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Das Gewissen im Recht – oder: Wo kann das Gewissen noch Recht haben?

Eine Untersuchung zur Krise des modernen Gewissens und ihrer Bewältigung

von Lisa Mareike Ostendorf (Autor:in)
©2020 Dissertation 290 Seiten

Zusammenfassung

Das Gewissen befindet sich aufgrund der Tatsache, dass es feststehende allgemeingültige Maßstäbe des Guten in einer pluralistischen und säkularisierten Welt nicht mehr gibt, in einer Krise, welche nach Hannah Arendt im Nationalsozialismus kulminerte. Auf der anderen Seite hat jedoch die in Art. 4 GG garantierte Gewissensfreiheit nur dann eine Berechtigung, wenn der Staat nicht von einer absoluten Wahrheit und Gerechtigkeit ausgeht, da ansonsten nicht einzusehen wäre, warum das Gewissen diese unterschiedlich reflektieren dürfen sollte. Hier zeigt sich ein scheinbar nicht aufzulösendes Spannungsverhältnis, wird das Gewissen doch in vielen Situationen des Alltags virulent. Das Buch soll einen neuen Umgang mit dem Gewissen und seiner Bedeutung für das Recht aufzeigen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1.) Einleitung und Problemaufriss
  • a.) Zum Bedeutungsschwund und zur Krise des modernen Gewissens
  • b.) Gang der Untersuchung und Aufbau der Arbeit
  • 2.) Welche Bedeutung hat das Gewissen im Recht?
  • a.) Zum Verhältnis von Gewissen und Recht
  • aa.) Zwischen Autonomie und Heteronomie der Rechtsordnung
  • (1) Ist ein „echtes Sollen“ für das Recht überhaupt erforderlich? Zu Moralität und Legalität nach Kant
  • (2) Eine Pflicht als „echtes Sollen“
  • (3) Der positivistische Lösungsansatz
  • (4) Anerkennung und Konsens als Elemente der Rechtsgeltung
  • (5) Wann ist eine Rechtsordnung konsensfähig?
  • bb.) Recht als Summe von Gewissensentscheidungen
  • cc.) Der Richter und sein Gewissen
  • (1) Der Eid auf das Gewissen
  • (2) Der strafrechtliche Schuldspruch als stellvertretendes Gewissensurteil?
  • dd.) Art. 38 GG – das Gewissen des Abgeordneten im Bundestag
  • (1) Ist das Gewissen der richtige Bezugspunkt für die politischen Entscheidungen des Bundestagsabgeordneten?
  • (2) Die Problemlösungsmethode nach dem allgemeinen Vernunftschema
  • (3) Die Aufgabe des Gewissens
  • ee.) Zum Begriff der „gehörigen Anspannung des Gewissens“ beim Verbotsirrtum
  • (1) Das Gewissen des Täters als untrügliches und den Maßstäben der jeweiligen Rechtsgemeinschaft entsprechendes Wertbewusstsein?
  • (2) Wenn ein Rekurrieren auf das Gewissen versagen muss
  • b.) Die Freiheit des Gewissens im Recht
  • aa.) Die These von der Freiheit des Gewissens als „Urgrundrecht“
  • (1) Historische Perspektive
  • (2) Verständnis in einem substanziellen Sinn
  • bb.) Die Gewissensfreiheit als Grundlage des modernen Freiheitsdenkens
  • (1) Anerkennung der Autonomie der Persönlichkeit
  • (2) Neutralität als „Beginn des modernen Staates“
  • cc.) Das Grundrecht der Gewissensfreiheit als Schutz des „Persönlichkeitskerns“ jedes Menschen, nicht aber einer „absoluten Wahrheit“
  • dd.) Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
  • (1) Situation in Deutschland
  • (2) Kriegsdienstverweigerung und ziviler Ungehorsam
  • (3) Internationale Regelungen und Ausblick auf andere Rechtskreise – „Conscientious Objections“ in den USA
