Und immer wieder Utopia
Perspektiven utopischen Denkens von Morus bis zur Gegenwart
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Utopia im 6. Jahrhundert: Eine kurze Einleitung (Peter Nitschke)
- Utopia forever? Positionen und Negationen des utopischen Denkens (Peter Nitschke)
- Wie aus der Fiktion die Utopie wurde. Thomas Morus’ Utopia feiert ihr 500-jähriges Jubiläum (Richard Saage)
- „Was wäre, wenn…“ – Utopien als soziale Gedankenexperimente (Thomas Schölderle)
- Der freie Markt: Wie utopisch ist das Leitbild der liberalen Ökonomie? (Olaf Asbach)
- Reform oder Revolution? Fourier, die Saint-Simonisten und die Radikalisierung der deutschen Philosophie (Hans-Christoph Schmidt am Busch)
- Totalitäre Utopie: Ist der Totalitarismus der Rassenideologie ein Produkt der Utopien der Moderne? (Samuel Salzborn)
- Wo Utopie (noch heute) lebt – Oder: was Menschen suchen in Religion, Märchen oder Fantasy (Heinrich Dickerhoff)
- Schöne neue Welten? Die Rückkehr des Utopischen in dystopischer Gestalt (Susanna Layh)
- Autorenverzeichnis
- Reihenübersicht
Peter Nitschke (Hrsg.)
Und immer wieder Utopia
Perspektiven utopischen Denkens
von Morus bis zur Gegenwart
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISSN 1867-609X
ISBN 978-3-631-76214-1 (Print)
E-ISBN 978-3-631-76215-8 (E-PDF)
E-ISBN 978-3-631-76216-5 (EPUB)
E-ISBN 978-3-631-76217-2 (MOBI)
DOI 10.3726/b14419
© Peter Lang GmbH
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Berlin 2018
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Diese Publikation wurde begutachtet.
Über das Buch
Die Utopia des Thomas Morus erschien erstmals im Jahre 1516. Das fünfhundertjährige Jubiläum im Jahr 2016 ist Anlass zu einer Bestandsaufnahme anlässlich einer Tagung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD) gewesen, auf der die Bedeutung dieses Klassikers für die weitere Entwicklung der Politischen Theorie im Verlauf der Moderne unter verschiedenen Aspekten, wie etwa der Abgrenzung zum totalitären Denken, der Dystopie und der sozialistischen Ideologie vorgestellt und diskutiert wurde. Die hier publizierten interdisziplinären Beiträge geben eine jeweils überarbeitete und aktualisierte Fassung der Vorträge wieder.
Zitierfähigkeit des eBooks
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Inhaltsverzeichnis
Utopia im 6. Jahrhundert: Eine kurze Einleitung
Utopia forever? Positionen und Negationen des utopischen Denkens
Wie aus der Fiktion die Utopie wurde. Thomas Morus’ Utopia feiert ihr 500-jähriges Jubiläum
„Was wäre, wenn…“ – Utopien als soziale Gedankenexperimente
Der freie Markt: Wie utopisch ist das Leitbild der liberalen Ökonomie?
Hans-Christoph Schmidt am Busch
Reform oder Revolution? Fourier, die Saint-Simonisten und die Radikalisierung der deutschen Philosophie
Totalitäre Utopie: Ist der Totalitarismus der Rassenideologie ein Produkt der Utopien der Moderne?
Wo Utopie (noch heute) lebt – Oder: was Menschen suchen in Religion, Märchen oder Fantasy
Schöne neue Welten? Die Rückkehr des Utopischen in dystopischer Gestalt
Autorenverzeichnis ←5 | 6→ ←6 | 7→
Utopia im 6. Jahrhundert: Eine kurze Einleitung
Im Jahre 2016 konnte man das Erscheinen der Utopia von Thomas Morus feiern und würdigen, wenn man es denn würdigen wollte. 500 Jahre Utopia, also ein halbes Jahrtausend! Man sollte meinen, dass dies Anlass für eine sehr ergiebige und sich wechselseitig überbietende Reihe von nationalen und internationalen Tagungen und Festakten, Ausstellungen, öffentlichen Gedenkvorträgen, Publikationen und introvertierten wie kontroversen Debatten in den Feuilletons der großen Tageszeitungen und Wochenzeitschriften gewesen wäre. Doch weit gefehlt! Das 500jährige Jubiläum der denkwürdigen, überaus vielschichtigen und damit auch paradigmatischen Schrift von Morus aus seiner Zeit, in der er noch nicht Lordkanzler von England war, fand nur ein relativ mageres Echo und Zuspruch. Der Zeitgeist hat offenbar andere Interessen oder Probleme, mit denen er sich beschäftigen möchte. Utopisches Denken ist jedenfalls nicht angesagt – zumindest scheint dies so. Im Gegensatz zur angelsächsischen Welt, wo man der Utopia schnell noch mit einer dritten Auflage (2016) der kritischen Edition im Rahmen der Cambridge Texts in the History of Political Thoughts gedachte,1 gab es in Deutschland hingegen kaum eine wesentliche Beachtung im öffentlichen Diskursraum der Feuilletons.2 Irgendeinen Streit oder wenigstens eine Debatte löste das Jubiläumsjahr hierzulande jedenfalls nicht aus. Auch die Tagungen sind geradezu (kurios) spärlich geblieben: außer zwei inhaltlich auf Morus und die Folgewirkungen, die von seiner Schrift ausgingen, angelegten Tagungen,3 hat es im deutschsprachigen Raum in 2016 keine spezifische Aufmerksamkeit in der Wissenschaft dazu gegeben. Als wenn zu Morus und der Utopia bereits längst alles gesagt worden wäre, was hier zu sagen ist.
