
  • I. Rechtsgrundlagen der extraterritorialen Grund- bzw. Menschenrechtsgeltung
  • 1. Art. 1 EMRK
  • a. Staatensouveränität als völkerrechtliche Interpretationsgrenze?
  • b. Erste Ansätze einer extraterritorialen Konventionsgeltung
  • c. Der Wendepunkt „Bankovic“
  • aa. Betonung des historischen Staatenwillens
  • bb. Problematik der geteilten und zugeschnittenen Rechte
  • cc. Erklärungsversuch der ergebnisorientierten Rechtsprechung
  • d. Der Bankovic-Aftermath bis hin zu Al-Skeini
  • 2. Art. 1 Abs. 3 GG
  • a. Reichweite der Wortlautauslegung
  • b. Historisches Überbleibsel der Personal- und Gebietshoheit?
  • aa. Völkerrechtliche Gebotenheit des Kriteriums
  • bb. Bezugnahme in der deutschen Rechtsprechungspraxis
  • c. Systematische Modifikationen und Differenzierungen
  • aa. Schutzbereichsmodifikationen
  • bb. Differenzierter Eingriffsbegriff
  • cc. Angepasster Rechtfertigungsmaßstab
  • (1) Schranken – Völkergewohnheitsrechtliche Eingriffsgrundlagen
  • (2) Schranken-Schranken – erweiterte Handlungsoptionen
  • dd. Zwischenbilanz zulässiger Modifikationen und Differenzierungen
  • 3. Zwischenbilanz – Dogmatik der zugelassenen extraterritorialen Garantien
  • II. Zurechnung rechtsverletzenden Verhaltens
  • 1. Zurechnungsfragen unter der Konvention
  • a. Die fünf Saramati-Kriterien
  • b. Vereinbarkeit mit allgemeinem Völkerrecht
  • c. Unerheblichkeit der Saramati-Kriterien im Meilenstein Al-Jedda
  • d. Einklang mit allgemeinem Völkerrecht in Jaloud
  • 2. Zurechnung zur deutschen Staatsgewalt
  • a. Zurechnungsfragen in der deutschen Rechtsprechung
  • b. Übertragungsmöglichkeiten von Hoheitsbefugnissen
  • c. Konsequenzen für die deutsche Spruchpraxis
  • 3. Zwischenbilanz – Zurechnungsfragen
  • III. Umfang der Grundsatzentscheidungen zugunsten der Extraterritorialität
  • B. Fallgruppen extraterritorialer Rechtsverletzungen
  • I. Die vermeintlichen „Klassiker“
  • 1. Diplomatische und konsularische Auslandsvertreter
  • 2. Schiffe, Flugzeuge – und Satelliten?
  • 3. Zwischenbilanz – Anerkannte „Klassiker“?
  • II. Festnahmen und Inhaftierungen
  • 1. Notwendigkeit eines territorialen Bezuges
  • 2. Besonderheiten bei militärisch Handelnden
  • a. Rechtfertigungserweiterung des Art. 5 EMRK
  • b. Militärischer Modifikationsgrad der Art. 2, 104 GG
  • 3. Zwischenbilanz – Anforderungen an extraterritoriale Festnahmen
  • III. Militärische Kampfeinsätze
  • 1. Besatzungszustände
  • a. Staatliches Kontrollsystem in der EGMR-Rechtsprechung
  • b. Grundrechtliche Bindungen als Besatzungsmacht
  • 2. Gezielte Schüsse/Bombardierungen
  • 3. Zwischenbilanz – Einteilung handlungsbasierter Fallgruppen
  • IV. Reichweite extraterritorialer Schutzpflichten
  • 1. EMRK-Schutzpflichten
  • 2. Grundrechtliche Schutzpflichten
  • a. Grundsätze bei Auslieferungen
  • b. Liegenschaftsüberlassungen
  • 3. Zwischenbilanz – Einigkeit über extraterritoriale Schutzpflichten
  • 5. Teil: Zusammenfassung und Fazit
  • Quellenverzeichnis
  • Literaturübersicht
  • Rechtsprechungsübersicht
  • Entscheidungen des EGMR
  • Entscheidungen deutscher Gerichte
  • Entscheidungen internationaler Gerichte
  • Dokumente und Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte sowie der UN-Menschenrechtsgremien

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1. Teil: Einleitung

“Where after all do universal human rights begin?

In small places, close to home – so close and so small that they cannot be seen

on any map of the world. Yet they are the world of the individual person:

The neighborhood he lives in; the school or college he attends;

the factory, farm or office where he works.

Such are the places where every man, woman, and child seeks equal justice,

equal opportunity, equal dignity without discrimination.

Unless these rights have meaning there, they have little meaning anywhere.