  • 3.) Theologische und philosophische Betrachtungen zum Begriff des Gewissens
  • a.) Objektivistische Auffassungen
  • aa.) Ursprüngliche Bedeutung des Gewissens und theologische Grundlagen: Das Gewissen als „Erkenntnisorgan des Guten“
  • bb.) Hegels Konzeption des Gewissens
  • (1) Das formelle und das wahrhafte Gewissen
  • (2) Der Staat als Träger des Gewissens – eine verhängnisvolle etatistische Identifikation?
  • cc.) Objektivistische Rekonstruktionen des Gewissens in der Rechtsphilosophie der 1960er Jahre
  • (1) Schutzwürdigkeit nur desjenigen Gewissens, in welchem sich das „Wissen um das objektiv Richtige“ zeigt?
  • (2) Zur Unvereinbarkeit derartiger Positionen mit dem modernen Staats- und Gewissensverständnis
  • b.) Subjektivistische Ansätze
  • aa.) Kant und Fichte – zur Subjektseite des Gewissens
  • (1) Kant
  • (2) Fichte
  • (3) Diskussion – insbesondere zur These von der Irrtumsfreiheit des Gewissens
  • bb.) Das moderne subjektivistische Gewissensverständnis in der Rechtswissenschaft
  • (1) Die subjektive Ausrichtung des Gewissens als Ergebnis eines freiheitsgeschichtlichen Emanzipationsprozesses
  • (2) Zu Luhmanns funktionalistischem Gewissensverständnis
  • (a) Das Gewissen als Systemstabilisator der eigenen Persönlichkeit
  • (b) Diskussion und kritische Würdigung
  • 4.) Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des säkularen Grundrechts auf Gewissensfreiheit in Deutschland572
  • 5.) Gewissensentscheidungen auf unsicherer Grundlage
  • a.) Zur Justiziabilität von Gewissensentscheidungen: Lässt sich der Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?
  • b.) Ernsthaftigkeit statt „Richtigkeit“ als Kriterium für eine echte Gewissensentscheidung
  • aa.) Die Bereitschaft zur Konsequenz
  • bb.) Konsequenz des Gewissens und lästige Alternativen im Fall der Kriegsdienstverweigerung
  • cc.) Inkaufnahme von Nachteilen in anderen Fällen
  • c.) Das Urteil des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 und seine Rezeption
  • aa.) Zum Urteil
  • (1) Sachverhalt
  • (2) Entscheidung und Begründung des Gerichts
  • bb.) Urteilsanalyse und Diskussion: „Primat“ oder „Verschleiß“ des Gewissens – wie weit darf eine Gewissensentscheidung reichen?
  • d.) Gewissensentscheidungen auf unsicherer Tatsachengrundlage in der ausdifferenzierten und verkomplizierten modernen Welt
  • 6.) Zum Bedeutungsschwund des Gewissens in der aktuellen Debatte – was rechtfertigt die Rede vom Gewissen noch? Eine Abgrenzung von den „moderneren“ Begriffen der Vernunft und der Verantwortung
  • a.) Gewissen und Vernunft
  • b.) Gewissen und Verantwortung
  • c.) Bedeutungsschwund oder Bedeutungszuwachs des Gewissens?
  • 7.) Die Krise des modernen Gewissens – von der Wertoffenheit zur Perversion?
  • a.) Zum „Gewissenskollaps“ während des Nationalsozialismus
  • aa.) Das moralische Selbstverständnis im Nationalsozialismus
  • (1) Massenmord aus Moral?
  • (2) Eine „Ethik der Anständigkeit“
  • (3) Eugenik und „Rassengewissen“
  • (4) Die Richter des Nationalsozialismus: Blinde Diener des positiven Rechts oder indoktrinierte „Überzeugungstäter“?
  • bb.) Hannah Arendt, die Banalität des Bösen und die Eichmann-Kontroverse
  • (1) Arendts Leistung für die Holocaust-Forschung
  • (2) Das Böse als „partikular rational“
