«Els catalans a l’Àfrica» – Die Rolle des Spanisch-Marokkanischen Kriegs von 1859/60 im katalanischen Identitätsdiskurs des 19. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhalt
- Einleitung
- 1. Problemstellung und Zielsetzung
- 2. Das Korpus
- 3. Stand der Forschung
- Teil I: Theoretische Grundlagen
- 1. Das Nationsverständnis im 19. Jahrhundert
- 2. Nationale Identität als Konstrukt
- 3. Voraussetzungen für die Konstruktion nationaler Identität
- 4. Nationale Identität und Nationsbildung
- 5. Merkmale nationaler Identität nach Leszek Kołakowski
- 6. Diskursive Strategien zur Konstruktion nationaler Identität nach Stuart Hall
- 7. Zusammenführung der Theorien Kołakowskis und Halls nach Ruth Wodak
- 8. Raster zur Analyse der diskursiven Konstruktion nationaler Identität
- Teil II: Der katalanische Identitätsdiskurs von der Aufklärung bis zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 1. Die Entwicklung der katalanischen Identität vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1859
- 1.1 Rückbesinnung auf das katalanische Mittelalter und den katalanischen „Nationalcharakter“ bei Capmany
- 1.2 Die Verteidigung des Katalanischen im Aufklärungszeitalter
- 1.3 Die Guerra Gran (Guerra de la Convención) (1793–1795)
- 1.4 Die Guerra del Francès (Guerra de la Independencia española) (1808–1814)
- 1.5 Die Verfassung von Cádiz (1812)
- 1.6 Beginn der katalanischen Renaixença mit der „Oda a la Pàtria“ von Bonaventura Carles Aribau im Jahr 1833
- 1.7 Die Idee eines iberischen Staatenbundes bei Antoni Puigblanch
- 1.8 Erste Ansätze zur Schaffung einer Nationalliteratur in katalanischer Sprache: Lo gayter del Llobregat von Joaquim Rubió i Ors
- 1.9 Die katalanische Kritik an der spanischen Wirtschaftspolitik in den 1840er Jahren
- 1.10 Manuel Milà i Fontanals’ Romancerillo Catalán
- 1.11 Die gezielte Substitution kastilischer Mythen und Symbole durch katalanische in der katalanischsprachigen Literatur: Víctor Balaguer und Eusebi Pascual
- 1.12 Verstärkte Besinnung auf die eigene Nationalität in den 1850er Jahren und Kritik an der vom Zentralstaat angestrebten uniformidad Spaniens
- 2. Die Bedeutung des Jahres 1859 für den katalanischen Identitätsbildungsprozess
- 2.1 Die Jocs Florals
- 2.2 Der Erste Spanisch-Marokkanische Krieg
- 2.2.1 Ursachen des Kriegs
- 2.2.2 Stellungnahmen der katalanischen Presse zur Marokko-Frage und Reaktionen auf die Kriegserklärung
- 2.2.3 Kriegsverlauf
- 2.2.4 Friedensschluss
- 2.2.5 Das Bataillon katalanischer Freiwilliger
- Teil III: Die Kriegsliteratur
- 1. Vorüberlegungen zu den literarischen Ausdrucksmöglichkeiten
- 1.1 Gattungsspezifische Darstellungsmöglichkeiten und Perspektivstrukturen
- 1.2 Die staatliche Zensur
- 2. Die Konstruktion einer katalanischen nationalen Identität in der Literatur katalanischer Autoren zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 2.1 Bezugnahme auf die gemeinsame Vergangenheit
- 2.1.1 Gründungsmythen
- 2.1.1.1 Der Gründungsmythos um Otger Cataló
- 2.1.1.2 Die Eroberung und Vereinigung der katalanischen Länder unter Jakob I. von Aragon
- 2.1.1.3 Der Gründungsmythos um Wilfried den Haarigen (Guifré el Pilós) von Barcelona
- 2.1.2 Imperiale Mythen
- 2.1.2.1 Der Afrika-Feldzug Peters II. von Aragon
- 2.1.2.2 Die Guerra de Sicília
- 2.1.2.3 Der Feldzug der Almogavaren in den Orient
- 2.1.3 Mythos um einen weiteren Kampf gegen islamische Völker: Lluís de Requesens i Zúñiga
- 2.1.4 Mythos um einen friedlichen katalanisch-maurischen Kulturkontakt: Die Reise des Domènech Badia i Leblich (Alí Bei)
- 2.1.5 Mythen um die Verteidigung der Rechte und Freiheiten Kataloniens: Joan Fiveller und Pau Clarís
- 2.1.6 Mythen um die Verteidigung Kataloniens gegen Eroberer
- 2.1.6.1 Die Schlacht von Panissars
- 2.1.6.2 Die Guerra del Francès (1808–1814)
- 2.1.7 Folgerungen
- 2.2 Narration der Gegenwart
- 2.2.1 General Joan Prim i Prats
- 2.2.1.1 Politischer Kontext
- 2.2.1.1.1 Prims Kampf um die Berechtigung zur Teilnahme am Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 2.2.1.1.2 Die politische Idee hinter der Rekrutierung der katalanischen Freiwilligen
- 2.2.1.2 Vorbildliche Eigenschaften General Prims
- 2.2.1.2.1 Außergewöhnlicher Mut und hohe Effizienz im Nahkampf
- 2.2.1.2.2 Menschlichkeit und Gnade
- 2.2.1.2.3 Taktisches Geschick
- 2.2.1.2.4 Eloquenz und Charisma
- 2.2.1.3 Die Handlungen und Leistungen Prims im Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 2.2.1.3.1 Die Schlacht von Los Castillejos
