Die Reise nach Ost- und Ostmitteleuropa in der Reiseprosa von Wolfgang Büscher und Karl-Markus Gauß
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Herausgeberangaben
- Ãœber das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- 1. Ost- und Mitteleuropa versus Ostmitteleuropa. Die Raumentwürfe
- 1.1. Osteuropa
- 1.2. Mitteleuropa
- 1.3. Ostmitteleuropa
- 2. Vom Reisebericht zur Reiseliteratur. Die Reiseliteratur als literarische Gattung
- 2.1. Die Reise als Topos, Motiv und Strukturelement der Reiseliteratur
- 2.2. Die Begegnung mit dem Fremden
- 2.3. Die Fiktionalität und Intertextualität in der Reiseliteratur
- 3. Die Konzeptualisierungen von Ost- und Ostmitteleuropa in der Reiseliteratur nach 1989
- 3.1. Der Raum in der Reiseliteratur
- 3.2. Die Darstellung von Ost- und Ostmitteleuropa nach der Wende 1989/90 in der deutschsprachigen Reiseliteratur
- 4. Zu Fuß durch Osteuropa. Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß von Wolfgang Büscher
- 4.1. Die Inspirationen und die Rezeption des Reiseberichts Berlin – Moskau
- 4.2. Schreiben zwischen Journalismus und Literatur. Zum Arbeitsverfahren in Büschers Reiseberichten
- 4.3. Fußwanderung als Reiseform in der Tradition der Reiseliteratur
- 4.4. Die Raumerfahrung in Berlin – Moskau. Aspekte der Fußreise durch Osteuropa
- 5. Ost- und Mitteleuropa in der Essayistik von Karl-Markus Gauß
- 5.1. Ost-, Südost- und Mitteleuropa als thematischer Schwerpunkt im Werk von Karl-Markus Gauß
- 5.2. Der Europa-Diskurs zwischen Einheit und Vielfalt
- 5.3. Der kritische Europa-Diskurs bei Karl-Markus Gauß
- 5.4. Mit Fokus auf Ostmitteleuropa. Das Europäische Alphabet
- 6. Ein „herrlich nutzloses Archiv des randständigen Europa“. Die Reiseliteratur von Karl-Markus Gauß
- 6.1. Das Arbeits- und Erzählverfahren in den Reiseberichten
- 6.2. Die Roma in der Slowakei. Die Hundeesser von Svinia
- 6.3. Die deutschen Minderheiten in Ost- und Ostmitteleuropa. Die versprengten Deutschen
- 6.4. Die Reise durch den Europa-Kulturraum: Im Wald der Metropolen
- Schlussbemerkungen
- Literaturverzeichnis
- Primärliteratur:
- Sekundärliteratur:
Einführung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer immer noch untypischen Reiserichtung in der neuesten deutschsprachigen Reiseliteratur – der Reise nach Ost- und Ostmitteleuropa. Zur Untersuchung stehen Reisetexte von zwei Autoren: der vom deutschen Journalisten und Schriftsteller Wolfgang Büscher 2003 veröffentlichte Reisebericht Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß und die Reiseberichte des österreichischen Schriftstellers und Publizisten Karl-Markus Gauß von Die Hundeesser von Svinia (2004) über Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer (2005) bis Im Wald der Metropolen (2010).