  • (3) Das Milgram-Experiment, das Stanforder Gefängnisexperiment und die Performancekunst „Rythm 0“
  • (4) Die Ambivalenz des Gewissens
  • b.) Die Krise des modernen Gewissens als Krise der modernen Welt
  • aa.) Eine Krise aus Verlust von Tradition und christlicher Sittlichkeit?
  • bb.) Eine generelle Krise des menschlichen Geistes gegenüber dem Guten?
  • cc.) Der Weg zu einem größeren Bewusstsein von der „Gefährlichkeit“ des Gewissens
  • c.) Zur Gewissenskrise aus psychologischer Sicht – das Gewissen als „repressives Organ“
  • aa.) Das Gewissen in Friedrich Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“
  • bb.) Das Über-Ich bei Sigmund Freud
  • cc.) Zum „autoritären Charakter“ nach Erich Fromm
  • dd.) Das zermarternde Gewissen in der Psychopathologie
  • ee.) Kontrastierende Gewissensfunktionen in Verfassungsrecht und Psychopathologie
  • 8.) Ein Weg aus der Krise
  • a.) Gewissen und Willensfreiheit
  • b.) Strawsons agnostischer Kompatibilismus – zu „Freiheit und Übelnehmen“
  • c.) Vergleichbare Ansätze für das Recht
  • aa.) Ist die Frage nach der Willensfreiheit überhaupt die richtige für das Strafrecht?
  • bb.) Das Prinzip der Verantwortlichkeit als unumstößliche Realität unserer menschlichen Existenz
  • d.) Bedenken gegenüber Strawsons Ansatz
  • aa.) Kritik an Strawsons Betrachtungsweise vom rein internen Standpunkt
  • bb.) Stimmen Strawsons Annahmen hinsichtlich des Verantwortlichkeitspessimismus und menschlichen reaktiven Verhaltensweisen?
  • e.) Übertragung auf das Gewissen – das Gewissen aus einer Teilnehmerperspektive
  • 9.) Zum Umgang mit der Gewissensfreiheit und dem Gewissen im Recht
  • a.) Wie weit darf die Toleranz eines „abweichenden Gewissens“ reichen?
  • aa.) Zur Schrankproblematik in Bezug auf die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG
  • (1) Grundsätzliches zu den absoluten Grenzen der Gewissensfreiheit
  • (2) Luhmanns Ansatz zur Lösung eines Konflikts zwischen Gesetz und Gewissen
  • (3) Abwägung und Herstellung von praktischer Konkordanz
  • bb.) Einschränkbarkeit des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung
  • cc.) Zum „Gewissensirrtum“ des Straftäters
  • (1) Die Debatte um die strafrechtliche Einordnung des „Gewissensirrtums“ – der Weg zur „schuldtheoretischen Lösung“ des § 17 StGB
  • (2) Eine Sonderbehandlung für Gewissenstäter?
  • (a) Unterscheidung zwischen Gewissens- und Überzeugungstäter
  • (b) Straflosigkeit in besonderen Fällen
  • b.) Wenn Gewissen und Recht im Widerspruch stehen
  • aa.) Zur Bedeutung des Konflikts zwischen Gewissen und Recht
  • bb.) Aktuelle Gewissenskonflikte und Dilemmata
  • (1) Besondere Notstandssituationen
  • (a) Der „Flugzeugabschuss“
  • (aa) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
  • (bb) Stellungnahmen in der Literatur
  • (cc) Zur Strafbarkeit im konkreten Fall – auch eine Frage des Gewissens?
  • (b) Die „Rettungsfolter“
  • (aa) Folterverbot und Menschenwürde
  • (bb) Strafe für den Folternden? Die Gewissensentscheidung in Dilemma-Situationen
  • (c) Ausblick auf rechtskulturell bedingte Unterschiede in Bezug auf besondere Notstandssituationen – der „Flugzeugabschuss“ und die „Rettungsfolter“ in den USA
  • (2) Fazit zum Konflikt von Gewissen und Recht
  • 10.) Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis

1.) Einleitung und Problemaufriss

a.) Zum Bedeutungsschwund und zur Krise des modernen Gewissens

Im Laufe der Geschichte wurde das Gewissen sehr oft Gegenstand philosophischen Denkens. Es tritt in Systemen der Ethik in der Regel als „moralische Instanz“ auf. Der Begriff des Gewissens zählt jedoch zu den umstrittensten und uneinheitlichsten, er divergiert wie kaum ein anderer in seinen Bewertungen und Auslegungen. Das Wort „Gewissen“ ist durch die Tradition der theologischen und philosophischen Ethik bis in die aktuelle Diskussion hinein einer der kontroversesten Termini geblieben. Das Phänomen „Gewissen“ lässt die Möglichkeit einer solchen Vieldeutigkeit offen. Es trägt etwas Rätselhaftes und Verborgenes in sich und kann daher auf vielfache Weise verstanden oder auch missverstanden werden.1

Doch nicht nur im Bereich der theoriebasierten Gewissensdeutung, auch im alltäglichen Sprachgebrauch herrscht mehr Verwirrung als Klarheit. Die Redewendung „Das muss jeder mit seinem Gewissen ausmachen“ bringt nur auf den ersten Blick die sittliche Wahrheit zum Vorschein und verweist nur scheinbar auf das „punctum inconcussum“. Oftmals entspringt sie vielmehr der resignativen Einsicht in die Aussichtslosigkeit weiterer vernünftiger Überlegungen, womit nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie von einem echten Vertrauen in die Urteilskraft des Einzelnen gestützt wird.2 Eine Aussage wie „Jeder muss das mit seinem Gewissen ausmachen“ oder „Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen entschieden“ dient nach Dina Emundts dazu, die Diskussion abzubrechen. Diese Redeweise bedeute, dass man nicht weiter diskutieren möchte. Es handele sich um einen Diskussionsabbruch aus Unwillen.3

So vermeidet Richard Rothe in seiner Ethik die Verwendung des Begriffs „Gewissen“ generell. Der Sprachgebrauch sei in Bezug auf das Gewissen vage und chaotisch. Die populäre Vorstellung fasse im Begriff des Gewissens die gesamte moralische Natur des Menschen samt all ihrer Erscheinungsweisen ←17 | 18→zusammen.4 „Gewissen“ sei ein Wort der Alltagswelt, gleichsam ein „Allerweltswort“.5 Emundts äußert, dass man angesichts der scheinbaren Uneinheitlichkeit des Gewissensbegriffs dafür plädieren könnte, diesen aufzugeben.6

Auch in der Stanford Encyclopedia of Philosophy findet sich die Aussage, dass in Debatten, welche besonders durch ein Rekurrieren auf das Gewissen geprägt sind, oftmals gar nicht klar ist, was mit dem Gewissen überhaupt gemeint wird. Daher bleibe es häufig im Dunkeln, was genau jemand unter Gewissen versteht, der beispielsweise Abtreibung aus Gewissensgründen ablehnt. In welchem Sinne steht Abtreibung dem Gewissen eines katholischen Arztes entgegen? Ist das Gewissen der Vernunft und der öffentlichen Debatte zugänglich oder basieren Gewissenserscheinungen nur auf Intuition und persönlicher Moral? Wie unterscheidet sich das Gewissen von moralischen Präferenzen?7

Zugleich ist in der aktuellen philosophischen Debatte – nach seiner Konjunktur in den 50er und 60er Jahren als eine Folge der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – immer weniger die Rede vom Gewissen. Das Wort „Gewissen“ findet sich kaum noch in den Sozial- und Humanwissenschaften. Es wird nicht selten als für die Wissenschaftssprache ungeeignet angesehen, da es sich sperrig gegenüber definitorischen Feststellungen zeigt und anfällig für weltanschauliche Konnotationen ist.8 Die Begriffe der Pflicht, der Verantwortung und der Vernunft scheinen das Gewissen abgelöst zu haben. Es wird eher vom moralischen Bewusstsein gesprochen.9 Piaget beschreibt das „moralische Urteil“10 sowie seine Entwicklung und Kohlberg befasst sich mit kognitiven „moralischen Dilemmata“11, wobei sich in deren Bewältigung die Entscheidungskompetenz der eigenen Persönlichkeit zeigt.12 Selbst im Bereich der Ethik und der philosophischen Anthropologie befindet sich das Wort „Gewissen“ auf ←18 | 19→dem Rückzug, obwohl die Überlegungen zum Gewissen hier seit jeher zu Hause waren.13 So stellt Hübsch den systematischen Bedeutungsschwund einer Grundkategorie der praktischen Philosophie fest, ohne welche die spätere Entwicklung von Begriffen wie Person, Recht und Moral nicht denkbar gewesen wäre. Das Prestige des Terminus Gewissen sei im Schwinden begriffen. Das Gewissen erstarre allmählich nur noch zu einer historischen Größe, das Verhältnis zu ihm werde immer distanzierter.14 Die verantwortliche Gewissensentscheidung wird durch eine Güterabwägung oder die praktische Vernunft ersetzt.15