- 2.2.1.3.2 Prims Rede bei der Ankunft der katalanischen Freiwilligen in Afrika
- 2.2.1.3.3 Die Schlacht von Tetuan
- 2.2.1.3.4 Prims Eindruck auf die Marokkaner während der ersten Friedensverhandlungen
- 2.2.1.3.5 Die Schlacht von Wad-Ras
- 2.2.1.3.6 Anerkennung von Prims Leistungen durch O’Donnell
- 2.2.2 Der Kommandant der katalanischen Freiwilligen Victorià Sugranyes, Leutnant Marià Moxó und der spätere Kommandant Francesc Fort
- 2.2.2.1 Victorià Sugranyes und Marià Moxó
- 2.2.2.2 Francesc Fort
- 2.2.3 Die katalanischen Freiwilligen
- 2.2.3.1 Vorbildliche Eigenschaften
- 2.2.3.1.1 Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit
- 2.2.3.1.2 Hohe Effizienz im Nahkampf und außergewöhnlicher Mut
- 2.2.3.1.3 Ritterlichkeit
- 2.2.3.1.4 Freiheitsliebe und Liberalismus
- 2.2.3.2 Die Abreise aus Barcelona
- 2.2.3.3 Die Ankunft in Afrika
- 2.2.3.4 Die Leistungen der katalanischen Freiwilligen im Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 2.2.3.4.1 Die Schlacht von Tetuan
- 2.2.3.4.2 Die Schlacht von Wad-Ras
- 2.2.3.5 Die Heimkehr
- 2.2.4 Der Stolz der Katalanen auf ihre neuen (National-)Helden
- 2.2.5 Gedenken der Gefallenen
- 2.2.6 Kriegsverherrlichung und Verherrlichung des Heldentods
- 2.2.7 Die katalanische Frau
- 2.2.7.1 Stärke und Mut
- 2.2.7.2 Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit
- 2.2.7.3 Ehrenhaftigkeit und Schönheit
- 2.3 Perspektiven für die Zukunft
- 2.4 Bezugnahme auf katalanische nationale Symbole
- 2.4.1 Das katalanische Wappen
- 2.4.2 Die Fahne des Bataillons der katalanischen Freiwilligen, die katalanische senyera und das castell
- 2.4.3 Die Uniform der katalanischen Freiwilligen
- 2.4.4 Die rote katalanische Mütze
- 2.5 Bezugnahme auf gemeinsame kulturelle und ethnische Merkmale
- 2.5.1 Die katalanische Sprache und Literaturtradition
- 2.5.2 Das katalanische Volkstheater
- 2.5.2.1 La butifarra de la llibertat und Las píldoras d’Holloway o la pau d’Espanya
- 2.5.2.2 Las francesillas
- 2.5.3 Essen und Trinken
- 2.5.4 Musik und Tanz
- 2.5.4.1 Die sardana
- 2.5.4.2 Els segadors
- 2.5.4.3 El Himno de Riego
- 2.5.4.4 Lieder und Hymnen des Afrika-Kriegs
- 2.5.5 Bezugnahme auf die gemeinsame Religion
- 2.5.5.1 Die Konstruktion von christlicher Identität und islamischer Alterität
- 2.5.5.2 Die Konstruktion einer spezifisch katalanischen religiösen Identität
- 2.5.5.2.1 Die heilige Jungfrau von Montserrat
- 2.5.5.2.2 Sant Jordi
- 2.5.5.2.3 Santa Eulalia
- 2.5.6 Bezugnahme auf die eigene Rasse und Abgrenzung von anderen Rassen
- 2.6 Die Konstruktion einer territorialen Identität
- 2.6.1 Bezüge zur katalanischen Landschaft und Natur
- 2.6.1.1 Berge und Meer
- 2.6.1.2 Der fruchtbare Boden Kataloniens und die katalanischen Flüsse
- 2.6.1.3 Die Provinzhauptstadt Barcelona
- 2.6.2 Die Personifikation Kataloniens als Frau (Mutterland)
- 2.6.3 Die marokkanische Landschaft und Natur
- 2.6.3.1 Hitze und Trockenheit
- 2.6.3.2 Unwetter
- 2.6.3.3 Unterwerfung der „feindlichen“ Landschaft
- 2.7 Die emotionale Bindung der Katalanen an Katalonien und ihr Verhältnis zum spanischen Staat
- 2.8 Besonderheiten der auf Kastilisch verfassten Texte katalanischer Autoren
- 2.8.1 Bezugnahme auf die Vergangenheit Spaniens
- 2.8.2 Verwendung gesamtspanischer bzw. kastilischer Symbole: Der Löwe und die Türme
- 2.8.3 Fokussierung der außenpolitischen Ziele des Kriegs
- 3. Das Fremdbild
- 3.1 Das Fremdbild primärer Bedeutung
- 3.1.1 Die nicht-katalanischen Spanier
- 3.1.2 Die Marokkaner
- 3.2 Das Fremdbild sekundärer Bedeutung
- 3.2.1 General Prim
- 3.2.2 Prim in der Schlacht von Los Castillejos
- 3.2.3 Die Wirkung der katalanischen Freiwilligen bei ihrer Ankunft
- 3.2.4 Die Wirkung der Uniformierung der katalanischen Freiwilligen und der roten Mütze
- 3.2.5 Der Effekt von Prims Ansprache an die katalanischen Freiwilligen
- 3.2.6 Die Wahrnehmung der katalanischen Sprache
- 3.2.7 Prim und die katalanischen Freiwilligen in der Schlacht von Tetuan
- 3.2.8 Die Aufstellung der Fahne des Bataillons der katalanischen Freiwilligen und der spanischen Fahne auf der Alcazaba von Tetuan
- 3.2.9 Prim und die katalanischen Freiwilligen in der Schlacht von Wad-Ras
- 3.2.10 Die Sympathie der Marokkaner für Prim
- 3.2.11 Die Wirkung Prims und der katalanischen Freiwilligen bei deren Empfängen in Städten außerhalb Kataloniens
- Teil IV: Der katalanische Kolonialismusdiskurs und der katalanische Identitätsdiskurs von 1860 bis 1939
