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Simpliciana XLII (2020)

von Peter Hesselmann (Band-Herausgeber:in)
©2021 Sammelband 442 Seiten
Reihe: Simpliciana, Band 42

Zusammenfassung

Der XLII. Jahrgang der Simpliciana enthält die Vorträge, die während der Tagung der Grimmelshausen-Gesellschaft zum Thema „Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ Anfang August 2020 in Münster gehalten wurden. Zusätzlich werden fünf Beiträge veröffentlicht, die sich dem Werk Grimmelshausens aus verschiedenen Perspektiven nähern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Editorial
  • Beiträge der Tagung „Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“
  • Geometrische Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen
  • ‚Theil oder Buch‘? Implikationen biblionomer Ordnungsmuster zwischen dem Kalkül des „Simplicianischen Autors“ und verlegerischer Kalkulation
  • Zur Darstellung devianter Personengruppen als Form der Einheit in den simplicianischen Schriften Grimmelshausens
  • Dispositionsformen von Recht und Erzählen in Grimmelshausens Verkehrte Welt
  • Wiederlesen, Korrigieren, Annotieren. Zum Verhältnis von Neuauflage und Fortsetzung bei Moscherosch, Grimmelshausen, Beer und Reuter
  • Lieder als Erzählelemente bei Grimmelshausen und Eichendorff
  • „Chaos, oder Verworrnes Mischmasch“ – doch „ohne einige Ordnung“? Grimmelshausens Ewig-währender Calender als Dispositionsmodell der simplicianischen Zehn-Bücher-Folge
  • Kalendarik als literarische Dispositionsform – Grimmelshausen, Rist, Bärholtz
  • Natürliche Ordnung. Zur Monatsdisposition als Gliederungs- und Fortsetzungsprinzip in der Kalender- und Zeitschriftenliteratur der Barockzeit
  • Umkämpfte Hausordnung. Zur Korrespondenz von Seele und Sinnen in Jacob Baldes Urania Victrix
  • Zu Einheit, Autorschaft und Fiktionalität in den Paratexten des Arminius-Romans Daniel Caspers von Lohenstein
  • Weitere Beiträge
  • Grimmelshausen in der Schweiz. Der Springinsfeld in einem Kalender für 1720
  • Der Schäfer will ein Kriegsmann werden. Wilhelm Raabes Erzählung Der Marsch nach Hause (1869–1870) – mit Grimmelshausen gelesen
  • „Schreiben wolle er!“ Auf den Spuren des Ich-Erzählers in die Gegenwart(sliteratur): Günter Grassʼ Das Treffen in Telgte in der Neuausgabe von 2018
  • Vom Übersetzen eines europäischen Bestsellers – Quevedos Sueños
  • Begriff und Theorie der Gnade in der Confessio peccatoris des Fürsten Ferenc Rákóczi II.
  • Simpliciana Minora
  • Verführungsszenen. Zum Motiv der verkehrten Welt in Grimmelshausens Josephsgeschichte und in der biblischen Josephserzählung
  • Frühneuzeitliche Kapitalethik in Grimmelshausens Rathstübel Plutonis
  • Das Todesdatum von Maria Magdalena Grimmelshausen
  • Der Simplicissimus Teutsch/Deutsch im „Literarischen Quartett“ (1. Mai 2020)....................................................................................
  • Das letzte Wort zum Klopapier
  • Rezensionen und Hinweise auf Bücher
  • Dieter Breuer: Grimmelshausen. Politik und Religion. (Kai Bremer)
  • Karl Ebert: Grimmelshausens Heimat am Oberrhein. (Dieter Martin)
  • Rainer Hillenbrand: Grimmelshausen-Studien. (Thomas Borgstedt)
  • Fritz Peter Heßberger: Courasche. (Peter Heßelmann)
  • Dirk Werle: Erzählen vom Dreißigjährigen Krieg. (Peter Heßelmann)
  • Roman Widder: Pöbel, Poet und Publikum. Figuren arbeitender Armut in der Frühen Neuzeit. (Philip Reich)
  • Klaus-Dieter Herbst: Biobibliographisches Handbuch der Kalendermacher. (Peter Heßelmann)
  • Henri Estienne: Nundinarum Francofordiensium encomium. Hrsg. von Elsa Kammerer. (Dieter Breuer)
  • Mitteilungen
  • In memoriam Brunhilde Lorenz
  • Bericht über die Tagung „Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit, 06.–07. August 2020 in Münster
  • Einladung zur Tagung „Satirisches Schreiben bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 17.–19. Juni 2021 in Gelnhausen
  • Ankündigung der Tagung „Geschlechtermodelle bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 23.–25. Juni 2022 in Oberkirch und Renchen
  • Anhang
  • Beiträger Simpliciana XLII (2020)
  • Simpliciana und Beihefte zu Simpliciana. Richtlinien für die Druckeinrichtung der Beiträge
  • Bezug alter Jahrgänge der Simpliciana
  • Grimmelshausen-Gesellschaft e. V.
  • Beitrittserklärung