Auch bei der Verfassungsauslegung wird beklagt, dass das in Art. 4 GG verankerte Grundrecht der Gewissensfreiheit schnell zur Leerformel wird, welche es nur „ob ihres ehrwürdigen Alters im Verfassungstext mitzuschleppen“ gilt.16 Dem Grundrecht wohne stets ein „Hauch des Unverbindlichen und des Pathetischen“ inne.17

Das Wort „Gewissen“ ist kein allgemeiner Rechtsbegriff. Die Wortbedeutung wird aus der Begriffswelt der abendländischen Philosophie und der christlichen Moral geschöpft. Die Philosophie und die Theologie haben über mehrere Jahrtausende hinweg keinen Konsens über die Kontur und Bedeutung des Begriffs Gewissen erzielen können. Doch Resignation und die Erklärung des Gewissens zum „definiens indefinibilis“ sind dem Verfassungsinterpreten versagt. Eine Norm kann schließlich nur dann praktische Geltung erlangen, wenn sie handhabbar ist, ihre Begriffe also definiert werden können.18 Doch auch dem Bundesverfassungsgericht fällt es nicht leicht, das Gewissen im Sinne des Grundgesetzes auf einen Begriff zu bringen. Es umschreibt das Gewissen als ein wie immer begründbares, jedenfalls aber tatsächlich erfahrbares seelisches Phänomen, „dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote des unbedingten Sollens“ sind.19 Als Gewissensentscheidung ist dabei „jede ernstliche sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten ←19 | 20→Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.20 Anhand dieser Definition wird die Aporie deutlich, welche bei der Auslegung des Begriffs Gewissen unumgänglich ist, indem „Gewissensentscheidung“ tautologisch mit „Gewissensnot“ definiert wird.21

Auch in wichtigen verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Gebieten wird immer weniger auf das Gewissen rekurriert. Im Bereich der Sterbehilfe beispielsweise wird das Gewissen in neueren Entscheidungen kaum noch ausführlich thematisiert, obwohl man dies vielleicht vermuten würde.22 Es handelt sich um eine rechtlich ausdifferenzierte Dogmatik, welche weitestgehend ohne Rückgriff auf das Gewissen oder das Grundrecht der Gewissensfreiheit auskommt.

Die sprachliche Mehrdeutigkeit des Gewissensbegriffs stellt die Rechtsordnung in demokratischen Gesellschaften vor ein echtes Dilemma. Zwar lässt sich die Bedeutung des Terminus einerseits durch Aussagen der philosophischen Anthropologie oder humanwissenschaftliche Erkenntnisse nicht eindeutig und zweifelsfrei festlegen. Andererseits wird das Gewissen als soziale Wirklichkeit Quelle verschiedenartiger Rechtskonflikte, sodass das Recht diese schon deswegen nicht übergehen darf.23

Im Verlust einer einheitlichen Terminologie kann der Verlust der Einheit der Sache selbst liegen, gleichsam als Reflex oder Zeichen einer „heutigen Gewissenskrise“.24 Folgt hieraus etwa „die Situation der Modernität, des sich selbst aufhebenden Gewissens“25, oder handelt es sich nur um eine „mangelnde Unterweisung der Gewissen“26, sodass nicht von einem generellen Gewissensverlust gesprochen werden kann? Kann von dem sprachlichen Indiz, dass das Gewissen aus der zeitgenössischen Sprache fast verschwunden ist, auf einen generellen Abfall oder die schleichende Verflüchtigung des Gewissens in der vom „Wertezerfall“ geprägten säkularisierten Gesellschaft geschlossen werden?27