- 1. Einstellungen der katalanischen Presse zum Friedensvertrag
- 2. Victorià d’Ametllers kritische Betrachtung des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs
- 3. Der Spionageauftrag Joaquín Gatells in Marokko
- 4. Entwicklung des ersten politischen Katalanismus aus dem direkten Umfeld eines Autors der katalanischen Afrika-Kriegsliteratur
- 5. Erinnerung an die katalanischen Freiwilligen des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs bei den Jocs Florals von 1865
- 6. Die Erinnerungspolitik der Katalanen in Bezug auf den Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 7. Die Schlachtfelder des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs als Erinnerungsorte der Katalanen
- 8. Die Einstellung der Katalanen zum Kolonialismus in Afrika nach dem Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg
- 8.1 Die Guerra de Melilla von 1893
- 8.2 Die Krise von 1898
- 8.3 Der Imperialismus von Enric Prat de la Riba
- 8.4 „Afrika beginnt am Ebro“
- 8.5 Die Setmana Tràgica in Barcelona im Jahr 1909
- 8.6 Die Interessen Kataloniens am spanischen Protektorat in Marokko (1912–1956)
- 9. Verhandlungen zwischen Katalanen und Marokkanern über Möglichkeiten zur Verhinderung der Rekrutierung marokkanischer Soldaten für die franquistischen Truppen während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939)
- Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
- Literaturverzeichnis
- Abbildungsverzeichnis
- Reihenübersicht
1. Problemstellung und Zielsetzung
Der Identitätsdiskurs in Katalonien ist heutzutage besonders aktuell. Vor allem in den letzten Jahren kam es vermehrt zu Manifestationen eines ausgeprägten katalanischen Identitäts- bzw. Nationalbewusstseins. So zog die im Autonomiestatut von 2006 enthaltene Bezeichnung Kataloniens als Nation einen monatelangen Rechtsstreit nach sich, da das spanische Verfassungsgericht diese Benennung für verfassungswidrig erklärte. In den folgenden Jahren ereigneten sich mehrere Massendemonstrationen, in denen die Katalanen umfassendere Autonomierechte sowie teilweise die politische Unabhängigkeit Kataloniens forderten. Die Identitätsdebatte kulminierte am 23. Januar 2013 in einer vom katalanischen Parlament verabschiedeten Souveränitätserklärung, mit der Katalonien das Recht auf Selbstbestimmung für sich beanspruchte. Für 2014 wurde ein Referendum angesetzt, in dem die Katalanen über eine mögliche Abspaltung vom spanischen Staat abstimmen sollten. Das Referendum wurde allerdings vom spanischen Verfassungsgericht verboten. Die katalanische Regierung umging aber das gerichtliche Verbot, indem die Befragung zu einem inoffiziellen Akt heruntergestuft und mit der Organisation eine separatistische Bürgerinitiative beauftragt wurde. Am 9. November 2014 wurde eine symbolische Abstimmung durchgeführt, bei der die Mehrheit der Befragten (81%) für eine Abspaltung von Spanien stimmte.1 Dieses Ergebnis verstand der damalige katalanische Ministerpräsident Artur Mas als Auftrag, mit Spaniens Regierungschef Rajoy schließlich ein endgültiges Referendum auszuhandeln. Seine Bemühungen führten allerdings nicht zum Erfolg. Am 15. Januar 2015 verkündete Mas, vorgezogene Neuwahlen des Regionalparlaments mit plebiszitärem Charakter durchführen zu wollen,2 bei denen über die Unabhängigkeitsfrage ← 17 | 18 → entschieden werden solle. Alle die Unabhängigkeit befürwortenden Kräfte sollten sich dann zu einer gemeinsamen Wahlliste zusammenschließen und das gemeinsame Ziel verfolgen, nach der Wahl innerhalb von 18 Monaten die Unabhängigkeit Kataloniens herbeizuführen.3 Die Wahlen wurden am 27. September 2015 durchgeführt. Es war eine Rekordwahlbeteiligung von 77% zu verzeichnen und die nach Unabhängigkeit strebenden Parteien erhielten die absolute Mehrheit im katalanischen Parlament (72 [62 Junts pel Sí, 10 CUP] von 135 Sitzen = 53,33%). Das Wahlprogramm der Junts pel Sí sieht vor, mittels einer Resolution den Beginn des Unabhängigkeitsprozesses zu proklamieren, eine neue katalanische Verfassung zu erarbeiten und eine Unabhängigkeitserklärung sowie ein Übergangsgesetz, in dem u.a. festgehalten werden soll, welche Bestimmungen des spanischen Rechts noch Gültigkeit haben, durch das Parlament beschließen zu lassen. Schließlich sollen Neuwahlen erfolgen und ein Referendum über die neue Verfassung abgehalten werden. Diese Ziele sollen bis Frühjahr 2017 umgesetzt werden.