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Editorial

Im XLII. Jahrgang der Simpliciana werden die Vorträge veröffentlicht, die während der Tagung der Grimmelshausen-Gesellschaft zum Thema „Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ Anfang August 2020 in Münster gehalten wurden. Darüber hinaus fanden fünf weitere größere Beiträge Eingang in das Jahrbuch. In der Rubrik „Regionales“ berichten wir regelmäßig über die Grimmelshausen-Gesprächsrunde in Oberkirch-Gaisbach und über Ereignisse in Renchen, die Grimmelshausen betreffen und im Berichtszeitraum stattfanden. Da im Jahr 2020 zahlreiche kulturelle Veranstaltungen aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt wurden, entfallen diesmal Informationen aus der Ortenau.

Die nächsten Tagungen der Grimmelshausen-Gesellschaft werfen bereits ihre Schatten voraus: Vom 17. bis zum 19. Juni 2021 wird in Gelnhausen eine Tagung durchgeführt, die „Satirisches Schreiben bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ zum Gegenstand haben wird. Die Einladung und das Tagungsprogramm findet der Interessierte in der Rubrik „Mitteilungen“. Wie immer wünsche ich mir zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die im Juni 2021 in die Geburtsstadt des simplicianischen Erzählers kommen werden.

Um „Geschlechtermodelle bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ wird es vom 23. bis zum 25. Juni 2022 in Oberkirch und Renchen gehen. Vortragsangebote sind willkommen.

Wilhelm Kühlmann, Mitglied des Vorstands der Grimmelshausen-Gesellschaft, feiert im März 2021 seinen 75. Geburtstag. Ihm ist – verbunden mit einem herzlichen Glückwunsch – für die langjährige Tätigkeit im Vorstand zu danken.

In tiefer Betroffenheit habe ich mitzuteilen, dass Brunhilde Lorenz am 20. November 2020 im Alter von 96 Jahren verstorben ist. Aufgrund ihrer Verdienste um Grimmelshausen, sein Werk und die Grimmelshausen-Gesellschaft wurde Brunhilde Lorenz am 10. Juli 2010 zum Ehrenmitglied der Grimmelshausen-Gesellschaft ernannt. Für ihr großartiges Engagement gebührt ihr der Dank der Grimmelshausen-Gesellschaft. Ein Nachruf auf Brunhilde Lorenz befindet sich in diesem Jahrbuch.

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PETER KLINGEL (Münster)

Geometrische Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen

Die Vorstellung, dass Gott bei der Erschaffung der Welt nach geometrischen Regeln verfahren ist, ist seit der Antike fest im christlichen Glauben verankert. Ihre wohl ausführlichste Darstellung findet sich im Timaios,1 dem für die Entwicklung des Christentum bis ins Mittelalter hinein wichtigsten der platonischen Dialoge.2 Im hellenistisch geprägten Buch der Weisheit (11, 21) heißt es wesentlich knapper, jedoch keineswegs weniger einschlägig, 3 Gott habe die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet. Berühmte mittelalterliche Darstellungen zeigen Ihn als Deus Geometra4 mit Zirkel ausgestattet und noch für Galilei, Kepler und Leibniz gilt es als ausgemacht, dass – wie Kepler es formuliert – „die gantze Natur […] in der Geometria symbolisirt sey“.5

Über den Bereich der Naturphilosophie und Kosmologie bzw. ab dem 17. Jahrhundert der modernen Naturwissenschaften hinaus prägt ←15 | 16→die Vorstellung einer geometrischen Ordnung der Dinge auch solche Wissensgebiete, die sich auf den ersten Blick kaum auf mathematische Begriffe bringen lassen. Ganz explizit begegnet man ihr etwa in den Bereichen der Ökonomie, der Staatstheorie und auf dem Feld der Regierungskunst: In den geometrischen „Proportionen, die im Kosmos herrschen“, wird hier „Vor- und Urbild einer zu erlangenden Harmonie weltlicher Einrichtungen“6 erkannt, in welcher, so die dezidiert christliche Interpretation, der menschliche Wille mit demjenigen Gottes konvergieren soll.

