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Normenlehre des Zusammenlebens

Religiöse Normenfindung für Muslime des Westens. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung

von Mahmud El-Wereny (Autor:in)
©2018 Monographie 318 Seiten

Zusammenfassung

Muslime des Westens benötigen heute keinen «fiqh al-aqallīyāt» mehr, der sie als «Minderheit» sieht. Vielmehr brauchen sie einen fiqh des Zusammenlebens; ein Normensystem, das mit einem toleranten und offenen Blick auf den religiös Anderen eingeht, den Zusammenhalt der Gesellschaft fördert und dem Wohl aller Menschen dient. Die Studie geht der Frage nach, wie die Normenfindung («iğtihād») für Muslime des Westens erfolgt, und diskutiert, wie dies im Sinne eines friedlichen und solidarischen Zusammenlebens und Zusammenwachsens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen geschehen sollte. Zum einen werden die rechtstheoretischen Grundlagen des «iğtihād» herausgearbeitet, zum anderen wird anhand von Fallstudien/Fatwas eruiert, ob und wie diese Instrumente der Normenfindung in der Praxis, d.h. bei der Erteilung von Fatwas, Anwendung finden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Fiqh des Zusammenlebens vs. Fiqh der Minderheiten
  • 1 Grundbegriffe
  • 1.1 Scharia
  • 1.2 Iğtihād
  • 1.3 Fatwā
  • 1.4 Fiqh
  • 1.5 Uṣūl al-fiqh
  • 2 Islamrechtlicher Diskurs zum Leben der Muslime im Westen
  • 2.1 Zur Dichotomie von dār al-islām und dār al-ḥarb
  • 2.2 „Minderheiten“-Fiqh: Genese und Entwicklung
  • 2.3 „Minderheiten“-Fiqh: Notwendigkeit und Verortung
  • 2.4 Fiqh des Zusammenlebens statt Fiqh der „Minderheiten“
  • III. Fiqh des Zusammenlebens: Theoretische Grundlagen
  • 1 Iğtihād: Rückgrat des Fiqh des Zusammenlebens
  • 1.1 Tradierter iğtihād
  • 1.2 Neuer iğtihād
  • 2 Quellen des iğtihād
  • 2.1 Primärquellen der Normenfindung
  • 2.2 Methoden und Sekundärquellen der Normenfindung
  • 2.3 Maṣlaḥa mursala als normgebende Quelle
  • 3 Richtlinien der angestrebten Normenfindung
  • 3.1 Maqāṣid-orientierter iğtihād
  • 3.2 Erleichterung
  • 3.3 Berücksichtigung des Lebenskontextes
  • 4 Grundmaximen des iğtihād
  • 4.1 Alle Dinge sind erlaubt
  • 4.2 Die Absicht ist die Seele der Tat
  • 4.3 Not kennt kein Gebot
  • 4.4 Gewohnheit hat rechtliche Autorität
  • 4.5 Die Wandelbarkeit von Fatwas je nach Zeit und Ort
  • 5 Statische und wandelbare Scharianormen
  • IV. Fiqh des Zusammenlebens: Praktische Fallbeispiele
  • 1 Rituelle Pflichten
  • 1.1 Das Beten am Arbeitsplatz
  • 1.2 Fasten nach astronomischen Berechnungen
  • 1.3 Speisevorschriften: Schächten und Fleischverzehr
  • 2 Frauenbezogene Fragen
  • 2.1 Das Tragen von Niqāb und Kopftuch
  • 2.2 Polygamie
  • 2.3 Scheinehe
  • 2.4 Begrüßung per Handschlag zwischen Mann und Frau
  • 3 Interreligiöse Fragen
  • 3.1 Sozialer Umgang mit Nichtmuslimen
  • 3.2 Das Beglückwünschen der Nichtmuslime zu ihren Festen
  • 3.3 Interreligiöser Dialog
  • 3.4 Interreligiöse Ehe
  • 3.5 Interreligiöse Wohltätigkeit
  • 3.6 Interreligiöse Organspende
  • 3.7 Interreligiöse Vermögensvererbung
  • 3.8 Teilnahme an Beerdigungen von Nichtmuslimen
  • 4 Politikbezogene Fragen
  • 4.1 Partizipation am politischen Leben
  • 4.2 Erwerb der Staatsbürgerschaft
  • 4.3 Loyalität gegenüber dem Staat
  • 5 Verschiedenes
  • 5.1 Abschluss von Versicherungsverträgen
  • 5.2 Verzinstes Darlehen
  • 5.3 Innerreligiöser Dialog
  • V. Fazit und Ausblick
  • Glossar
  • Literaturverzeichnis
  • REIHE FÜR OSNABRÜCKER ISLAMSTUDIEN