Wenn man sich von der unmittelbaren Gegenwart abwendet und die Ursprünge des katalanischen Identitätsdiskurses untersuchen möchte, ist es notwendig, sich mit der katalanischen Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen, die einen entscheidenden Beitrag zur Determinierung sowie zur Verbreitung nationaler Mythen und Symbole leisteten, die sich maßgeblich auf die Herausbildung einer eigenständigen katalanischen (nationalen) Identität auswirkten (vgl. Sunyer 2006: 15). In jener Zeit war man in Katalonien darum bemüht, die Merkmale katalanischer (nationaler) Identität wie Lebensformen, Bräuche, Sprache etc. zu identifizieren, um so die Grundlage für die Konstruktion einer Nation zu legen, mit der man an das unabhängige Katalonien des Mittelalters anknüpfen konnte. Dabei spielten die Schriftsteller jener Zeit eine bedeutende Rolle, indem sie die Sprache und das Wissen des Volks nutzten, um Themen und Gefühle auszudrücken, die die Katalanen als ihre eigenen empfinden konnten (vgl. Fontbona 1994: 27). ← 18 | 19 →
Gegen Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts kam es zu einer bemerkenswerten Zunahme der literarischen Produktion in katalanischer Sprache. Vor allem das Jahr 1859 spielt für den Identitätsbildungsprozess in Katalonien eine Schlüsselrolle. Einerseits wurden in diesem Jahr in Barcelona die Jocs Florals (Blumenspiele), ein Dichterwettbewerb in katalanischer Sprache, der seit dem Mittelalter nicht mehr veranstaltet worden war, wieder eingeführt. Zum anderen brach 1859 der Erste Spanisch-Marokkanische Krieg aus, der in Spanien und nicht zuletzt in Katalonien eine enorme Begeisterung auslöste und eine immense Produktion patriotischer Literatur nach sich zog, in der die militärischen Leistungen des katalanischen Generals Joan Prim (1814–1870) und des Bataillons katalanischer Freiwilliger, das in diesem Krieg kämpfte, verewigt wurden. Diese wurden während des Kriegs nicht nur in Katalonien, sondern in ganz Spanien zu Helden. Marie Salgues stellt in diesem Zusammenhang fest: „Estos soldados [los Voluntarios Catalanes] solo intervienen durante las últimas seis semanas del conflicto, pero logran un protagonismo que deja huella.“ (Salgues 2013: 152) Die besondere Bedeutung, die dem Krieg in Katalonien beigemessen wurde, kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass bei den Jocs Florals in Barcelona im Jahre 1860 zusätzliche Preise für die besten Gedichte über die katalanischen Soldaten im Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg vergeben wurden.4 Der Krieg zählt neben dem spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808–1814) und dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 zu den historischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts, die sich neben der Revitalisierung der katalanischen Sprache und der industriellen Revolution in Katalonien am stärksten auf die Herausbildung einer eigenständigen katalanischen Identität auswirkten. Er stellte bis Ende der 1870er Jahre in der katalanischen Literatur einen wichtigen Bezugspunkt dar und in der katalanischen Kunst sogar bis in die 1960er Jahre. Dass der Krieg für Katalonien auch heute noch Relevanz besitzt, zeigt sich daran, dass noch im Jahr 2013 im Museu Nacional d’Art de Catalunya in Barcelona eine Ausstellung der Gemälde und Zeichnungen des katalanischen Künstlers Marià Fortuny (1838–1874) zum ersten Afrika-Krieg mit dem Titel „La batalla de Tetuan de Fortuny. ← 19 | 20 → De la trinxera al museu“5 stattfand. Im Rahmen dieser Ausstellung wurde auf die Bedeutung der Batalla de Tetuán mit folgenden Worten hingewiesen: „La batalla de Tetuán ocupa un lugar importante en la memoria y el imaginario colectivo de muchas generaciones de catalanes.“ (MNAC 2013: 7) Es stellt sich die Frage, warum dem Krieg in Katalonien eine solche Bedeutung beigemessen wird. Bisher wurden die Auswirkungen des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs auf die Identitäten bedeutender spanischer Provinzen wie Katalonien, das Baskenland oder Galicien in der literaturwissenschaftlichen Forschung kaum analysiert, obwohl durch eine solche Untersuchung nicht nur wichtige Erkenntnisse bezüglich der Identitäten der jeweiligen Provinzen gewonnen werden können, sondern auch der gesamtspanische Nationalismus aus einer neuen Perspektive betrachtet werden kann. Nicht zuletzt lässt sich Aufschluss darüber gewinnen, warum die Nationsbildungskapazität Spaniens (bis heute) so gering ist, wie Bernecker feststellt (vgl. Bernecker 2006: 69).6 Die Katalanen setzen sich mit Themen auseinander, über die im spanischen Nationalismusdiskurs Stillschweigen herrscht, die aber zu dessen Verständnis beitragen können und die aus ihm selbst heraus nicht verständlich sind (vgl. Ucelay da Cal 2005: 13).
Mit dem Afrika-Krieg hoffte die spanische Regierung der Unión Liberal (1858–1868) einerseits, Spaniens Stellung als Kolonialmacht zu wahren, und andererseits, von innenpolitischen Problemen abzulenken und somit die Regierung zu stärken und die nationale Einheit wieder herzustellen (vgl. Cervelló 2013: 15). Die spanischen Regierungspolitiker um Leopoldo O’Donnell (1809–1867) beabsichtigten, im Rahmen des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs die nationale Identität Spaniens zu festigen, wobei sie diese mit der kastilischen Identität gleichsetzten. Jover spricht in diesem Zusammenhang von einem „nacionalismo tutelar“, der durch literarische Werke wie Pedro Antonio de Alarcóns Diario de un testigo de la Guerra de África (1860) oder den Romancero de la Guerra de África (1861) des Marqués de Molíns propagiert wurde (vgl. Jover in Garcia Balañà 2002: 15). Dieser Anspruch Kastiliens auf eine dominierende kastilische Identität stand in Opposition zu den anderen spanischen Identitäten.