Kontinuität und Proportion – es sind diese beiden Grundprinzipien der Geometrie, welche ihre enorme Anschlussfähigkeit erklären, verweisen sie doch auf „die Allmacht […] eines bestimmten Programms“,7 das von den Griechen als „Profil des Universums“8 betrachtet wird: „desjenigen des Logos selbst, sofern man ihn nicht mehr als Wort oder Rede, sondern als gleiches Verhältnis definiert“.9 Der französische Philosoph Michel Serres hat die Genese dieses Gedankens anhand einer anschaulichen – wenn auch wohl kaum authentischen – Anekdote aus dem Leben Thalesʼ von Milet beschrieben:

Indem er den Schatten des Grabes mit dem eines Pfahls oder seinem eigenen Körper in Bezug setzt, behauptet Thales die Invarianz einer Form bei Variation der Größe. Sein Theorem besagt also, daß Größen ins Unendliche ausgedehnt werden können und ihr Verhältnis dennoch erhalten bleibt. Vom Kolossalen, der Pyramide, über das Geringe, den Pfahl oder Körper, zum beliebig Kleinen behauptet das Theorem einen Logos, ein identisches Verhältnis, die Invarianz ein und derselben Form, vom Riesenmodell zum Miniaturmodell und umgekehrt.10

In Bezug auf ihre historische Dignität hinter der Geometrie zurück steht die Arithmetik. Zwar kommt den natürlichen Zahlen und ihren Verhältnissen in der Antike eine nicht zu unterschätzende ästhetische und spiri←16 | 17→tuelle Bedeutung zu,11 die sich in der christlichen Zahlenmystik und -symbolik12 fortsetzt (auch die Zahl wird ja im zitierten Vers aus dem Buch der Weisheit explizit genannt). Gleichwohl ist dasjenige, was die Arithmetik zu eben diesen Spekulationen über Einheit und Vielheit prädestiniert auch gleichzeitig das, was sie aus dem Bereich höherer Erkenntnis ausschließen musste, insofern nämlich die Logik des Diskreten, die ihr zugrunde liegt, mit der Logik der Kontinuität und Proportionalität allen Seins schlichtweg als nicht kompatibel galt: Weder lassen sich die kontinuierlichen Verhältnisse der Geometrie in ganzen Zahlen darstellen noch macht die Natur, als augenfälligster Ausdruck der göttlichen Schöpfung, Sprünge.13

Im 16. und 17. Jahrhundert findet in Bezug auf diese Hierarchisierung eine entscheidende Verschiebung statt, die nicht zuletzt auf jene gesteigerte Sensibilität für Kontingenz zurückzuführen ist, wie sie in der ideengeschichtlichen Forschung hinreichend beschrieben worden ist: Die Idee der Bewegung bzw. Veränderung hält – in Form von Variablen und Funktionen – Einzug in die Mathematik. Dies ist historisch gesehen alles andere als selbstverständlich, steht eine solch ‚neue‘ Mathematik doch im Gegensatz, ja gar im Widerspruch zur klassischen, d. h. griechischen Mathematik, für die mathematisches Wissen gleichbedeutend gewesen ist mit Wissen vom Unwandelbaren.14

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Mit dem Einzug dieser neuen Größen einher geht eine grundlegende Aufwertung von Operativität, die in der klassischen Mathematik keinen Ort hatte. Hier hat man ganz entschieden nicht gerechnet, ja kaum einmal gezählt – galt dies doch als Domäne der Händler, Steuerbeamten und Geldverleiher und wurde, als téchne, kategorisch aus dem Bereich der eigentlichen mathematischen ‚Wissenschaft‘ ausgeschlossen.15 Die ‚neue‘ Mathematik des 17. Jahrhunderts aber steht ganz im Zeichen der Formalisierung und Kalkülisierung einschlägiger Rechenoperationen. Unter solch neuen Voraussetzungen nun musste die Arithmetik als mathematische Disziplin stärker in den Fokus des Interesses rücken.