Mahmud El-Wereny

Normenlehre des Zusammenlebens

Religiöse Normenfindung für Muslime des Westens Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: © Olaf Gloeckler, Atelier Platen, Friedberg

Umschlagabbildung: © Mahmud El-Wereny

ISSN 2190-3395

ISBN 978-3-631-74669-1 (Print)

E-ISBN 978-3-631-74670-7 (E-PDF)

E-ISBN 978-3-631-74671-4 (EPUB)

E-ISBN 978-3-631-74672-1 (MOBI)

DOI 10.3726/b13325

© Peter Lang GmbH

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Berlin 2018

Alle Rechte vorbehalten

Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York

Oxford · Warszawa · Wien

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Diese Publikation wurde begutachtet.

www.peterlang.com

Autorenangaben

Mahmud El-Wereny hat Islamische Studien und Germanistik an der Al-Azhar-Universität in Kairo studiert und seine Dissertation an der Georg-August-Universität Göttingen zur Erneuerungsfrage des islamischen Rechts abgeschlossen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Islamisches Recht, Politischer Islam und schiitischer Islam.

Über das Buch

Muslime des Westens benötigen heute keinen fiqh al-aqallīyāt mehr, der sie als „Minderheit“ sieht. Vielmehr brauchen sie einen fiqh des Zusammenlebens; ein Normensystem, das mit einem toleranten und offenen Blick auf den religiös Anderen eingeht, den Zusammenhalt der Gesellschaft fördert und dem Wohl aller Menschen dient. Die Studie geht der Frage nach, wie die Normenfindung (iğtihād) für Muslime des Westens erfolgt, und diskutiert, wie dies im Sinne eines friedlichen und solidarischen Zusammenlebens und Zusammenwachsens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen geschehen sollte. Zum einen werden die rechtstheoretischen Grundlagen des iğtihād herausgearbeitet, zum anderen wird anhand von Fallstudien/Fatwas eruiert, ob und wie diese Instrumente der Normenfindung in der Praxis, d. h. bei der Erteilung von Fatwas, Anwendung finden.

Zitierfähigkeit des eBooks

Diese Ausgabe des eBooks ist zitierfähig. Dazu wurden der Beginn und das Ende einer Seite gekennzeichnet. Sollte eine neue Seite genau in einem Wort beginnen, erfolgt diese Kennzeichnung auch exakt an dieser Stelle, so dass ein Wort durch diese Darstellung getrennt sein kann.← 5 →

Vorwort

Gegenstand des vorliegenden Buches ist die Frage nach der Form, dem Inhalt und den rechtstheoretischen Prinzipien der Normenfindung für Muslime des Westens. Es richtet sich nicht nur an Studierende des neu etablierten Studienganges „Islamische Theologie“, an Muslime, die Wert auf einen islamisch-religiösen Alltag legen und dementsprechend gesellschaftskompatibler Normen bedürfen, sondern auch an alle Interessenten, die sich ein differenziertes Bild vom Islam und vom Islamischen Recht machen wollen. Über den Charakter einer Einführung hinaus bietet dieses Werk für den wissenschaftlichen Fachdiskurs sowie für weitere themeninteressierte Leser eine grundlegende Lektüre zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Islamischen Recht im Allgemeinen und der Normenlehre für Muslime des Westens im Besonderen.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich bei der Erstellung und Veröffentlichung dieser Arbeit unterstützt haben. Ein besonderer Dank geht an meine Studenten, mit denen ich in vielen Lehrveranstaltungen über einzelne Fragen dieses Buchs immer wieder diskutiert habe. Auch meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen an der Universität Göttingen sowie meinen ehemaligen Dozenten an der al-Azhar-Universität bin ich zum besten Dank verpflichtet. Sie haben mich mit bereichernden Hinweisen und Diskussionsbeiträgen in neue und fruchtbare thematische Bahnen gelenkt. Herrn Sven Schmidt und Herrn Thomas Weische möchte ich für ihre Lesekorrektur und formale Durchsicht dieser Arbeit danken. Besonderer Dank gilt meiner Ehefrau Amal Assaf, die mich fortwährend und in jeder erdenklichen Weise unterstützt und fördert. Meinen Kindern Betül El-Wereny und Josef El-Wereny danke ich herzlichst für ihr Lächeln und ihre Lebensfreude, die mir stets Kraft und Geduld geben. Auch meinen Eltern möchte ich in tiefster Verbundenheit danken. Nicht zuletzt sei Prof. Dr. Bülent Ucar für seine Bereitwilligkeit, die Arbeit in seine Reihe „Osnabrücker Islamstudien“ aufzunehmen, gedankt.← 5 | 6 →← 6 | 7 →