Ziel der Arbeit ist es, anhand von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten katalanischer Autoren auf Katalanisch und Kastilisch die oben aufgeworfene Frage nach der Bedeutung des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs für den ← 20 | 21 → katalanischen Identitätsbildungsprozess zu beantworten und zu zeigen, dass die katalanischen Autoren v.a. die auf Katalanisch verfassten Texte über den Ersten Afrika-Krieg dazu nutzten, um katalanische nationale Mythen und Symbole in der katalanischen Bevölkerung zu verbreiten und so eine katalanische nationale Identität zu konstruieren.7 Dabei wird die Annahme zugrunde gelegt, dass sich (nationale) Identität immer durch Abgrenzungsprozesse herausbildet, wobei vor allem die Abgrenzungsprozesse gegenüber der kastilischen Identität von Interesse sind. In diesem Zusammenhang ging es den katalanischen Autoren auch darum, die Erinnerung an die unabhängige katalanische Nation des Mittelalters, die im kollektiven Gedächtnis der Katalanen nicht mehr präsent war, wieder zum Leben zu erwecken. Es soll verdeutlicht werden, wie zu diesem Zweck in Texten katalanischer Autoren in katalanischer Sprache gezielt kastilische nationale Mythen und Symbole durch katalanische ersetzt werden. Dies unterscheidet sie von auf Kastilisch verfassten Texten katalanischer Autoren, in denen neben katalanischen nationalen Mythen und Symbolen auch kastilische vorkommen. Die Konstruktion nationaler Identität wird u.a. ausgehend von den Theorien von Hobsbawm (1991), Gellner (1997) und Hroch (2005) untersucht.
In der vorliegenden Arbeit wird danach gefragt, auf welche Symbole die Autoren und Künstler zurückgreifen, um nationale Identität zu konstruieren. Es wird zudem anhand literarischer Ortsbeschreibungen analysiert, wie territoriale Identität konstruiert wird. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob nur Katalonien oder ganz Spanien als Heimat betrachtet wird. Bei der Analyse nationaler Identität ist überdies die Frage von Interesse, inwiefern sich in den zu analysierenden Texten ein katalanisches „historisches Gedächtnis“ manifestiert. Folglich wird untersucht, welche gemeinsamen geschichtlichen Erinnerungen und Symbole, historischen Personen und Begebenheiten die nationale Identität Kataloniens prägen. Der Analyse wird Aleida Assmanns (2006) und Jan Assmanns (2007) Konzept des kulturellen Gedächtnisses zugrunde gelegt. Die Studie wird zudem der Frage nachgehen, ob die katalanischen Autoren auf historische Personen und Ereignisse einer Epoche, in der Katalonien noch nicht zum spanischen Königreich gehörte, Bezug nehmen, um dadurch gezielt eine eigenständige nationale Identität Kataloniens zu konstruieren, oder ob eine Identifikation mit der spanischen (National-)Geschichte feststellbar ist. Des Weiteren soll untersucht ← 21 | 22 → werden, ob es in Katalonien eine spezielle Perspektive auf die Kolonisierung Afrikas gab, die sich von der des restlichen Spanien unterscheidet.
Die oben erwähnte Tatsache, dass die auf Katalanisch verfassten Texte katalanischer Autoren dazu genutzt wurden, um katalanische nationale Mythen und Symbole zu verbreiten und somit eine katalanische nationale Identität zu konstruieren, bedeutet nicht notwendigerweise, dass sich dieser katalanische Patriotismus gegen den spanischen Patriotismus richtete oder diesen ausschloss. In der vorliegenden Arbeit soll vielmehr gezeigt werden, dass die katalanischen Autoren durchaus mit dem spanischen Staat solidarisch waren, allerdings einen spanischen Nationalismus, der die spanische Identität mit der kastilischen verwechselte,8 ablehnten und daher einen alternativen spanischen Nationalismus vorschlugen, der die verschiedenen Nationalitäten Spaniens anerkennt und integriert.9
Das der Arbeit zugrunde liegende Korpus umfasst insgesamt 120 Texte. Davon stammen 83 von katalanischen Autoren, 28 von nicht-katalanischen spanischen Autoren und 9 von Autoren aus dem europäischen Ausland. Die Texte nicht-katalanischer spanischer und ausländischer Autoren werden herangezogen, um neben dem in den Texten katalanischer Autoren konstruierten Selbstbild auch das Fremdbild untersuchen zu können. Besonders die Texte der Kriegsberichterstatter aus dem europäischen Ausland lassen eine neutralere Sichtweise erwarten. Es handelt sich um vier auf Deutsch, vier auf Französisch und einen auf Englisch verfassten Text. Bei den Texten der katalanischen Autoren werden auch solche, die auf Kastilisch verfasst wurden, mit einbezogen, da diese, wenn nicht ← 22 | 23 → zur katalanischen Literatur, so doch zur katalanischen Kultur gehören und auch in ihnen die Konstruktion katalanischer Identität untersucht werden kann. Einer der Texte ist zweisprachig.