←20 | 21→

Der Bedeutungsverlust des Gewissens wird tatsächlich häufig auf den Verlust absolut gültiger Werte in der pluralistischen und säkularisierten Welt zurückgeführt, welche eine Auflösung des objektiv-ethischen Bezugspunktes des Gewissens mit sich bringt. Gewissenskrisen seien damit immer auch normative Sinnkrisen.28 So fragt Thiele-Dohrmann: „Moses hatte die Zehn Gebote, Sokrates sein ‚Daimonion‘, Kant den kategorischen Imperativ – aber was haben wir?“29 Auch Hannah Arendt beobachtet eine „Krise der modernen Welt“, die daraus resultiert, dass es unabänderlich feststehende Maßstäbe des Guten nicht mehr gibt.30 Das „nationalsozialistische Gewissen“, welchem sie sich in ihrem Werk „Eichmann in Jerusalem“31 widmet, sei die entsetzliche Kulmination einer grundsätzlichen Krise des Gewissens und des persönlichen Urteilsvermögens in der abendländischen Welt, welche der nationalsozialistischen Normperversion weit vorausgeeilt sei.32 Um es mit den Wortes Hegels auszudrücken: „Das Gewissen ist als formelle Subjektivität“ immer „auf dem Sprunge […], ins Böse umzuschlagen“.33 Wie Blaise Pascal bereits feststellte: Niemals tut man so vollständig und ruhig das Böse, als wenn man es aus Gewissens- oder aus religiösen Gründen tut.34 Tatsächlich bescheinigte Erhard Eppler dem „furchtbaren Juristen“35 Hans Filbinger in den 1970er Jahren ein „geradezu pathologisch gutes Gewissen“.36 Wenn Eichmann sowie die anderen Täter des Nationalsozialismus ein Gewissen hatten, ist die moralische Welt zusammengebrochen in einem mit Arendts Worten „verheerenden Versagen dessen, was wir gemeinhin Gewissen nennen“.37 Das Böse hat moralische Züge bekommen, das Gewissen ist zu etwas geworden, vor dem man Angst haben muss.38

←21 | 22→

Das in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht der Gewissensfreiheit setzt jedoch auf der anderen Seite eine Wertoffenheit des Gewissensbegriffs gerade voraus. Die säkulare Gewissensfreiheit symbolisiert die Verabschiedung von einer objektivistischen Gewissensqualifikation.39 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit schützt nicht die ewige Wahrheit, sondern die Subjektivität des Menschen, den Kern seiner Persönlichkeit.40 Wie Luhmann schreibt: „Jeder hat ein Recht auf sein Gewissen. Man kann den Gewissensinhalt dann nicht mehr auf überpositives Recht beziehen und daran binden.“41 Der demokratische Rechtsstaat gründet nicht auf einer ganzheitlichen, letzten Wahrheit, sondern auf den praktischen Bedürfnissen des menschlichen Zusammenlebens. Nicht das Gewissen ist damit Baustein des Rechtsstaates, sondern die Gewissensfreiheit.42 Der hieraus resultierende Bewertungsmangel ist ein vom Grundgesetzgeber gewolltes, gleichsam programmatisches Defizit.43

Zugleich stellt sich aber die Frage, woran das Gewissen überhaupt noch rückgebunden werden kann, wenn das Recht auf es rekurriert und das Gewissen beispielsweise auch in besonderen Notstandssituationen – wie bei der Problematik um die Zulässigkeit der Rettungsfolter oder des Abschusses eines von Terroristen entführten Flugzeuges – relevant wird. Wie unterscheidet sich das Gewissen von einer bloßen Subjektivität, die sich jeder Bewertbarkeit entzieht? Eine achtzehnjährige Schülerin bringt diese Problematik um das Gewissen in einem Aufsatz zum Thema „Was erschwert in unserer Zeit eine Lebensgestaltung nach dem Gewissen?“ deutlich zum Ausdruck: „Es ist heute schwierig zu sagen, was eindeutig richtig und falsch ist. Die Palette der Möglichkeiten hat sich vergrößert. Man sagt: 1000 Gesichter, 1000 Meinungen. […] Was einen aber so unsicher macht, ist, dass diese 1000 Leute ihre Meinung auch rechtfertigen können. Man kann heute so viele verschiedene Stellungnahmen und Erklärungen über ein Thema hören und alles erscheint uns logisch. Der Mensch fühlt sich wie auf einem schwankenden Schiff, das sich nach allen Seiten dreht und jedes Mal umzukippen droht.“44