In dieser Studie geht es primär um die Erfahrung und literarische Inszenierung der Reise nach Ost- und Ostmitteleuropa sowie um die ästhetische Gestaltung der untersuchten Reiseberichte. Dabei rückt als eine der zentralen Fragen die der literarischen Fremderfahrung in den Vordergrund. Die Reise konfrontiert den Reisenden mit dem Fremden, was in der Reiseliteratur in der Darstellung des Kulturkontakts und im Kulturvergleich ihren Niederschlag findet. In der neuen Definition der Reiseliteratur von Anne Fuchs wird dieser diskurstheoretische Aspekt besonders herausgestrichen: Diese Literaturgattung wird als „eine kulturrelativierende Diskursform“ verstanden und ist „ein bedeutender Reflektor kulturspezifischer Vorstellungen des Eigenen und des Fremden, die sich dann im Zuge der Fremdbegegnung verschieben können“.1
Die literarische Fremderfahrung gilt in der anvisierten Reiseliteratur einem immer noch wenig bekannten Teil Europas. Aufgrund historischer Entwicklungen und politischer Entscheidungen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Länder Ostmitteleuropas als Ostblockländer unter kommunistischer Vorherrschaft der Sowjetunion vom Westen abgeschirmt. Der Fall der Berliner Mauer ließ das künstliche Gebilde des ‚Ostblocks‘ im Herbst 1989 auseinanderfallen und die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa öffnen. Diese letzte geostrategische Zäsur in der wechselvollen Geschichte der politischen und kulturellen Neuverteilung und Zuordnung Ost- und Ostmitteleuropas (1918 - 1945 - 1989)2 ←7 | 8→öffnet auch dem freien Blick des Betrachters (des Reisenden) große Regionen Europas, die bislang gesperrt oder nur schwer zugänglich waren.
Die Konzepte Osteuropa und Mitteleuropa werden – mit Einschränkungen – neuerdings in der Geschichtswissenschaft durch die Bezeichnung Ostmitteleuropa zu einer Geschichtsregion3 zusammengefasst, um spezifische gemeinsame historisch-kulturelle Strukturmerkmale hervorzuheben. Generell wird Ostmitteleuropa im Hinblick auf die Transformation ehemaliger sozialistischer Volksrepubliken in parlamentarische Demokratien mit Markwirtschaft von seinen östlichen (Russland) und südlichen Nachbarstaaten unterschieden.4 Die im Titel der vorliegenden Arbeit eingeführte Aufteilung in Ost- und Ostmitteleuropa wird diesem Sachverhalt durch die Verwendung des neutralen Begriffs Ostmitteleuropa gerecht. Bei dieser Aufteilung folgt die Verfasserin ebenfalls den Autoren und ihren Reisebeschreibungen. Der von Wolfgang Büscher durchwanderte Raum wird vom Autor mehrmals als Osten und Osteuropa reflektiert. Karl-Markus Gauß befasst sich in seiner frühen Essayistik (die 1980er und 1990er Jahre) schwerpunktmäßig mit Mitteleuropa als einem modellhaften Kulturraum mit vielen kleinen Nationen, der durch Nationalismus, Krieg, Völkermord und Vertreibungen zerstört wurde. Seit 2000 begibt sich der Autor auf Reisen nach Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, um in seinen Reiseberichten die kulturelle Eigenart von kleinen Volks- und Sprachgruppen zu beschreiben und damit die gefährdete multiethnische Vielfalt Europas aufzubewahren. Die Verwendung und Unterscheidung der drei Termini Ost-, Mittel- und Ostmitteleuropa wird in einem theoretischen Kapitel ausführlicher behandelt, wobei der zum Teil imaginäre Charakter der Begriffe Ost- und Mitteleuropa hervorgehoben werden soll.
Die Schriftsteller, deren Reiseprosa in der vorliegenden Arbeit untersucht wird, gebrauchen Bezeichnungen wie Osteuropa, Mitteleuropa oder Ostmitteleuropa ohne begriffliche und historische Schärfe. Es ist aber nicht das Anliegen dieser Arbeit, die Zugehörigkeit der von den Autoren beschriebenen Länder zum jeweiligen imaginären historiographischen Konzept zu untersuchen, worüber sich nicht einmal die Historiker einigen können. Bei der Rekonstruktion der geographisch-historischen Landschaft soll folglich grundsätzlich der Spur der Reiseroute und Reisebeschreibung jenes Ost-, Mittel- und Ostmitteleuropas ←8 | 9→nachgegangen werden, die die Autoren in ihren Reisetexten selbst festlegen. In den Fokus der Betrachtung rücken somit ihre Reiseeindrücke und Konzeptualisierungen des Raums.