Um ein möglichst umfassendes Bild der katalanischen Literaturproduktion zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg zu erhalten, werden Texte verschiedener Gattungen und Genres analysiert. Das Korpus enthält Augenzeugenberichte, Chroniken, Memoiren, Theaterstücke, Gedichte, Lieder, Hymnen, Dialoge, Reden, Plakate, Biographien, journalistische und essayistische Texte. Die Werke, aus denen sich das Korpus zusammensetzt, sind im Zeitraum von 1859 bis 1879 entstanden. Des Weiteren werden auch die Biographien der Autoren und deren Gesamtwerk in die Analyse mit einbezogen.
Ein vergleichender Blick über die Gattungsgrenzen hinaus erscheint besonders vielversprechend, da sich ausgehend von der Analyse gattungsübergreifender Diskurse die Funktionen der verschiedenen Textsorten für die katalanische Selbst- und Fremdwahrnehmung in einer innen- wie außenpolitisch brisanten historischen Phase differenziert untersuchen lassen. So kann herausgearbeitet werden, welchen Einfluss die unterschiedlichen Gattungen und die ihnen inhärenten Perspektivstrukturen auf die diskursiv entworfene Identität der Katalanen haben. Auf diese Weise können auch bisher weitgehend unbeachtete Werke in die Forschung einbezogen werden. Die Texte lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Einerseits handelt es sich um Propagandaliteratur, die ganz klar Ziele wie die Verbreitung katalanischer nationaler Mythen und Symbole oder versteckte Kritik an der Politik des spanischen Staats verfolgt, wobei diese Texte häufig von Personen verfasst wurden, die sich auch sonst politisch engagierten. Andererseits handelt es sich um patriotische Literatur, die spontan aus der Kriegsbegeisterung heraus verfasst wurde und den Stolz auf die katalanischen Soldaten zum Ausdruck bringt. Teilweise stammen diese Texte von Personen, die eigentlich keine Schriftsteller, sondern ganz gewöhnliche Menschen waren, wie z.B. die Studenten der medizinischen Fakultät der Universität von Barcelona. Entsprechend ist die literarische Qualität dieser Texte z.T. eher gering, weshalb sich das Korpus nicht für eine rein literarische Analyse eignet. Die hohen Auflagen und das teilweise niedrige intellektuelle Niveau zeigen aber, dass sich die Kriegsliteratur nicht nur an die Bildungsschichten richtete, sondern vielmehr die Massen erreichen sollte.
Im Vergleich zu den Marokko-Kriegen des 20. Jahrhunderts hat der Erste Spanisch-Marokkanische Krieg sowohl in der deutschen als auch in der internationalen Forschung bisher eher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Dazu kommt noch, ← 23 | 24 → dass sich die meisten der wenigen Arbeiten, die sich mit dem Afrika-Krieg von 1859/60 beschäftigen, trotz der außergewöhnlichen Vielfalt der Textproduktion und den damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten nur mit den bekanntesten Werken zu diesem Krieg auseinandersetzen, v.a. mit dem Diario de un testigo de la guerra de África (1860) von Pedro Antonio de Alarcón und dem historischen Roman Aita Tettauen (1905) von Benito Pérez Galdós. Als exemplarisch kann hier der von José Antonio González Alcantud herausgegebene Sammelband Pedro Antonio de Alarcón y la Guerra de África: Del entusiasmo romántico a la compulsión colonial (2004) gelten, der sich ausschließlich mit dem Diario beschäftigt.10
Weitere Beispiele, die sich den Werken von Alarcón, Galdós oder beiden zusammen widmen, sind Ayo (2005), Behiels (1995), Cohen (1975), Colin (1970), Davis (2005), Fleischmann (2010), García Bolta (1995), Gilman (1981), Goytisolo (1982), Martin-Márquez (2001, 2008), Ricard (1935), Santiáñez (2008), Sevilla (2014), Soria Ortega (1989), Schraibmann (1987), Torres Nebrera (1995), Tschilschke (2010, 2013a, 2013b, 2017) und Vilar (1976b). Vilar (1976a) untersucht in einem weiteren kurzen Aufsatz den Philo- und Antisemitismus in der Chronik Alarcóns sowie einigen anderen Chroniken zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg, auf die er aber nur in äußerster Kürze eingeht. Manuela Moreno (1993) gibt nur einen kurzen Einblick in die Werke Alarcóns und Ros de Olanos. Josefa Bauló Doménech (1996) erweitert in ihrem Aufsatz die Untersuchung dieser beiden Autoren um eine knappe Analyse der Chronik von Gaspar Núñez de Arce. Ana Rueda (2006) analysiert neben Alarcóns Diario auch die Chronik Rafael del Castillos und die Memoiren des Feldarztes Nicasio Landa. Katharina Schlosser (2013) beschäftigt sich mit den Frontberichten der beiden spanischen Kriegsberichterstatter Alarcón und Núñez de Arce sowie den Memoiren des Generals Ros de Olano und des Arztes Nicasio Landa und vergleicht sie mit den Memoiren und Lagerbriefen der deutschen Kriegsberichterstatter August von Baeumen und August von Goeben. Alda Blanco geht in einem Aufsatz mit dem Titel „La guerra de África en sus textos: un momento en la búsqueda española de la modernidad“ (2004), der aus dem ersten Teil ihres Buchs Cultura y conciencia imperial en la España del siglo XIX (2012) entnommen ist und eigentlich einen Überblick über das gesamte textuelle Spektrum der Kriegsdarstellungen erwarten lässt, letztendlich nur auf drei dramatische Texte zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg ein. In der späteren im Buch abgedruckten ← 24 | 25 → Fassung bezieht Blanco auch die Chroniken Pedro Antonio de Alarcóns, Emilio Castelars, Evaristo Ventosas und des Katalanen Víctor Balaguer mit ein, die sie aber nicht näher untersucht, sondern aus denen sie nur ein- bis zweimal zitiert, um Hintergrundinformationen zu liefern. Martínez Salazar (1998) geht in einem kurzen Aufsatz auf einige spanische Kriegskorrespondenten im Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg ein. Riego Amézaga (2001) beschäftigt sich mit dem Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg als dem ersten spanischen Medienkrieg. Guillamet (2010) untersucht ebenfalls die ersten Kriegskorrespondenten und geht dabei auch auf den Berichterstatter des Diario de Barcelona Joaquín Mola i Martínez ein.