Without concerted citizen action to uphold them close to home,

we shall look in vain for progress in the larger world.”1

Mit diesem Appell blickte Eleanor Roosevelt, Vorsitzende der mit der Erarbeitung der UDHR befassten UN-Menschenrechtskommission, fünf Jahre nach deren Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung auf die Entwicklung der internationalen Menschenrechtsstandards. Nur wenn Menschenrechte keine reinen Programmsätze blieben, sondern effektiv jedem einzelnen Individuum tagtäglich in seinem Privat-, Berufs- und Bürgerleben zur Seite stünden, hätten die dahingehenden Selbstverpflichtungen der Staaten eine spürbare Auswirkung. Seit dem Ausspruch dieses Zitats und bereits im unmittelbaren Vorfeld dessen haben Menschenrechte eine beachtliche Entwicklung durchlebt, sind neben der zunächst rechtlich unverbindlichen UDHR in zahlreichen internationalen wie regionalen völkerrechtlichen Konventionen kodifiziert, in Verfassungen überall auf der Welt verankert und mittels Rechtsdurchsetzungsmechanismen für das Individuum greifbar und handhabbar geworden.

Im Zentrum der hiesigen Arbeit stehen mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zwei dieser individualrechtlichen Errungenschaften der Nachkriegszeit, deren Zielsetzung jeweils eine starke Stellung des Individuums in der Gesellschaft verfolgt. Die Absicherung jener ambitionierten Zielsetzungen funktioniert nicht zuletzt durch zwei mit starken Positionen ausgestattete Rechtsprechungsorgane – das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Aufgrund der Vertragsstaateigenschaft Deutschlands hinsichtlich der EMRK und der Einbindung ←19 | 20→des BVerfG in den zu durchlaufenden innerstaatlichen Instanzenzug vor einer Anrufung des EGMR gem. Art. 35 Abs. 1 EMRK eröffnet sich eine interessante Wechselbeziehung zwischen den beiden zugrundeliegenden Individualrechtssystemen. Die EU-Grundrechte-Charta sowie die dazu einschlägige EuGH-Rechtsprechung bleiben im Rahmen dieser Arbeit hingegen außer Betracht.

Hinsichtlich des Vergleichsmaterials dient die Frage einer extraterritorialen Anwendbarkeit und Reichweite der jeweiligen individualschützenden Rechte als Anknüpfungspunkt der Untersuchung. Während ein grundsätzlicher innerstaatlicher Menschenrechtsstandard inzwischen weithin breite Staatenakzeptanz findet, handelt es sich bei der extraterritorialen Erstreckung individualrechtlicher Bindung um die vielleicht größte Herausforderung des modernen Menschenrechtsschutzes. Denn nur, wenn das Individuum in seiner Sphäre vor Eingriffen durch jedwede und nicht nur seine Heimatstaatsgewalt geschützt wird, haben Menschenrechte Bedeutung und überall spürbares Gewicht. Es stellen sich vermehrt Fragen extraterritorialer Menschenrechtsverantwortung, sei es im Kontext multinationaler militärischer Einsätze, zu kämpferischen oder friedenssichernden bis hin zu humanitären Mandaten; sei es im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung verbunden mit standortunabhängigen Überwachungs- und Steuerungsoptionen von Datenverkehr oder Drohnenflügen; sei es hinsichtlich der Probleme der erst jüngst auftretenden Regelung des Zustroms von Geflüchteten mit der Perspektive einer Rückführung in Staaten mit ungewisser Sicherheitslage. Die für diese Arbeit getroffene Rechtsprechungsauswahl deckt einen Großteil der auftretenden und gerichtsbekannt gewordenen Fallkonstellationen ab, erhebt allerdings aufgrund der Vielzahl der in Bezug genommenen Spruchkörper und denkbaren Problemfelder keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Betrachtet wurde die möglichst in parallelen Fallgestaltungen gegenübergestellte Spruchpraxis der deutschen Judikatur sowie des EGMR bis einschließlich Dezember 2018. Die genannten Fallgestaltungen der asylbedingten Rückführungen stellen im Rahmen dieser Arbeit explizit keinen Schwerpunkt dar, vielmehr gilt es, die generellen Prinzipien, die eine grund- und menschenrechtliche Betrachtung im Falle der Übergabe von Personen an Drittstaaten erfordert, zu beleuchten.

Ziel dieser Arbeit ist es, neben der Nachzeichnung bisheriger Rechtsprechungslinien diese auf ihre dogmatische Vereinbarkeit mit den zugrunde liegenden Rechtsquellen hin zu untersuchen sowie eine Aussage über die wechselseitige Beeinflussung der Rechtssysteme, insbesondere hinsichtlich einer angemessenen Rezeption der EGMR-Judikatur in die innerstaatliche Rechtsprechung des Konventionsstaates Deutschland, zu treffen. Konsistenz und Rechtssicherheit können in diesem Rahmen dazu beitragen, Grund- und Menschenrechtsschutz effektiv zu gestalten – so that these rights have meaning everywhere.


1 A. Eleanor Roosevelt vor den Vereinten Nationen am 27.3.1953, abgedruckt bei Black, Courage in a Dangerous World, S. 190.