Das wohl tiefgreifendste Novum in diesem Zusammenhang, das auch philosophisch, theologisch und – wie etwa Peter Schnyder16 und Elena Esposito17 ausführlich dargelegt haben – poetologisch immense Konsequenzen nach sich gezogen hat, ist die Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsdenkens. Nicht nur richtet selbiges durch die Betrachtung der Zukunft den Blick auf einen Bereich, der bis dato menschlichem Wissen per definitionem als unzugänglich galt – dies allein hätte schon für Aufsehen sorgen können –, auch scheint sein philosophisches Instrumentarium bestehende Ordnungsvorstellungen entschieden ins Wanken zu bringen.

Die Annahme einer geometrischen Weltordnung, wie sie eingangs beschrieben worden ist, setzt spätestens seit der wirkmächtigen Argumentation in der Physik des Aristoteles die Vorstellung voraus, dass auch die Zeit – als komplementäre Dimension des Raumes – nicht an←18 | 19→ders denn als Kontinuum gedacht werden kann.18 Genau dies ist es, was im Zuge der Entstehung des neuen Wahrscheinlichkeitsdenkens und der sie fundierenden neuen Handlungsmetaphysik, die den Fokus auf Entscheidungen mit Blick auf ihre Folgen in der Zukunft richtet, wenn auch nicht bezweifelt, so doch unter Berufung auf eine pragmatischere Perspektive als nebensächlich betrachtet wird.

Die beiden Positionen, die hier einander gegenübergestellt werden, sind der Aristotelismus und der, von Aristoteles im sechsten Buch der Physik eigentlich ‚widerlegte‘, jedoch vor allem von jesuitischer Seite erneut aufgegriffene, Zenonismus19 – der von nicht wenigen geradeheraus als epikureisches Gedankengut diffamiert wird.20 Wird die Richtigkeit der aristotelischen Argumente zugunsten der Kontinuität, also der unendlichen Teilbarkeit, von Raum, Zeit und Bewegung21 auch weiterhin anerkannt, so erweist sich ein „diskreter Zeitbegriff“, wie er sich in den berühmt-berüchtigten Paradoxa Zenons von Elea findet, für den neuen handlungsmetaphysischen Ansatz als „bequemer“:22

Die Möglichkeit zur Betätigung der Freiheit ist auf der Zeitachse angesiedelt. Folglich können so viele Akte getätigt werden wie es Zeitpunkte gibt. Als Peripatetiker wird man zwar davon ausgehe, daß jeder Zeitraum durch eine potenziale Unendlichkeit proportionaler Teile konstituiert wird. Trotzdem sorgt der handlungsmetaphysische Ansatz für eine Akzentverschiebung. […] Um einer realistischen Handlungsmetaphysik willen, wird […] lieber unterstellt, daß je←19 | 20→der Willensakt Zeit braucht und jeder Zeitraum daher nur für eine finite Menge von Akten aufnahmefähig ist. […] In der Jesuitenscholastik […] besteht eine starke Neigung, entgegen der Warnung des Aristoteles zwischen den beiden Formen des Kontinuums, zwischen Raum und Zeit, systematisch zu trennen. Auch wenn man zugeben muß, daß Aristoteles’ geometrische Argumente zugunsten der unendlichen Teilbarkeit unwiderleglich sind, möchte man sich Zeiträume aus einer finiten Menge von Zeitpunkten zusammengesetzt denken können.23

Der Hinweis auf die Nähe des Zenonismus zum Epikureismus ist in diesem Zusammenhang zentral, wird doch erst durch diese Verbindung verständlich, worin hier das eigentliche theologische Problem besteht. Der diskrete Zeitbegriff Zenons entspricht, so eine gängige Meinung, der atomistischen Raumvorstellung eines Epikur.24 Dieser Atomismus wiederum sei es, der Epikur zu der Überzeugung geführt habe, dass die Welt nicht nach den Prinzipien einer höheren Ordnung gestaltet ist oder gar einem wie auch immer gearteten Plan folge, sondern vom Zufall regiert werde.25 Aus einer moralphilosophischen Perspektive folgt hieraus die Negation einer übergeordneten, sprich über den jeweiligen ←20 | 21→Moment hinausreichenden Sinngebung. Wer also die Kontinuität der Schöpfung zugunsten einer diskreten Ordnung von Zeit und Raum leugnet, der leugnet eben auch die transzendente Finalität der christlichen Moral überhaupt.