Die einzige Überblicksdarstellung, die sich mit dem Afrika-Krieg von 1859/1860 auseinandersetzt, stammt von Tomás García Figueras (1961), der zwar sowohl Gedichte, Theaterstücke, Chroniken (auch ausländische), den historischen Roman von Galdós, Musik und Gemälde als auch Zeitungsartikel untersucht, aber durch seine positivistische Herangehensweise und die isolierte Betrachtung einzelner Textsorten enttäuscht, wobei er auch bei der Untersuchung der meisten Werke nicht ins Detail geht, sondern sie lediglich auflistet und knapp beschreibt.11 Eine Ausnahme bilden auch hier die Werke von Alarcón und Galdós, denen García Figueras die meiste Aufmerksamkeit widmet. Das Buch enthält auch ein Kapitel über die katalanischen Freiwilligen, das allerdings lediglich historische Informationen zu deren Rekrutierung liefert und nicht auf die umfangreiche katalanische Textproduktion zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg eingeht. Ein weiteres Kapitel ist dem katalanischen General Joan Prim i Prats gewidmet. Es beinhaltet aber nur biographische Fakten. López Barranco beschäftigt sich in einem Kapitel seines Buchs El Rif en armas. La narrativa española sobre la guerra de Marruecos (1859–2005) mit einigen narrativen Werken zum Afrika-Krieg, die er aber ebenfalls nur aufzählt und knapp beschreibt.
Darüber hinaus existieren vier geschichtswissenschaftliche Bücher über den Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg: Acaso Deltell (2007), Alcalá (2005), Redondo Penas (2008) und del Rey (2001). Nur Redondo Penas beschäftigt sich speziell mit der Situation in Katalonien. Acaso Deltell untersucht auch die Berichte französischer, britischer, deutscher und marokkanischer Kriegszeugen, um seine historische Darstellung des Kriegs, die auf den Beschreibungen der bekanntesten spanischen Chroniken basiert, zu komplettieren, liest die Texte aber ausschließlich als historische Quellen. Zudem gibt es einen geschichtswissenschaftlichen Aufsatz ← 25 | 26 → von Serrallonga Urquidi (1998), der auf die Ereignisse des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs eingeht. Ferner setzt sich Macías (1994) mit dem Verhältnis zwischen Juden und Spaniern im Rahmen des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive auseinander.
Die Auswirkungen des spanisch-marokkanischen Kriegs von 1859/60 auf die peripheren Identitäten Spaniens ist, wie sich schon gezeigt hat, bisher kaum untersucht worden, was in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung steht. Lécuyer und Serrano (1976) analysieren u.a. Artikel aus katalanischen Zeitungen und Zeitschriften, um auf die Einstellung der katalanischen Bevölkerung zum Marokkokrieg zu schließen, wobei auch einige in diesen Zeitungen veröffentlichte Gedichte berücksichtigt werden. Die Autoren stellen dabei zwar fest, dass die Entwicklung eines katalanischen Bewusstseins vom Afrikakrieg profitierte (vgl. Lécuyer/Serrano 1976: 131), die Untersuchung der Texte bleibt jedoch oberflächlich.12 Sunyer (2006) widmet sich der Frage, inwiefern die katalanische Literatur des 19. Jahrhunderts dazu beitrug, eine nationale Mythologie und Symbolik Kataloniens zu konstruieren. In einem Teilkapitel geht er kurz auf die Bedeutung des Afrikakriegs für die Herausbildung katalanischer Mythen ein, die Untersuchung geht aber ebenfalls nicht in die Tiefe und über eine Aufzählung der verschiedenen Werke nicht hinaus. Carme Morell i Montadi (1995) untersucht das dramatische Werk Frederic Solers und befasst sich dabei auch mit seinen drei Werken zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg, analysiert sie aber nicht hinsichtlich der Konstruktion nationaler Identität. Aufbauend auf Morells Analyse geht auch Marie Salgues (2010) im Rahmen ihrer Untersuchung des patriotischen Theaters des spanischen 19. Jahrhunderts auf die Werke Solers ein, beschäftigt sich dabei aber auch nicht mit der Konstruktion katalanischer nationaler Identität. 2013 veröffentlichte Salgues zudem einen Aufsatz, in dem sie Theaterstücke zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg mit Stücken über den Krim-Krieg von 1853–1856 vergleicht, wobei es aber nicht um katalanische Theaterstücke geht.