←22 | 23→

Schon Voltaire sah im Gewissen etwas Unbeständiges: „Beim Gemetzel der Bartholomäusnacht, bei den Autodafés, den heiligen Glaubensakten der Inquisition[,]; hat sich kein Mörder ein Gewissen daraus gemacht, Männer, Frauen und Kinder scheußlich zu Tode zu martern, die nichts anderes verbrochen hatten, als dass sie das Abendmahl anders feierten als ihre Inquisitoren. Daraus folgt, dass wir eben das Gewissen haben, das uns von der Zeit, vom Beispiel, von unserem Temperament und unserem Nachdenken angebildet worden ist. Der Mensch ist mit keinem Prinzip geboren, aber mit der Fähigkeit, jedes Prinzip anzunehmen. Sein Temperament mag ihn zur Grausamkeit oder zur Milde neigen; sein Verstand wird ihm eines Tags beibringen, dass 122 = 144 ist, daß man anderen nicht tun soll, was man nicht will, daß uns geschehe. Aber er wird auf diese Wahrheiten in seiner Kindheit nicht von selbst kommen; die erste wird er nicht verstehen und die zweite wird er nicht fühlen.“45

Wenn in Art. 4 Abs. 1 GG die Gewissensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet ist und nach Art. 4 Abs. 3 GG niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst an der Waffe gezwungen werden darf, wenn Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die Abgeordneten des Deutschen Bundestags nur ihrem Gewissen unterwirft, hält der Verfassungsgesetzgeber das Gewissen aber offenbar für einen Sachverhalt, auf den er bauen kann. Doch ist dem tatsächlich so? Die entscheidende Frage lautet, ob das Gewissen ursprünglich, schöpferisch und unfehlbar ist, ob es also sein Wissen aus sich selbst heraus hat, oder ob es lediglich von außen aufgenommene Normen repräsentiert. Die Antwort auf diese Frage hat eine besondere Bedeutung für das Vertrauen in den einzelnen Gewissensanspruch.46 Es ist daher den Chancen und Gefahren des Gewissens in einer durch einen nicht mehr rückgängig zu machenden Pluralismus geprägten Zeit nachzugehen.47

b.) Gang der Untersuchung und Aufbau der Arbeit

In der vorliegenden Dissertation wird herausgearbeitet, wie angesichts einer solchen Auflösung des Gewissensbegriffs überhaupt noch am Gewissen und seiner Funktion – auch für das Recht – festgehalten werden kann, welche Bedeutung dem Gewissen noch zukommt. Wo findet das Gewissen als Sachverhalt, auf den ←23 | 24→das Recht an verschiedenen Stellen rekurriert, in einer säkularisierten und pluralistischen Welt noch einen festen Rückhalt und was unterscheidet das Gewissen von bloß subjektiver Willkür?

In der Arbeit soll zuerst dargelegt werden, wo das Gewissen im Recht Bedeutung erlangt. Zunächst wird das Verhältnis von Gewissen und Recht analysiert und die grundlegende Frage gestellt, wie Gewissen und Recht zusammenhängen. Dann wird die Freiheit des Gewissens im Recht als Grundlage des modernen Freiheitsdenkens und Symbol für Toleranz, Säkularisierung und Pluralismus dargestellt. Die Gewissensfreiheit schützt in diesem Sinne den Persönlichkeitskern des Menschen, nicht aber eine objektiv richtige Wahrheit, auf welcher die Gewissensentscheidung beruht. Es folgen theologische und philosophische Betrachtungen zum Begriff des Gewissens, wobei zwischen objektivierenden und subjektivierenden Gewissensauffassungen unterschieden und die Entwicklung hin zu einem subjektiven und individualistischen Gewissensbegriff, wie er dem Grundgesetz zugrunde liegt, nachgezeichnet wird. Es schließt sich eine Darstellung der rechtsgeschichtlichen Entwicklung des säkularen Grundrechts der Gewissensfreiheit, wie es heute verfassungsrechtlich verankert ist, an.

Details

Seiten
290
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631826218
ISBN (ePUB)
9783631826225
ISBN (MOBI)
9783631826232
ISBN (Hardcover)
9783631824580
DOI
10.3726/b17132
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Gewissensfreiheit Gewissenskrise Säkularisierung Wertpluralismus Wahrheit Willensfreiheit Teilnehmerperspektive
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 290 S.

Biographische Angaben

Lisa Mareike Ostendorf (Autor:in)

Lisa Mareike Ostendorf absolvierte ihr Studium der Rechtswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwerpunktbereich Grundlagen des Rechts. Nach ihrem juristischen Vorbereitungsdienst in Frankfurt am Main ist sie seit dem Jahr 2020 Richterin in der hessischen ordentlichen Gerichtsbarkeit.

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