Mit Blick auf das Werk Grimmelshausens sind diese Ausführungen zu den Berührungspunkten von Mathematik und Theologie insofern relevant, als der alte Simplicius bekennt, sich über weite Strecken seines Lebens „gottlos wie ein Epicurer“ verhalten und „das meinige niemal in Gottes Schutz“26 befohlen zu haben. Und mag ihn auch die extreme Machiavelli-Auslegung Oliviers von Anfang an abschrecken, so erscheint sein Handeln, blendet man den Herrschaftsaspekt27 aus, doch nicht selten machiavellistisch, wenn hiermit die Entkoppelung der eigenen Entscheidungsmaximen von religiösen Normen zugunsten des persönlichen Vorteils gemeint ist.28 Epikur und Machiavelli, dies hat bereits Innocent Gentillet in seinem Anti-Machiavel (1576) festgestellt, stammen aus demselben „Sewstall“29 – leugnen sie doch beide die göttliche Providenz und propagieren den Vorrang des Zufalls bzw., im Falle Machiavellis, der blinden Fortuna und der entsprechenden Gelegenheit, die es um der Selbsterhaltung willen zu nutzen gilt, je nach den Geboten der Notwendigkeit. Diese Haltung entspricht strukturell einer der Logik der Arithmetik verpflichteten Handlungsmetaphysik, die jede Handlung und jedes Ereignis als für sich abgeschlossenen Akt ohne finalen Bezugspunkt betrachtet.

Worum es nun Grimmelshausen zu tun ist, ist die Einsicht in das eigene Aufgehobensein innerhalb des göttlichen Heilsplans. Hierzu gilt ←21 | 22→es, jene Perspektive zu überwinden, die jedes Ereignis als kontingent und diskret betrachtet, zugunsten einer Haltung, die zu jedem Zeitpunkt das Ganze – eben die Kontinuität – des göttlichen Heilsplans wenn nicht zu verstehen, so doch wenigstens überzeugt anzunehmen sich vornimmt.30 Zentral hierfür ist im Simplicissimus die Metapher des Augenblicks – eines Begriffs, der als solcher bereits über zwei Bedeutungsebenen verfügt, nämlich zum einen eine zeitliche (der Augenblick als flüchtiger Moment) und, wenn man ihn aus der Perspektive Gottes heraus denkt, eine räumliche.

Der Begriff ‚Augenblick‘ in seinem zeitlichen Verständnis ist aufs engste verbunden mit dem der ‚Gelegenheit‘ und es ist die Struktur der Gelegenheit, in der sich der Geist des Kalküls, der Rechnung auf die Zukunft, am deutlichsten manifestiert. Dass eine solche Rechnung sich indes in aller Regel nicht auszahlt – ja, der vermeintliche Gewinn in den meisten Fällen nur von kurzer Dauer ist –, muss Simplicius im Laufe der Handlung immer wieder schmerzlich am eigenen Leib erfahren.

Die Einsicht in zu unrecht ergriffene Gelegenheiten auf der einen und verpasste Gelegenheiten auf der anderen Seite31 führt ihn gegen Ende des Romans zu einer grundlegenden Skepsis hinsichtlich der Voraussagbarkeit zukünftiger Ereignisse überhaupt. So heißt es im „ADjeu Welt“: „[I]n deinem [also der Welt; P. K.] Hauß ist das vergangene schon verschwunden/ das gegenwärtige verschwindet uns unter den Händen/ das zukünfftige hat nie angefangen […].“ (ST 544) Wer im Moment des Entscheidens, im Ergreifen also der flüchtigen Gelegenheit, davon ausgeht, die für das eigene Seelenheil notwendige Reue auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft verschieben zu können,32 der verkennt, dass es eine solche von der Gegenwart unterschiedene Zukunft überhaupt nicht geben kann.