Anhand der Reiseprosa von Wolfgang Büscher und Karl-Markus Gauß soll gezeigt werden, wie die Reise nach Ost- und Ostmitteleuropa als eine Bewegung in einem zugleich konkreten und imaginären Raum dargestellt wird und welche Landkarten und mental maps dabei visualisiert werden. Es gilt ferner herauszufinden, welche Topoi und images bzw. mirages in der Wahrnehmung des Fremden / des Anderen auf der Reise in das ‚andere Europa‘ geschildert werden und sich als konstant erweisen. Es wird im Reiseschreiben jedes Mal eine narrative Landkarte gezeichnet und es werden kognitive Landkarten zeitgleich aktiviert, die eine jeweils autorenspezifische Dynamik aufweisen und unterschiedliche Erfahrungen und Reflexionen sowie deren Vertextung zur Folge haben.
Notwendigerweise treten in der Reiseprosa die Kategorien des Raums und der Bewegung im Raum in Erscheinung, denen eine besondere Beachtung geschenkt wird. Die Relevanz dieser Kategorien verdeutlicht die Definition des Reiseberichts von Otmar Ette: Er ist „jene Art des literarischen und wissenschaftlichen Schreibens, in dem sich das Schreiben seiner Raumbezogenheit, seiner Dynamik und seiner Bewegungsnotwendigkeit am deutlichsten bewusst ist.“5
Beide Autoren haben sich mit unterschiedlicher Motivation und unterschiedlichem biographischem und intellektuellem Hintergrund auf die Reise nach Ost und Ostmitteleuropa begeben. Der Weg nach Osten bleibt für die westeuropäischen Schriftsteller weiterhin eine untypische Bewegungsrichtung.6 Die Ost-West-Teilung bestimmt noch heute die europäische mental map. Sie konserviert die inneren und äußeren kulturellen Grenzziehungen innerhalb des Kontinents. Dabei ist mental map als „Produkt eines Diskurses über das Eigene und das Fremde“7 zu verstehen und nicht als reale geographische Darstellung eines ←9 | 10→Raums. Das Resultat des mapping ist eine imaginäre bzw. imaginative Geographie8 Europas, die in literarischen Texten ihre Widerspiegelung mittels narrativer Inszenierung findet. Die erhöhte Sensibilität gegenüber dem Fremden und die Selbstreflexion in Bezug auf eigenkulturelle Weltdeutungsmuster bei den untersuchten Reiseschriftstellern führen zu interessanten Erkenntnissen über die Raum- und Fremdheitskonstruktionen.
Die kognitiven Karten sind nach Karl Schlögel „die unauffälligsten Orientierungsmuster, die sich denken lassen“, die jedoch trotz ihrer imaginären und virtuellen Existenz ebenso wirksam wie empirisch feststellbare Tatsachen sind.
Landschaften im Kopf kann man nicht vermessen, jedenfalls nicht mit den Methoden der Astronomie oder Trigonometrie. Sie sind deshalb nicht weniger genau und nicht weniger wirklich. Sie bestehen aus einem anderen Material, aus Bildern, Erinnerungen, Gerüchen, aber sind deswegen nicht weniger eindrücklich.9
Schlögels ‚Landschaften im Kopf‘ lenken den Blick auf das kulturelle Imaginäre, an dem die Literatur einen wichtigen Anteil hat. Eine Analyse der literarischen Darstellungsverfahren des Raums kann dazu beitragen, den Konstruktionscharakter der fiktionalen, aber auch der materiellen Räume in der jeweiligen Kultur, eben ihre ‚kulturelle Gemachtheit‘, zu veranschaulichen. Birgit Neumann schlägt vor, literarische und nicht-literarische Raumkonstruktionen als „aufeinander beziehbare Äußerungen eines räumlichen Imaginären“ zu lesen:
Literarische Räume sind auf reale Räume bezogen und präformiert durch kulturell vorherrschende Raumkonzepte. Literatur entsteht im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Versionen und Konzepte von Raum kursieren, die im fiktional ausgezeichneten Raum durch eine Reihe von spezifisch ästhetischen Verfahren modellhaft zur Anschauung gebracht, reflektiert und eventuell transformiert werden.10