Es existieren ferner einige geschichtswissenschaftliche Aufsätze, die sich mit der Situation in Katalonien während des Afrika-Kriegs von 1859/60 beschäftigen: Bartlett Ibáñez (1960), Díaz Plaja (1954), Fontana (1994), Garcia Balañà (2002), Martí i Coll (1999), Martín Corrales (2002), Pich i Mitjana (2004) und Sánchez ← 26 | 27 → Cervelló (2013). Pere Anguera (2000) widmet ein Kapitel seines Buchs Els precedents del catalanisme: catalanitat i anticentralisme 1808–186813 dem Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg, wobei er aber keine detaillierten Untersuchungen der dem Kapitel zugrunde liegenden Texte vornimmt. Smith (2014) beschäftigt sich in einem Kapitel seines Buchs The Origins of Catalan Nationalism, 1770–1898 mit dem Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg, geht aber nicht genauer auf einzelne Texte ein.
Die US-amerikanischen Forscher Ginger (2007) und Martin-Márquez (2008) setzen sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit den Gemälden des katalanischen Künstlers Marià Fortuny zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg auseinander, analysieren aber nicht die Kriegsliteratur katalanischer Autoren. Martin-Márquez geht in einem anderen Kapitel ihres Buchs auf die peripheren nationalen Identitäten ein. Ihre Untersuchungen gehen allerdings nicht in die Tiefe und beziehen sich ausschließlich auf das ausgehende 19. Jahrhundert. Dieser Zeitraum wird in der vorliegenden Untersuchung nur im Ausblick behandelt.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Bedeutung und Tragweite des Ersten Spanisch-Marokkanischen Kriegs für den katalanischen Identitätsbildungsprozess aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive noch nicht untersucht wurden. Eine gattungsübergreifende Arbeit, die eine detaillierte Analyse des katalanischen Identitätsdiskurses innerhalb der Kriegsliteratur und seiner jeweiligen Modellierung durch verschiedene Textsorten liefert, steht noch aus und soll im Rahmen der vorliegenden Studie in Angriff genommen werden. Dabei wird der Literatur eine zweifache Funktion zugeschrieben, nämlich zum einen rückgreifend auf gruppenspezifische Symbole kollektive Identitäten zu konstruieren, diese zum anderen aber auch zugleich zu reflektieren. Im Anschluss sollen nun einige Theorien zur Konstruktion nationaler Identität vorgestellt werden.
1 Die Wahlbeteiligung lag allerdings, vermutlich aufgrund der Tatsache, dass es sich lediglich um eine symbolische Befragung handelte, nur bei 36%. Möglicherweise hatten auch die Drohungen des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, gegen die Organisatoren vorzugehen, einige Bürger verschreckt.
2 Da die Durchführung eines Referendums über die Frage der Unabhängigkeit nicht möglich gewesen war und im November 2014 nur eine semioffizielle alternative Abstimmung abgehalten werden konnte, weil es der spanischen Zentralregierung möglich ist, schon durch das Einreichen einer Verfassungsklage ein Referendum zu verhindern, entschied sich Mas dafür, das Regionalparlament aufzulösen, um so Neuwahlen ansetzen zu können, was allein in der Hand des Ministerpräsidenten liegt. Wegen des Widerstands der spanischen Regierung gegen das Referendum stellten die Neuwahlen des Regionalparlaments die einzige legale Möglichkeit dar, zu einem regulären Urnengang unter den rechtlichen Garantien des Wahlrechts zu kommen. Der Wahl wurde die Bedeutung einer Volksabstimmung beigemessen, denn die die Unabhängigkeit Kataloniens anstrebenden Abgeordneten wollten sich bei einem positiven Wahlergebnis für dieses Ziel einsetzen.
3 Die Wahlliste, die sich Junts pel Sí (gemeinsam für das Ja) nennt, setzte sich dann aus der liberalen CDC und der linken ERC zusammen, die beide die Unabhängigkeit Kataloniens anstreben.
4 Die Preise gingen an Víctor Balaguer und Joaquim Rubió i Ors. Auch die spanische Real Academia veranstaltete 1860 einen Dichterwettbewerb zum Ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg, bei dem mehr als 60 Beiträge eingingen. Den Wettbewerb gewann Joaquín José Cervino mit La nueva guerra púnica o España en Marruecos. Ausgezeichnet wurden außerdem Antonio Arnao mit La campaña de África, Julián Romea mit Á la guerra de Africa und der Barón de Andilla mit España victoriosa en África (vgl. Blanco 2012: 33, Sánchez Cervelló 2013: 30).
5 Die Schlacht von Tetuan von Fortuny. Vom Schützengraben ins Museum. Alle Übersetzungen katalanischer Zitate ins Deutsche sind von mir.
6 Albert Garcia Balañà konstatiert in diesem Kontext: „lo que hoy sabemos sobre el patriotismo (retórico y/o socialmente movilizador) alimentado por la guerra [de África] en Cataluña es muy poco.“ (Garcia Balañà 2002: 17)
7 Wenn im Folgenden von der Konstruktion nationaler Identität in der Literatur katalanischer Autoren zum Afrika-Krieg von 1859–1860 gesprochen wird, ist damit eine kulturnationale Identität gemeint, die auf dem Verständnis Kataloniens als Sprach- und Kulturnation basiert, aber noch keine vollständige Autonomie oder staatliche Unabhängigkeit anstrebt.
Details
- Seiten
- 510
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783631732915
- ISBN (ePUB)
- 9783631732922
- ISBN (MOBI)
- 9783631732939
- ISBN (Hardcover)
- 9783631732571
- DOI
- 10.3726/b11691
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (November)
- Schlagworte
- Katalanischer Identitätsdiskurs Nationale Identität Erster Spanisch-Marokkanischer Krieg General Prim Bataillon katalanischer Freiwilliger
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 510 S., 7 Abb.