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2. Teil: Allgemeines Verhältnis von Grund- und Menschenrechten

A. Historischer Kontext

I. Entwicklung der Grundrechte in Deutschland

Das heutige Grundrechtsverständnis in Deutschland ist gekennzeichnet durch seine besonders weitreichenden und ausdifferenzierten Garantien, da das „Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat“2. Mit dieser Herangehensweise ging man beispielsweise weit über den Stellenwert individueller Rechte im angelsächsischen Raum hinaus,3 wenngleich die Ideen der Staatsmachtbegrenzung dort ihren Ursprung nahmen.4 Weiterhin besonders ist, dass die deutschen Grundrechte gerade nicht als Bürger- oder Menschenrechte bezeichnet wurden.5 Sie sind keine Bürgerrechte, weil sie nicht als Gegenleistung für die Unterwerfung unter die Staatsgewalt angesehen wurden;6 sie gehen über ←21 | 22→klassische Menschenrechte hinaus, weil ihre Entwicklung einer rein naturrechtlichen Herleitung als existentielle, jedem Menschen per se zustehende Rechte nicht gerecht wird.7 Sie sind vielmehr diejenigen grundlegenden Rechte, ohne die nach der historischen Erfahrung eine funktionierende staatliche Organisation nicht mehr auskommen können sollte.8

1. Freiheitliche Ideen im 18. Jahrhundert

Dieses Verständnis haftete ihnen freilich nicht schon von Beginn an, denn anfangs standen vielmehr wirtschaftliche Bedürfnisse als freiheitliche Überzeugungen im Zentrum staatsadressierter Rechte des aufstrebenden Bürgertums.9 In einer Zeit der politischen Neuordnung,10 des wirtschaftlichen Wandels vom mittelalterlichen Ständesystem hin zur Bauernbefreiung sowie der Abkehr vom absolutistischen hin zu einem republikanischen Staatsbild, drangen vorsichtig Ideen einer Eigentumsgarantie, Freiheit der Person sowie der Presse, Meinung und Versammlung an die gesellschaftliche Oberfläche.11

Wenngleich diese Ideen von den internationalen bzw. nachbarstaatlichen Entwicklungen mit geprägt waren, erreichten die aufkeimenden deutschen Gedanken bei Weitem nicht die Vehemenz der französischen oder amerikanischen Forderungen in der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen bzw. ←22 | 23→der Bill of Rights (beide 1789).12 Das Gebilde unumstößlicher und die Staatsmacht endgültig begrenzender Rechte des Einzelnen13 gedieh auf deutschem gesellschaftlichem Boden zurückhaltender und moderater, zumal die gewaltsame Durchsetzung gerade in Frankreich als eher abschreckendes Beispiel wahrgenommen wurde.14 Zwar fanden unter dem Eindruck des vor allem in Preußen immer weiter erstarkenden Polizeistaates diverse Ideengespinste individueller Rechte verschiedenster Herleitungen Einzug in die deutsche Rechtsliteratur.15 Zu einer ersten verfassungsrechtlichen Verankerung wirtschaftlicher,16 nicht jedoch politischer Rechte führte jedoch erst die napoleonische Besatzungszeit, wobei die deutschen – oktroyierten – Paradebeispiele deutlich hinter dem französischen Vorbild zurück blieben.17 Immerhin verblieben vereinzelt „staatsbürgerliche Rechte“ auch nach den napoleonischen Befreiungskriegen in den Landesverfassungen des Deutschen Bundes, die sich allerdings mehr als undurchsetzbare Versprechungen des jeweiligen Monarchen denn als vom Bürgertum erzwungene menschenrechtliche Garantien entpuppten.18

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Die generell in europäischer Schmiede entwickelte Idee untrennbar anhaftender persönlicher Rechte naturrechtlichen Ursprungs19 wurde in Deutschland wegen der territorialen wie auch gesellschaftlichen Zersplitterung in ihrer Entwicklung und Ausbreitung ausgebremst und nahm nur behäbig an Fahrt auf.20

2. Erstlingswerk „Grundrechte“ in der Paulskirche

Die Frustration über die nur unzureichenden monarchischen Zusicherungen, gerade in Bezug auf Presse-, Versammlungs- und Parteigründungsfreiheit, entlud sich gemeinsam mit dem lang gehegten nationalen Einigungsstreben in der Deutschen Märzrevolution 1848.21 Die Paulskirchenverfassung, die als erstes gesamtdeutsches Verfassungsdokument gedacht war, sah erstmals einen umfangreichen Grundrechtskatalog in den §§ 130-189 vor, der bereits 1848 als universell geltendes Bundesgesetz verabschiedet worden war22 – der einzige je rechtsverbindliche Teil der Paulskirchenverfassung, die nie in Kraft trat.

Details

Seiten
296
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631812990
ISBN (ePUB)
9783631813003
ISBN (MOBI)
9783631813010
ISBN (Hardcover)
9783631805565
DOI
10.3726/b16581
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Grenzüberschreitung Grundrechtsbindung Europäischer Menschenrechtsgerichtshof Staatenpflichten Schutzniveau
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 296 S.

Biographische Angaben

Sarah Friedrich (Autor:in)

Sarah Friedrich studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln. Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen arbeitete sie promotionsbegleitend als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Wirtschaftsrechtskanzlei und an der Universität zu Köln. Im Anschluss an die Promotion absolvierte sie das Referendariat in Köln.

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