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Um eine solche falsche Perspektive zu überwinden, gilt es, sich auf den Kontinuumsgedanken zu besinnen – und diese Refokussierung wiederum lässt die zweite, räumliche Bedeutung der Augenblicksmetapher in den Vordergrund rücken und mit ihrer zeitlichen Bedeutung verschmelzen.

In einem kurzen Aufsatz über Unendlichkeit und Fortschritt (entstanden um 1695) schreibt Leibniz – unter Bezugnahme auf Pascal –, dass selbst „der kleinste Ausschnitt [der Schöpfung, inkl. der vergehenden Zeit; P. K.] durch die wirkliche Unendlichkeit seiner Teile“ als Spiegel des gesamten Universums zu begreifen sei, und „daß ein genügend großer Geist, der mit einem genügend durchdringenden Blick bewaffnet ist“, in ebendiesem Ausschnitt „alles das […] sehen könnte, was überall ist. Ja mehr noch: er könnte darin auch die ganze Vergangenheit und sogar die ganze Zukunft lesen“, die

auf unendliche Weise unendlich ist, weil sie in jedem Augenblick unendlich ist und weil es eine Unendlichkeit von Augenblicken in jedem Teil der Zeit gibt und mehr Unendlichkeit als man sagen kann in aller zukünftigen Ewigkeit.33

Aus der Perspektive des ‚genügend großen Geistes‘,34 der den unendlichen Zusammenhang der Zeit, welcher Ewigkeit genannt wird, zu erkennen vermag, ist dieselbe Ewigkeit – dies ist die entscheidende Pointe – nur ein einziger Augenblick. Und zwar ganz räumlich verstanden – in dem Sinne, dass besagter Geist die Ewigkeit als Gesamtes überblickt. Dass diese Perspektive dem Menschen freilich nicht gegeben ist, macht dabei wenig aus – er kann sie als die Perspektive des allwissenden Gottes akzeptieren und sich dementsprechend verhalten.35

Auf die Bemerkung Simplicius’, dass das „Geschlecht“ der Sylphen „von unserm Schöpffer weit höher geadelt und beseeligt“ sei „als ←23 | 24→das unserige“, da ihm ein schmerzvoller Tod fremd ist, entgegnet der König des geheimnisvollen Wasservolkes, dass dem mitnichten so sei – und zwar insofern als der Mensch „zu der seeligen Ewigkeit“ erschaffen sei und dazu, „das Angesicht GOttes unauffhörlich anzuschauen […] in welchem seeligen Leben eurer einer der seelig wird/ in einem einzigen Augenblick mehr Freud und Wonne/ als unser gantzes Geschlecht von Anfang der Erschaffung biß an den Jüngsten Tag/ geneust.“ (ST 499) „[D]as aber was ihr das Leben nennet“, so der Sylphenkönig weiter,

ist gleichsam nur ein Moment und Augenblick/ so euch verliehen ist/ GOtt darin zu erkennen/ und ihme euch zu nähern/ damit er euch zu sich nemmen möge/ dannenhero halten wir die Welt vor einen Probierstein Gottes/ auff welcher der Allmächtige die Menschen/ gleich wie sonst ein reicher Mann das Gold und Silber probiert […]. (ST 504)

Die gesamte diesseitige Existenz ist nichts weiter als ein Augenblick, denkt man sie sich aus der Perspektive Gottes, dessen Blick sich nicht einmal in der Endlichkeit erschöpft, sondern sich ebenso auf die Unendlichkeit erstreckt – im Verhältnis zu der das Endliche schon rein mathematisch ein Nichts ist.36 Ist dies aber die akzeptierte Position, kann es auch für den gläubigen Christen letztlich keine einzelnen Augenblicke und Gelegenheiten im diskreten, linearen Sinne mehr geben, sondern eben nur noch die eine Gelegenheit, den einen Augenblick, der die gesamte hiesige Existenz darstellt.