←10 | 11→Die besondere literarische Kraft der Gestaltung der symbolischen Räume besteht in der Möglichkeit, dem Leser die realen Räume neu zu erschließen, sie im Grunde neu als Teil einer imaginativen Geographie zu schaffen und zu verdichten. Die literaturwissenschaftliche Herangehensweise kann wiederum die Raumpraktiken und Raumkonstitution offenlegen und „kulturelle Ambivalenzen, Ängste und Widersprüche in den Blick bringen“.11
So ein kulturell gemachter Raum, dazu ein wenig explorierter, mit Stereotypen beladener und exotischer Raum bleibt aus der Sicht eines Westeuropäers Ost- und Ostmitteleuropa. Die nach dem Krieg jahrzehntelang abgeriegelten Länder hinter dem Eisernen Vorhang waren für einen Westeuropäer schwer zugänglich und als eine fast unnahbare Ferne aus dem Wahrnehmungshorizont verschwunden. Insbesondere der sog. ‚deutsche Osten‘ wurde aus der offiziellen Geschichtsschreibung verbannt und durch die fast undurchlässige Grenze aus der persönlichen Erkenntnisperspektive der Reisenden ausgeschlossen. Ulla Lachauer erinnert sich an die irreale Existenz von Osteuropa in ihrer Kindheit in der BRD:
Als Mensch, der Anfang der fünfziger Jahre im Münsterland geboren wurde, wuchs ich damit auf. Mit dem Wissen, dass man an bestimmte Orte nicht gehen durfte. Sie lagen im Osten, und es schien zur Natur dieser Himmelsrichtung zu gehören, dass hier der Horizont sich nicht weitete, sondern vertikal stand, wie eine Mauer. Der Kalte Krieg sollte daran schuld sein, aber der war nicht zu sehen. Wir Kinder spielten Stadt, Land, Fluss, und die Orte hinter der Mauer kamen in unseren Listen nicht vor oder wenn, als Chimären. Namen bloß, von irgendwo aufgeschnappt.12
Das wenig bekannte, einige Jahrzehnte lang unzugängliche und darüber hinaus wegen objektiver Schwierigkeiten, Sprache und Reisestrapazen nicht als touristisches Ziel fungierende Osten bleibt ein verschlossener, unbetretener Raum, dem das Unheimliche anhaftet. In dem nach Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß publizierten Reisebericht Wolfgang Büschers, Deutschland, eine Reise, imaginiert der durch Deutschland wandernde Ich-Erzähler den verlorenen deutschen Osten als Ostflügel eines Hauses, der die historische Schuld der Deutschen versinnbildlicht. Der jahrelang verwehrte Zugang zu diesem Raum bedeutet überraschenderweise eine Entlastung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft von der Kriegsschuld – der Osten fungiert aus dieser westdeutschen Sicht als „Schuldruine“, ein ferner, etwas abstrakter und angstbesetzter Begriff.
←11 | 12→Mit der Zeit, die weiter nichts tat, als dass sie verstrich und die Wunden schloss, rückte der Osten immer weiter weg, und ihm wuchs eine neue Rolle zu. Er diente dem Westen als Schuldruine: Seht, liebe Kinder, das dunkle Haus hinter dem großen Zaun, das ist das Haus des Krieges. Aber fürchtet euch nicht, es ist für immer verschlossen. Nehmt das Fernglas. Seht den deutschen Ostflügel, wie er langsam verfällt, seht die düsteren Türme der Schuld. Und erschauert, die ihr im Haus des Friedens lebt, im hellen, frisch renovierten Westflügel.13
Karl-Markus Gauß erinnert sich dagegen in einem Vorwort zum Bildband von Kurt Kaindl unter einem signifikanten Titel Reisen im Niemandsland, wie er als 11-jähriger Gymnasiast die Umrisse des europäischen Kontinents zeichnete, Grenzverläufe und Inseln auftrug und von natürlichen Grenzen wie Meere, Flüsse oder Gebirgszüge lernte. Als Erwachsener konnte er die „Natürlichkeit“ solcher Grenzen anzweifeln, jedoch was Gauß nachträglich als die größte Absonderlichkeit erscheint, ist das Fehlen einer Hälfte des Kontinents. Die von den Schülern tüchtig erstellte Landkarte Europas enthielt nämlich eine vertikale Grenze, die den ihnen bekannten Teil von einer terra incognita abtrennte:
Vom hohen Norden bis in den tiefen Süden schnitt hier nämlich eine schnurgerade Linie durch den Kontinent, und jenseits der einen, tief ins Land und ins Heft gekerbten Grenze war – das Nichts. Keine Länder, die Namen hatten, keine Städte, an denen man sich hätte orientieren können … Ein einziges, unendlich großes Land war der Osten Europas, und dieses Land ging irgendwo in ein noch viel größeres, in einen anderen Erdteil über, der Asien hieß. Die Länder, die zwischen Asien und dieser einen gewaltigen Grenze lagen, gehörten, eben weil sie keine Namen hatten, eigentlich selbst schon zu Asien; erst fünfzehn Jahre später las ich die Erzählungen des galizischen Erzählers Karl-Emil Franzos, denen er schon im 19. Jahrhundert den Serien-Titel „Halb-Asien“ gegeben hatte.14
Nach 1989 konnte der weiße Fleck auf der kognitiven Karte von mittlerweile zwei Generationen endlich erschlossen werden. Es verwundert nicht, dass der ost- und ostmitteleuropäische Raum häufig durch das Prisma der jahrelang tabuisierten Geschichte wahrgenommen wird, bleibt er doch als Schauplatz des Vernichtungskrieges ein „traumatisiertes Gelände“.15 Diese Inbeziehungsetzung ←12 | 13→von Raum und Geschichte im Medium der Reiseliteratur verdient eine besondere Beachtung, gelten doch diese Länder aufgrund ihrer ‚Gewaltgeschichte‘16 als kein selbstverständliches touristisches Reiseziel.
Die Ost-West-Asymmetrie im Erkenntnisinteresse der West- und Osteuropäer und die beiderseits prägenden Bewertungsmaßstäbe sind das Ergebnis einer jahrhundertelangen Aufteilung in das Zentrum (Westeuropa) und die Peripherie (Ost-, Mittel- und Südosteuropa). Das neue Interesse am osteuropäischen und ostmitteleuropäischen Raum, das um die Jahrtausendwende in und durch die Literatur offensichtlich wurde, scheint ein ephemerer Trend zu sein. Die damals aufgekommene „intellektuelle Ostbegeisterung“17 hing mit geopolitischen und geopoetischen Wenden zusammen. Die allmähliche Öffnung der Grenzen nach 1989/90 ermöglichte Entdeckungsreisen nach Ostmitteleuropa und eine neue Vermessung Europas, die Karl Schlögel enthusiastisch auch als den Beginn einer neuen Geschichtsschreibung feierte:
Wir stehen erst am Beginn einer Geschichtsschreibung, die den Rahmen der nationalstaatlichen Historiographie hinter sich läßt und Europa als Ganzes denkt. Europa wird neu vermessen – retrospektiv und in der Gegenwart.18
Es ist nicht das Anliegen der vorliegenden Studie, Bilder oder Images von unterschiedlichen Völkern und Nationen des intendierten Ost- und Ostmitteleuropa-Raums zu untersuchen. Die Distanz gegenüber den Bildern von anderen Ländern und Nationen ist einerseits der kritischen Auseinandersetzung mit den Fremd- und Eigenbildern als genuinem Forschungsgegenstand komparatistischer Imagologie geschuldet, die Ruth Florack in Bekannte Fremde. Herkunft und Funktion nationaler Stereotype vorgenommen hat.19 Andererseits will die Studie primär auf die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen sowie die Literarizität der inspizierten Reisetexte fokussieren, welche bei der imagologischen Blickrichtung vernachlässigt werden oder zu kurz kommen können. Natürlich ←13 | 14→werden die Generalisierungen oder Essentialisierungen der vermeintlichen Nationalcharaktere, wie sie eventuell in den Texten der Reiseschriftsteller zum Vorschein kommen, angeschnitten. Es bleibt in solchen Fällen zu klären, welche Rolle und Funktion sie im Textgefüge erfüllen, ohne jedoch ihren Wahrheits- oder Imaginationscharakter durch Vergleich mit außerliterarischen Quellen zu überprüfen.