Inhaltsverzeichnis

    I.Einleitung

  II.Fiqh des Zusammenlebens vs. Fiqh der Minderheiten

Grundbegriffe

1.1 Scharia

1.2 Iğtihād

1.3 Fatwā

1.4 Fiqh

1.5 Uṣūl al-fiqh

Islamrechtlicher Diskurs zum Leben der Muslime im Westen

2.1 Zur Dichotomie von dār al-islām und dār al-ḥarb

2.2 „Minderheiten“-Fiqh: Genese und Entwicklung

2.3 „Minderheiten“-Fiqh: Notwendigkeit und Verortung

2.4 Fiqh des Zusammenlebens statt Fiqh der „Minderheiten“

III.Fiqh des Zusammenlebens: Theoretische Grundlagen

Iğtihād: Rückgrat des Fiqh des Zusammenlebens

1.1 Tradierter iğtihād

1.2 Neuer iğtihād

Quellen des iğtihād

2.1 Primärquellen der Normenfindung

2.2 Methoden und Sekundärquellen der Normenfindung

2.3 Maṣlaḥa mursala als normgebende Quelle

Richtlinien der angestrebten Normenfindung

3.1 Maqāṣid-orientierter iğtihād

3.2 Erleichterung

3.3 Berücksichtigung des Lebenskontextes

Grundmaximen des iğtihād

4.1 Alle Dinge sind erlaubt← 7 | 8 →

4.2 Die Absicht ist die Seele der Tat

4.3 Not kennt kein Gebot

4.4 Gewohnheit hat rechtliche Autorität

4.5 Die Wandelbarkeit von Fatwas je nach Zeit und Ort

Statische und wandelbare Scharianormen

IV.Fiqh des Zusammenlebens: Praktische Fallbeispiele

Rituelle Pflichten

1.1 Das Beten am Arbeitsplatz

1.2 Fasten nach astronomischen Berechnungen

1.3 Speisevorschriften: Schächten und Fleischverzehr

Frauenbezogene Fragen

2.1 Das Tragen von Niqāb und Kopftuch

2.2 Polygamie

2.3 Scheinehe

2.4 Begrüßung per Handschlag zwischen Mann und Frau

Interreligiöse Fragen

3.1 Sozialer Umgang mit Nichtmuslimen

3.2 Das Beglückwünschen der Nichtmuslime zu ihren Festen

3.3 Interreligiöser Dialog

3.4 Interreligiöse Ehe

3.5 Interreligiöse Wohltätigkeit

3.6 Interreligiöse Organspende

3.7 Interreligiöse Vermögensvererbung

3.8 Teilnahme an Beerdigungen von Nichtmuslimen

Politikbezogene Fragen

4.1 Partizipation am politischen Leben

4.2 Erwerb der Staatsbürgerschaft

4.3 Loyalität gegenüber dem Staat

Verschiedenes

5.1 Abschluss von Versicherungsverträgen

5.2 Verzinstes Darlehen

5.3 Innerreligiöser Dialog← 8 | 9 →

  V.Fazit und Ausblick

Glossar

Literaturverzeichnis← 9 | 10 →← 10 | 11 →

I. Einleitung

Heute lebt mehr als ein Fünftel aller Muslime in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften. Neben einer stetig wachsenden Zahl Studierender und Asylsuchender handelt es sich mehrheitlich um Arbeiter, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die Staaten Westeuropas und Nordamerikas einreisten und sich dort ab den späten 1950er Jahren niederließen. Im Rahmen des Familiennachzugs holten diese, mehrheitlich männlichen Arbeitskräfte ihre Ehepartner und Kinder nach und bildeten fortan und bis zum heutigen Tag einen signifikanten Bestandteil der Bevölkerung des jeweiligen Landes.1 In Deutschland beispielsweise leben heutzutage zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime; darunter sogenannte Gastarbeiter, deren Nachkommen in zweiter und dritter Generation, Geflüchtete sowie Konvertiten. Die Masseneinwanderung erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1955 bis 1973, vor allen Dingen im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeiter aufgrund des exponentiellen Wirtschaftswachstums der Nachkriegsjahre und des daraus resultierenden Mangels an Arbeitskräften.2 Eine erste, ernsthafte Auseinandersetzung mit der dauerhaften Präsenz von Muslimen außerhalb islamisch geprägter Gesellschaften – sowohl ← 11 | 12 →seitens der Aufnahmegesellschaft als auch seitens der Muslime selbst – und den hiermit verbundenen Konsequenzen für Staat und Gesellschaft war erstmals zu Beginn der 1970er Jahre zu beobachten. Der Hauptgrund dafür ist, dass sich viele muslimische Zuwanderer von ihrer ursprünglichen Absicht, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, abgewandt hatten. Dieser Umstand warf viele Fragen unterschiedlicher Natur auf.3