Dabei ist eigentlich genau das Gegenteil der Fall: heuristisch wie hermeneutisch ist nichts so unklar wie die Interpretation der Utopia. Denn man kann diesen paradigmatischen Entwurf von der Besten aller Welten auf einer fernen, bis dahin←7 | 8→ unbekannten Insel in ganz unterschiedlicher Weise ausdeuten: literaturwissenschaftlich, kunsthistorisch, philosophisch, theologisch, soziologisch, ökonomisch oder eben politisch, was z. T. schon unterschiedliche methodische Verfahren bzw. hermeneutische Zugänge zum Text beinhaltet. Merkwürdigerweise hat der Erfinder des Utopiegedankens in seiner begrifflichen wie strukturellen Dimension in der deutschen Politikwissenschaft und auch in der Philosophie hierzulande nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die ihm und der Thematik eigentlich zusteht. Das gilt besonders für die Entwicklung der Politikwissenschaft in Deutschland seit den 1970er Jahren.4 Obwohl doch die von Wilhelm Voßkamp initiierte und seinerzeit in Bielefeld beim ZiF 1980–81 mit großer Beteiligung als interdisziplinärer Forschergruppenverbund organisierte Zusammenkunft die Utopiethematik sehr breit und in den einzelnen Aspekten, sowohl was die chronologischen wie auch die fachwissenschaftlich inhaltlichen Themen anbelangt, sehr ausdifferenziert hat. Die hieraus resultierenden drei Bände zur Utopieforschung sind lange Zeit das Maß der Dinge für die deutsche Diskussion gewesen – und z. T. sind sie das heute noch.5 In der Politikwissenschaft hat einzig und lange Zeit allein Richard Saage ab Ende der 1980er Jahre die Themen zur Utopie aufgegriffen – und dann allerdings in einer Systematik, analytischen Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit weiter verfolgt, für die es kein vergleichendes Pendant in der Disziplin gibt. Angefangen von zwei Aufsätzen im Jahr 1988, die in Vertragsdenken und Utopie nochmals publiziert wurden,6 hat Saage immer wieder die Utopiethematik sowohl in ihrer bibliografischen Erfassung, d. h. inhaltlichen Kommentierung der Forschung und des jeweils erzielten Erkenntnisstands,7 als auch, hinsichtlich der daraus resultierenden Aufgaben für die weitere Forschung quasi prozedural vorangetrieben.
Es sind vor allem seine unter dem Paradigma des Politischen fokussierten Überlegungen, welche der Reflexion über Utopia und ihre Nachfolgepräsentationen bis zum heutigen Tag die gebührende Aufmerksamkeit gefunden haben. Denn zu recht versteht Saage, ausgehend von Morus, die Utopie nicht als eine irgendwie nett geartete Manifestation menschlichen Denkens über Fragen, wie es hätte sein können oder wie es möglich wäre anders – d. h. besser zu leben, sondern Saage interpretiert den utopischen Stoff als einen im Kern zutiefst politischen Vorgang. Damit ist Utopia nicht irgendeine Frage oder ein Aspekt schöner Gedanken←8 | 9→ bzw. einer Suche nach der Logik weltlicher Phänomene, sondern hier stellt sich die Sinnfrage nach der Legitimation menschlicher Ordnung als einer eigenen Ordnung von Politik ganz grundsätzlich. Indem Saage die Utopien der Neuzeit bzw. der Moderne in ihrem politischen Anspruch interpretativ ernst nimmt,8 unterstreicht er damit auch die paradigmatische Qualität, die Morus hier mit seiner Schrift von 1516 erzielt hat. Insofern ist es folgerichtig, wenn, ausgehend vom Paradigma der Utopia, für ein klassisches Utopieverständnis in Form einer ordnungspolitischen Begrifflichkeit argumentiert wird. Die von Saage initiierte Debatte über den klassischen Utopiebegriff in 2005 ist insofern nicht weniger als eine Wiederbelebung der deutschsprachigen Forschung zur Utopiethematik in einem etwas breiteren, weil interdisziplinär ausgerichteten Format.9
Wenn man von Morus als dem zentralen Paradigma für ein utopisches Ordorverständnis ausgeht, dann muss man allerdings auch systematisch eruieren, wie sich dieses Paradigma in den utopischen Entwürfen der folgenden Jahrhunderte bzw. Epochen bis zum heutigen Tag ausgewirkt hat, worin die Veränderungen bestehen, welche Nuancen ins Feld geführt worden sind, was die Abweichungen betrifft – und vor allem die Missverständnisse in den jeweiligen Ausdeutungen. Auch hierzu hat Saage sehr produktiv und nachhaltig an dem utopischen Textkorpus gearbeitet, indem er in der von ihm gegründeten Reihe Politica et Ars über Utopische Profile vier sehr systematisch konzipierte Abhandlungen zu den Klassikern der Utopiegeschichte bis an die Schwelle zum 21. Jahrhundert präsentiert hat.10 Damit liefert er ein Pendent zu dem Standardwerk der Manuels in der englischsprachigen Welt,11 wobei er in der pointierten Differenzierung seiner Darstellung und Analyse deutlich darüber hinausgeht.