Auf der pragmatischen, lebensweltlichen Ebene erscheint so jeder nächstfolgende Augenblick der per se endlichen diesseitigen Zeit als der entscheidende. Wer indes so denkt – und dass in der Frühen Neuzeit in der Tat so gedacht wurde, hat Gottfried Kirchner in seiner Studie über den Bedeutungswandel des Fortuna-Motivs im Barock dargelegt –, für den bilden diese Augenblicke, so Kirchner, „keine isolierten Elemente“ mehr, „sondern fügen sich zur Heilshistorie“.37

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Eine Möglichkeit, die Linearität der diskreten Ereignisse zu durchbrechen, indem das Individuum im Akt der Entscheidungsfindung den Umweg über den göttlichen Blick nimmt, zeigt bekanntlich das Wunderbarliche Vogel-Nest:

Solches und dergleichen waren meine Gedanken/ […] und der Schluß den ich darauff machte/ war dieser/ daß derjenige Mensch alsdann nicht unbillich gottlos und GOttes vergessen zu nennen seye/ wann er die continuirliche Gegenwart GOttes auß dem Gedächtnus verliere/ oder hindangesetzt seyn lasse; der aber gottsförchtig sey/ der solche unläugbare gewisse Gegenwart deß Höchsten unaußsetzlich und in allem seinem Handel und Wandel/ Thun und Lassen vor Augen habe/ observiere und respectire […].38

Gottes Gegenwart, dies ist entscheidend, wird hier als „continuirlich“ beschrieben. Die Besonderheit dieser Wortwahl mag zunächst wenig auffällig daherkommen, doch erscheint sie mir vor dem Hintergrund des erläuterten Problemzusammenhangs durchaus von einiger Suggestivkraft zu sein: Gott, so die entsprechende Paraphrasierung, ist die Instanz, die durch ihre Allwissenheit und Allgegenwart die Kontinuität sowohl des Raumes als auch der Zeit und damit eo ipso des Heilsplans gewährleistet.39

Abseits der Frage individuellen christlichen Handelns und mit einer gewissen Akzentverschiebung findet das Verhältnis von Geometrie und Arithmetik ebenfalls Eingang in Grimmelshausens historische Romane, auf die ich im Folgenden noch zu sprechen kommen möchte. Mehr als im ersten Teil dieses Aufsatzes ist es hier die Frage nach der politischen Dimension der beiden Begriffe, die bereits in der Antike präsent ist und sich bis in die Frühe Neuzeit hinein hält. Und während es bis hierher primär um jene Probleme ging, die sich im Anschluss an das sogenannte Kontinuumsproblem und dessen theologische Konsequenzen stellten, rückt an dieser Stelle die zweite zentrale Kategorie der geometrischen Weltdeutung in den Vordergrund, eben die der Proportionalität oder Verhältnismäßigkeit.

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In der Politik spielt die Unterscheidung zwischen Geometrie und Arithmetik eine zentrale Rolle, wenn Aristoteles auf die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs ,Gleichheit‘ zu sprechen kommt:

[E]s gibt eine doppelte Gleichheit, nach der Zahl und nach dem Werte. Unter dem Gleichen nach der Zahl verstehe ich das der Menge oder Größe nach Gleiche und Nämliche, unter dem Gleichen nach dem Werte das nach Verhältnis Gleiche.40

Diese Unterscheidung von Zahl und Wert liegt auch seiner Theorie der Gerechtigkeit zugrunde. So wird jene Form der Gerechtigkeit, welche in Rechtsfragen „das Moment der Würdigkeit“ zum „Richtmaß“41 hat, bei der also, ein wenig verkürzt formuliert, der ‚Wert‘ oder das Ansehen der Person ins Gewicht fällt, in der Nikomachischen Ethik explizit als geometrisch42 bezeichnet. (Bis heute spricht man auch von der sog. verteilenden Gerechtigkeit oder iustitia distributiva). Im Gegensatz hierzu steht die arithmetische43 Gerechtigkeit (oder iustitia commutativa), die ohne Ansehen der Person jedem das gleiche Recht zuspricht.