Neben Fragen der Integration und der Einrichtung einer für die Erfüllung der islamischen Rituale und Pflichten notwendigen religiösen Infrastruktur etwa mittels der Gründung von Moscheengemeinden beschäftigten sich muslimische Migranten mit oftmals scheinbar simplen Fragen des Alltags: Wie soll man sich als Muslim beispielsweise gegenüber nichtmuslimischen Mitbürgern verhalten? Darf man ihnen zu ihren Festen gratulieren und ihren Feierlichkeiten beiwohnen? Darf man als Muslim am politischen Leben eines nichtislamischen Staates partizipieren und das Wahlrecht aktiv bzw. passiv wahrnehmen? Wie soll man sich gegenüber dem Staat und dessen Gesetzen verhalten? Wie und inwieweit kann oder muss man ihnen gegenüber loyal sein? Wie ist mit Bankzinsen, die aus islamischer Perspektive ursprünglich verboten sind, umzugehen? In der intensiven Beschäftigung mit diesen und ähnlichen Fragen manifestiert sich der hohe Stellenwert der religiösen Vorschriften des Islam für die muslimische Minderheit bei ihrer Lebensgestaltung. Die Auswertung des Religionsmonitors 2013 der Bertelsmann Stiftung ergibt beispielsweise, dass die Religiosität der Muslime in Deutschland im Vergleich zu Angehörigen christlicher Religionsgemeinschaften sehr stark ausgeprägt ist. „Die stärkste religiöse Identität besitzen […] die Muslime: Fast 40 % von ihnen stufen sich selbst als sehr religiös ein und fast 90 % halten die Religion für ,eher’ oder ,sehr’ wichtig.“4 Der Islam versteht sich nämlich wie die anderen Buchreligionen als Lebensweg, der sich auf alle Belange ← 12 | 13 →des Alltags erstreckt und für die Gesamtheit seiner Anhänger, jenseits geografischer und politischer Grenzen, Gültigkeit besitzt.5 Da die Normen des Islam mit der politischen, ökonomischen, sozialen und rechtlichen Situation einer nicht muslimisch geprägten Gesellschaft nicht immer in Einklang stehen, ergeben sich im praktischen Leben der Muslime im Westen6 immer wieder Probleme und neue Fragen.

Vor diesem Hintergrund befassen sich zeitgenössische muslimische Gelehrte und Intellektuelle, vermehrt seit Mitte der 1990er Jahre, mit der Frage, ob und wie das islamische Normensystem für muslimische Minderheiten neu ausgelegt werden kann bzw. darf. Es hat sich seitdem ein Diskurs auf institutioneller Ebene etabliert, der sich den Problematiken und Fragen jener Muslime widmet. In diesem Rahmen entwickelte sich das Konzept des sogenannten fiqh al-aqallīyāt al-muslima („Normenlehre für muslimische Minderheiten“), das sich als Ratgeber für Muslime außerhalb muslimischer Mehrheitsgesellschaften versteht und adäquate Lösungen zur Bewältigung von mit ihren Lebensumständen einhergehenden Alltagsproblemen liefern soll.7 Die zu diesen Problemstellungen verfassten Schriften erschöpfen sich nicht in der ‚einfachen‘ Erteilung praktischer Rechtsgutachten für alltägliche Fragen der Muslime im Westen, sondern widmen sich darüber hinaus auch der Frage, anhand welcher Quellen und rechtstheoretischen Prinzipien die Findung von Normen bzw. die Erteilung von derartigen Fatwas erfolgen soll. Angestrebt wird dabei ein theoretisches Konzept, auf dessen Basis mögliche Konflikte zwischen religiösen Regelungen und der jeweiligen örtlich geltenden Rechtsordnung vermieden werden sollen.