Die Begegnung mit einem anderen Land, wie sie in der Reiseliteratur explizite zum Vorschein kommt, soll hier folglich weniger unter dem imagologischen Aspekt des Polenbildes, Russlandbildes etc. untersucht werden, als vielmehr in einer breiteren Perspektive, die das binäre System West-/Osteuropa entweder perpetuiert oder in Frage stellt. Dabei sei stets an den imaginativen, subjektiven Charakter der untersuchten Konzeptualisierungen des ost- und ostmitteleuropäischen Raums erinnert, wie er den literarischen Beschreibungen immanent ist.
Die Frage nach den Grenzen und Konturen Europas insgesamt und Ost-, Mittel- und Ostmitteleuropas insbesondere ist nicht allein eine Frage der Geographie. Neben der konkreten räumlichen Dimension ist doch Europa eine Idee und ein Entwurf, der seit der Neuzeit von den Schriftstellern immer wieder diskutiert wurde. Anne Kraume betont entgegen des proklamierten spatial turn die vielschichtige geistige Dimension Europas in der Literatur:
Europa ist in der europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts tatsächlich ein Ort, aber es ist auch eine Ansammlung von Werten, und es ist darüber hinaus eine geistige und eine politische Vision, ein sozialer Raum und eine kulturelle Identität, eine Nostalgie und eine Utopie.20
Die Neu-Definierung der europäischen Identität sowie das Remapping der kulturellen Geographie Europas unter Einbeziehung der ostmittel- und südosteuropäischen Länder erscheint als der wesentliche Schwerpunkt der publizistischen Schriften und der Reiseprosa von Karl-Markus Gauß. Dementsprechend soll in diesem Zusammenhang die Stellung des österreichischen Autors im Europa-Diskurs der Intellektuellen beleuchtet werden. Die Reiseprosa von Büscher ←14 | 15→und Gauß soll ebenfalls in den Reise-Diskurs eingebettet werden und Ausblick auf die Entwicklung der Gattung, ihre jeweiligen ästhetischen Darstellungsmittel sowie Möglichkeiten der Selbst- und Fremderfahrung verschaffen. Was die Ost- und Ostmitteleuropa-Problematik in der Reiseliteratur angeht, erhebt die vorliegende Studie keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit: Es werden zwei ausgewählte, dennoch in unterschiedlicher Hinsicht für das Genre repräsentative Autoren behandelt und nicht ein Gesamtbild der einschlägigen Reiseliteratur im Zeitraum nach 1989. Dennoch hofft die Verfasserin, einige erhellende Streiflichter auf die diskursive Gestaltung der fremden innereuropäischen Räume in den untersuchten Reisetexten geworfen zu haben. Europa als Ganzes zu denken und die europäische mental map neuzugestalten, ist ein Großprojekt, das nicht zuletzt durch den schöpferischen Charakter der Literatur bei der Hervorbringung von Räumen möglich wird. Die Schriftsteller können dank ihrer literarischen Einbildungskraft einen besonderen Beitrag bei der Vermessung und der Konstruktion Europas leisten, das ständig neu kartiert und formuliert wird. Es ist ein work in progress, dessen Ende nicht abzusehen ist:
Seit es Europa gibt, ist es die Literatur, die selbstreflexivste aller Künste, die am Prozess europäischer Kultivierung und Selbstreflexion beteiligt war. In den Mythen, Bildern und Geschichten, in denen sich Europa erzählte und zu begreifen versuchte, hat es sich stets auch der Besonderheit seiner Kultur vergewissert, seiner besonderen Weise, die Welt anzuschauen und zu deuten. Zurzeit aber scheint das Bild, das sich der Kontinent von sich selber macht, so unscharf wie nie. Das Europa, in dem sich die Europäer von heute wiedererkennen könnten, hat seine Konturen noch nicht gefunden.21
←15 | 16→1 Fuchs, Anne: Reiseliteratur. In: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 593–600, hier S. 594.
Details
- Seiten
- 272
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631784594
- ISBN (ePUB)
- 9783631784600
- ISBN (MOBI)
- 9783631784617
- ISBN (Hardcover)
- 9783631783528
- DOI
- 10.3726/b15395
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (März)
- Schlagworte
- Reisemotiv Raum kognitive Karten Reisebericht Europa-Diskurs Fußwanderung
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 270 S.