Wenn man Morus zum heuristischen wie hermeneutischen Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Utopie macht,12 werden, ungeachtet aller Anknüpfungspunkte zur Antike oder gar zum Spätmittelalter,13 die Bezugslinien im historischen Prozess in analytischer Hinsicht umso wichtiger. Das betrifft nicht nur den paradigmatischen Wechsel in der Logik von der Raum- zur Zeitutopie hin, oder von der Ontologie des Seienden zum Wünschbaren des Sollenden, sondern auch die hermeneutische Kontextualisierung zeitgleicher Strömungen in der politischen←9 | 10→ Ideengeschichte bzw. in der politischen Theorie. Die Perspektive auf Debatten über den Neoaristotelismus der Prämoderne werden dann ebenso wichtig wie die über den Chiliasmus,14 erst recht, wenn es hier um Abgrenzungsfragen geht. Gleiches gilt für den Marxismus im Speziellen wie den Sozialismus insgesamt. Man kann daher nur davor warnen, Letzteres allzu leichtfertig auf Dauer mit der Utopie zu assoziieren.15
Denn die (moderne) Interpretation zu Morus und seinen epistemologischen Folgewirkungen im Sinne einer Sozialismusdeutung ist ebenso grobflächig, einseitig, wie auch an vielen Stellen verzerrend. Wenn man gar die Utopia bzw. die Utopie einzig als sozialistischen Entwurf, als „Gegenentwurf zur bürgerlichen Welt“,16 begreifen will, dann ist das monopolistisch, im Grunde recht materialistisch und letztendlich sogar ausgesprochen ideologisch. Es ist irreführend, wenn man Morus hier als Stammvater einer Sozialismusdebatte verorten würde. Tatsächlich ist sein Paradigma (unter den strukturellen Bedingungen des frühmodernen bzw. spätmittelalterlichen Ordnungssystems) in vieler Hinsicht bürgerlicher, als sich dies heutige Sozialismusvertreter klar machen wollen (oder können). Denn genau genommen ist es ein ausgesprochen bürgerlich operierender Leistungsbegriff, mit dem hier die Arbeit für alle auch zu einer Tugend für alle deklariert wird. Damit ist Morus dem klassischen Republikanismus (nicht nur in der antiken Form, sondern auch in der rousseauistischen Fassung) sehr viel näher, als das manchen lieb sein mag. Allerdings nur dann, wenn man die Ausführungen im zweiten Buch ernst nimmt.
Grundsätzlich ist Morus auch gar nicht so innovativ, wie viele das in der modernen Kommentierung gerne unterstellen. Neu ist zweifellos die begriffliche Setzung, die eine nominalistische Neuschöpfung darstellt. Ansonsten aber dürften gerade zeitgenössische Leser recht schnell erkannt haben, dass hier mittelalterliche, dezidiert christliche Motive und Ordnungsaspekte ihre Neuauflage in der anschaulichen Beschreibung des zweiten Buches finden. Was aber neu – und in diesem Sinne innovativ – ist, das ist hier der systemische Rückbezug auf Platon,←10 | 11→ der in verschiedener Hinsicht für das Utopieprojekt bei Morus Pate steht.17 Das gilt aber gar nicht so sehr für die Politeia, sondern (hinsichtlich der Beschreibung in den empirischen Alltagskonsequenzen) mehr noch für die Nomoi.18
Es ist zudem ein typisches Missverständnis – oder besser: eine Überzeichnung, wenn man die Utopie von Morus einschätzt als das Neue in der Vorstellung politischer Ordnungen, die den Gestaltungsanspruch der „gesellschaftlichen Verhältnisse“ in der alleinigen Verfügung des Menschen sehen will.19 Eine solche Einschätzung ist eine typisch säkularistische Anmaßung.20 Als wenn die Geschichte politischer Ideen seit der Antike allesamt ohne Menschenkraft und Vorstellungsvermögen ausgekommen wäre!
Details
- Seiten
- 194
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (PDF)
- 9783631762158
- ISBN (ePUB)
- 9783631762165
- ISBN (MOBI)
- 9783631762172
- ISBN (Hardcover)
- 9783631762141
- DOI
- 10.3726/b14419
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (November)
- Schlagworte
- Utopie Gerechtigkeit Solidarität Vernunft Ordnung Staat
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 192 S.