Bei Grimmelshausen spielt diese klassische Unterscheidung der beiden Gerechtigkeitsformen zunächst im Hinblick auf staatsökonomische Fragestellungen eine wichtige Rolle. Dass sie ihm ganz explizit und nicht nur der Sache nach bekannt gewesen ist, lässt sich anhand einer Stelle im Teutschen Friedens-Raht belegen, in welcher selbige, unter expliziter Berufung auf das Naturrecht, auf das Problem einer gerechten Abgabenordnung angewendet wird:

Es scheinet/ schreiben die Historici und Politici, daß es ein unbillich werck sey/wann ein armer Mann/ der mit viel Kinder begabet/ und etlich stuck vieh erhalten muß/ gegen einem Reichen/ der weder Kinder noch vieh hat/ so viel Hauptgelt abrichten/ und der Reich bey nahen gar nichts erlegen solt. Im gegentheil erfordere das natürliche Recht/ […] daß wer viel hat/ derselbe auch viel gelt gebe/ wer aber wenig oder nichts hat/ auch wenig oder nichts gebe/ und demnach der Geometrischen und nicht nach der Arithmetischen proportion.44

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Die Grundlage eines gesunden Staatshaushaltes und einer gerechten Regierung bildet die geometrische Verteilung der Güter,45 zu der ja ex negativo auch die Abgaben durch die Bevölkerung gehören. Es ist dieser Gedanke, der im Musai zur Kritik an den Wirtschaftspraktiken Josephs bzw. des Pharaos führt:

Warum hätt er [also Joseph] hiebevor dem Pharaone einen Rath geben/ dardurch alle Reichthüm der halben Welt in seine Schatz-Cammer zusammen geflossen? Sehet mein Herr! darum trauret das erarmte Land; dessen Jnwohner weder eigne Äcker/ noch Häuser/ noch Viehe/ noch Gelt besitzen/ noch eigne Herren über ihre eigne Leiber mehr seyn/ denen doch GOtt und die Natur solche so wohl als dem König den Seinigen zum Eigenthum angeschaffen; […] Jch wolte nur zuverstehen geben/ daß mich bedunckte/ du habest dem Gesetz der Natur nicht so gar gemeß gehandelt/ daß du so viel und grosse Schätz allein dem Pharaone zugeeignet/ die doch von der Natur gegeben worden? daß nit nur der König/ sondern alle Menschen deren geniessen und sich ihrer erfreuen sollten […].46

Natürlich ist die Überlegung Josephs, in Zeiten des Wohlstands Sparmaßnahmen in Angriff zu nehmen, um bevorstehende Krisenzeiten überstehen zu können, keineswegs per se falsch – wo Thesaurierungspolitik jedoch in letzter Konsequenz lediglich um ihrer selbst willen betrieben wird, bis zu dem Punkt, an dem das eigene Volk, das es zu versorgen gilt, in Leibeigenschaft gerät, dort befinde man sich, darauf macht Musai aufmerksam, an der Schwelle zur Tyrannei oder aber zum Bürgerkrieg.47

Die ägyptische Wirtschaftspolitik steht in direktem Widerspruch zur Wirtschaftstheorie des Aristoteles, die einen Unterschied zwischen Reichtum und bloßem Gelderwerb macht:

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Gelderwerb und naturgemäßer Reichtum ist zweierlei. Dieser letztere gehört zur Hauswirtschaft, jener dagegen beruht auf dem Handel und schafft Vermögen rein nur durch Vermögensumsatz. Und dieser Umsatz scheint sich um das Geld zu drehen. Denn das Geld ist des Umsatzes Anfang und Ende. Daher hat denn auch dieser Reichtum, der aus dieser Art Erwerbskunst fließt, kein Ende und keine Schranke.48

Die arithmetische Logik des Handels, die lediglich und stets von Neuem addiert und subtrahiert, aber nicht verteilt,49 steht im Widerspruch zur natürlichen Ordnung. Musais Vorschlag, mittels eines Großbauprojekts einen Großteil des Geldes wieder unter das Volk zu bringen, stellt in diesem Sinne ein Korrektiv dar. Dass es ausgerechnet der Bau der Pyramiden ist, ist ausgesprochen klug ersonnen, fungiert die Pyramide mit ihren regelmäßigen geometrischen Proportionen doch gleichsam als Symbol einer gerechten Verteilung der Güter.50

Details

Seiten
442
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783034342988
ISBN (ePUB)
9783034342995
ISBN (MOBI)
9783034343008
ISBN (Paperback)
9783034342940
DOI
10.3726/b18189
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Ordnungsvorstellungen Grimmelshausen Literatur Frühe Neuzeit Simplicissimus Dispositionsformen
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021, 442pp.

Biographische Angaben

Peter Hesselmann (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Simpliciana XLII (2020)