Der 1935 im irakischen Falludscha geborene und seit 1983 bis zu seinem Tode 2016 in den USA wirkende Ṭāhā Ğābir al-‘Alwānī8 gilt als Namensgeber ← 13 | 14 →und Vater der Lehre des fiqh al-aqallīyāt.9 Im Rahmen seines 1994 veröffentlichten Essays Madḫal ilā fiqh al-aqallīyāt („Einführung in die Normenlehre der Minderheiten“) erfolgte eine erste theoretische Ausarbeitung dieses Konzepts. Dort bespricht er die theoretischen Grundlagen einer zeit- und ortsgemäßen Normenfindung für Muslime in einer Minderheitensituation. Diese solle den Alltag jener Muslime regeln und die islamische Weltanschauung mit dem dortigen Leben vereinbar machen.10 Ḫālid ‘Abd al-Qādir, ein libanesischer Autor (geb. 1961), liefert auf der Basis seiner Magisterarbeit 1998 eine Einführung in diese Thematik und setzt sich hauptsächlich mit praktischen Rechtsfragen auseinander.11 Yūsuf al-Qaraḍāwī (geb. 1926), der als „Phänomen“ unserer Zeit betrachtet wird,12 befasst sich mit Fragen der muslimischen Minderheiten sowohl auf theoretischer als auch praktischer Ebene. In seinem 2001 erschienenen Werk Fī fiqh al-aqallīyāt al-muslima erteilt er nicht nur Fatwas für Muslime des Westens,13 sondern entwirft auch ein rechtstheoretisches Konzept für diese spezielle Rechtsauslegung.14 Der mauretanische Gelehrte ‘Abdallāh b. Baiya (geb. 1935), gilt ebenfalls als einer der wichtigsten Hauptvertreter der Idee des fiqh al-aqallāyāt. In seiner 2004 publizierten Schrift Ṣinā ‘at al-fatwā wa-fiqh al-aqallīyāt („Die Erstellung von Rechtsgutachten und die Normenlehre der ← 14 | 15 →Minderheiten“) setzt er sich mit dem Thema sowohl theoretisch als auch praktisch intensiv auseinander.15

Jene Gelehrte sind auf unterschiedliche Art und Weise bemüht, die islamischen Normenquellen entsprechend der Lebenssituation der Muslime im Westen neu auszulegen, um ihnen adäquate Lösungen für ihre Alltagsprobleme zu liefern. Ziel ist es vor allem, es Muslimen in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften zu ermöglichen, ein schariakonformes Leben zu führen, ohne dabei mit den dort bestehenden Rechtssystemen und gesellschaftlichen Traditionen in Konflikt zu geraten. Der Akzent dieser Abhandlungen liegt daher nicht primär auf der Förderung eines kooperativen und solidarischen Zusammenlebens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen oder einer aktiven Zusammenarbeit an der Zukunft jener Aufnahmegesellschaft. Vielmehr werden die im Westen lebenden Muslime als „Minderheit“ (aqallīya) betrachtet, die sich in die jeweilige Gesellschaft einbringen und integrieren soll. Zwar wird jenen Muslimen die Möglichkeit eingeräumt, mit nichtmuslimischen Mitbürgern in Kontakt zu treten und mit ihnen gute Beziehungen zu pflegen, aber letztendlich schwingt fast ausnahmslos die Hoffnung mit, die Ausbreitung des Islam durch eine langfristige muslimische Präsenz voranzutreiben.16

Westliche Islamwissenschaftler,17 wie etwa March, Wiedl und Albrecht, kritisieren die Idee einer speziellen Normenlehre für Muslime im Westen und ← 15 | 16 →beschreiben sie als Strategie, die da ʿwa („Aufruf zum Islam“) im Westen zu ermöglichen und somit den Islam dort zu verbreiten. Nach Wiedl bezweckt al-Qaraḍāwī mit seinem Ansatz die Bewahrung des Muslimseins und die Schaffung einer weltumspannenden islamischen Gemeinschaft (umma).18 Albrecht bettet dessen Konzept ebenfalls in besagte Vision einer globalen umma ein und stellt zudem fest, dass es ihm in erster Linie um die Ausbreitung des Islam gehe und weniger darum, die Muslime in die jeweilige Aufnahmegesellschaft einzugliedern und somit das Zusammenwachsen pluralistischer Gesellschaften zu befördern:

„Vielmehr versteht er unter Integration das maßvolle Aufeinandereinwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Die muslimischen Minderheiten sollten dabei einerseits zwar Nützliches adaptieren, andererseits aber vor allem die Gelegenheit nutzen, ihre Werte und Normen in die Mehrheitsgesellschaft hineinzutragen.“19

Das heißt, al-Qaraḍāwī fasst nicht die gesamte Gesellschaft in den Blick, sondern stellt eher das Interesse der Muslime bzw. des Islam in den Vordergrund. Vor diesem Hintergrund überrascht eine oftmals zu beobachtende ← 16 | 17 →Parteilichkeit, Voreingenommenheit und der häufig einseitige Ausfall der erteilten Fatwas zugunsten der Muslime nicht weiter.20

Heute stellen Muslime des Westens einen signifikanten Bestand der Bevölkerung dar und sind längst nicht mehr als „Minderheit“, sondern als Mitbürger zu betrachten. Sie benötigen daher nicht mehr ein Konzept, das sie als Minderheit sieht, sondern vielmehr ein Normensystem (fiqh: künftig in dieser Arbeit: der Fiqh), das mit einem toleranten und offenen Blick auf die Mitmenschen eingeht, den Zusammenhalt der Gesellschaft unterstützt und dem Wohl aller Mitmenschen dient. In dem vorliegenden Buch wird ein Ansatz angestrebt, in dessen Mittelpunkt die Unterstützung eines friedlichen und kooperativen Zusammenlebens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen steht. Zu diesem Zweck werden die normativen Ansätze der oben erwähnten Rechtsgelehrten dargestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Dabei werden die von ihnen herangezogenen Quellen, Methoden und Prinzipien des sogenannten fiqh al-aqallīyāt herausgearbeitet und hinsichtlich ihrer Anwendung in der Praxis, also bei der Erstellung von Fatwas, analysiert. Es soll dabei der Frage nachgegangen werden, anhand welcher Quellen und rechtstheoretischer Instrumente die Findung von Normen für muslimische Minderheiten erfolgt bzw. wie dies im Sinne eines friedlichen und solidarischen Zusammenlebens und Zusammenwachsens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen erfolgen sollte. Im Zuge dessen werden vor allem Fragen des Alltags, insbesondere interreligiöser Natur, behandelt. Nicht zuletzt ist diese Arbeit von der Hoffnung beseelt, einen Beitrag zum friedlichen Miteinander zwischen Muslimen und ihren nichtmuslimischen Mitbürgern zu leisten.

Die Beschäftigung mit dieser Frage gewinnt an Bedeutung vor dem Hintergrund, dass der Fiqh nach muslimischer Auffassung alle Fragen des Lebens umfasst und Anweisungen für das Verhalten im gesellschaftlichen und familiären Kontext sowie gegenüber Gott gibt. Er bestimmt im holistischen Sinne darüber, was Musliminnen und Muslimen21 gestattet ist und was nicht.22 Zudem kann ← 17 | 18 →die Politik die Integration von Muslimen, den Zusammenhalt der Menschen, die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Friedens sowie die Achtung und Bewahrung der Menschenwürde nicht alleine gewährleisten. Vielmehr ist die Rolle der Religion als zentraler Bezugspunkt sowie Identifikationsanker, der über das Verhalten vieler Menschen entscheidet, von fundamentaler Bedeutung.

Details

Seiten
318
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (PDF)
9783631746707
ISBN (ePUB)
9783631746714
ISBN (MOBI)
9783631746721
ISBN (Hardcover)
9783631746691
DOI
10.3726/b13325
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
al-Qaradawi/Ibn Bayya Europäischer Fatwa-Rat Salafismus iğtihād/ijtihad Fiqh/usul al-fiqh Minderheitenrecht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 318 S.

Biographische Angaben

Mahmud El-Wereny (Autor:in)

Mahmud El-Wereny hat Islamische Studien und Germanistik an der Al-Azhar-Universität in Kairo studiert und seine Dissertation an der Georg-August-Universität Göttingen zur Erneuerungsfrage des islamischen Rechts abgeschlossen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Islamisches Recht, Politischer Islam und schiitischer Islam.

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Titel: Normenlehre des Zusammenlebens