Kinder mit Behinderungen in der Volksschule des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Historische Modelle der Integration und ihre zeitgenössische Diskussion
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie stellt ausgewählte historische Konzepte des Gemeinsamen Lernens in ihrem historischen Entstehungszusammenhang dar und zeichnet die außerordentlich kontroversen zeitgenössischen Debatten nach, die um diese Ansätze geführt wurden. Darüber hinaus fragt sie nach den Ursachen ihres Scheiterns.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Zur „Neuen Folge“ der „Studien zur Bildungsreform“
- Vorwort zu Band 1
- Inhalt
- I. Einleitung
- 1. Forschungssituation
- 2. Auswahl der historischen Gegenstände und Präzisierung der Fragestellung
- 3. Zur Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung: Historische Ansätze der Integration in den Widersprüchen und Paradoxien der Schulgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
- II. Versuche der Integration gehörloser Kinder in die Volksschule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Verallgemeinerungsbewegung
- 1. Der Aufbau eines flächendeckenden Systems der Volksschulbildung und der Bildungsanspruch Gehörloser
- 2. Die Verallgemeinerung als Forschungsgegenstand
- 3. Volksschulpädagogen als Protagonisten der Verallgemeinerung
- a) Heinrich Stephani: Blinde, taubstumme und vernachlässigte Kinder und das „System der öffentlichen Erziehung“
- b) Johann Baptist Graser: Christliches Menschenbild und Elementarbildung für alle
- 4. Die Graser-Debatte
- 5. Staatlicher Ausbau und Scheitern der Verallgemeinerung
- 6. Zusammenfassung: Die Verallgemeinerungsdebatte in den Widersprüchen und Konflikten der Aufbauphase des niederen Schulwesens
- III. Die Differenzierung des Schulsystems nach 1850 und das Gegenmodell einer „begabungsgerechten Einheitsschule“ – das Mannheimer Schulsystem
- 1. Der Ausbau des Schulsystems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
- 2. Das Mannheimer Schulsystem als Forschungsgegenstand
- 3. Die „psychologisch gegliederte Einheitsvolksschule“ – das Organisationsmodell Anton Sickingers
- 4. Die Sickinger-Debatte
- a) Die Hilfsschullehrerschaft: Verhaltene Zustimmung
- b) Die Volksschullehrerschaft: Streit um Sickinger
- c) Die experimentelle Pädagogik: Zweideutige Signale
- d) Die Kinder- und Jugendpsychiatrie: Das Mannheimer Schulsystem als Synthese pädagogischer und psychiatrischer Erkenntnis
- 5. Zusammenfassung: Das Mannheimer Schulsystem und die Perfektionierung der schulischen Auslese
- IV. Alternativen zur Hilfsschule – Reformpädagogische Gemeinschaftsschulen der 1920er und 30er Jahre
- 1. Die Einführung der obligatorischen Grundschule und der Ausbau sonderpädagogischer Einrichtungen in der Weimarer Republik
- 2. Reformpädagogische Alternativen zur Hilfsschule als Forschungsgegenstand
- 3. Die Hamburger Gemeinschaftsschule Berliner Tor
- 4. Die Jena-Plan-Schule Peter Petersens
- a) Das Hilfsschulkind und das Versagen der „Begabungsschule“
- b) Der Jena-Plan als Schulentwicklungsmodell einer „allgemeinen Volksschule“
- 5. Individualpsychologische Schulversuche
- a) Die individualpsychologische Versuchsschule in Wien
- b) Individualpsychologische Unterrichtsversuche in Deutschland
- 6. Die Diskussion der reformpädagogischen Gemeinschaftsschul-Modelle in der Weimarer Republik
- a) Die interne Debatte der Gemeinschaftsschulen
- b) Positionen der akademischen Pädagogik und der Volksschullehrerschaft
- c) Die Hilfsschullehrerschaft
- 7. Zusammenfassung: Innere Widersprüche der Gemeinschaftsschul-Konzepte und die ausgefallene Kontroverse um die Hilfsschulkinder
- V. Schluss
- 1. Zentrale Befunde
- 2. Forschungsperspektiven
- VI. Literaturverzeichnis
- 1. Quellen zu Kapitel II: Die Verallgemeinerungsbewegung
- 2. Quellen zu Kapitel III: Das Mannheimer Schulsystem
- 3. Quellen zu Kapitel IV: Reformpädagogische Gemeinschaftsschulen der 1920 und 30er Jahre
- 4. Sekundärliteratur
- VII. Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
- 1. Abbildungen
- 2. Tabellen
- Dank
Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen in der Regelschule erscheint in den aktuellen bildungspolitischen und pädagogischen Kontroversen um die Inklusion vielfach als etwas gänzlich Neues. Befürworter wie Skeptiker nehmen diesen von der UN-Behindertenrechtskonvention angestoßenen Bruch mit der überkommenen Organisationsform von getrennten Regel- und Förderschulen je nach Standort als Ausweis einer besonders fortschrittlichen oder fragwürdigen Neuausrichtung des Schulsystems wahr. Der Mehrheit der Pädagoginnen und Pädagogen dürfte immerhin bewusst sein, dass es seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik vor allem in der Primarstufe zahlreiche Versuche mit sog. „Integrationsklassen“ gegeben hat. Sehr viel weiter reicht das historische Gedächtnis aber in der Regel nicht.1 Dies gilt mit gewissen Abstrichen auch für die erziehungswissenschaftliche Debatte, für die Clemens Hillenbrand schon vor fast zwei Jahrzehnten feststellte, dass die Geschichte „keineswegs als Herausforderung für die wissenschaftliche Bearbeitung des Integrationsgedankens angesehen“ wird.2 In einem Überblick über den damaligen Forschungsstand konstatierte Hillenbrand, dass die umfangreiche Integrations-Literatur historische Aspekte „nur marginal“, oft nur als „Negativfolie der geschichtlichen Ausgrenzung“ und als „sekundäre Rezeption und Re-Interpretation bereits vorliegender historiographischer Erkenntnisse“ thematisiert habe.3 Sichtet man die bildungshistorische Forschung der vergangenen Jahre, dann hat sich an dieser Situation kaum etwas geändert. Inklusion wäre dann, um ein weiteres Zitat Hillenbrands zu variieren, „ein pädagogisches Motiv (…) ohne Vorläufer, eine Bewegung ohne Vorgeschichte“4.
Übersehen wird hierbei meiner Einschätzung nach zweierlei: 1.) Kinder mit besonderen pädagogischen Förderbedürfnissen hat es in der Volks- oder Elementarschule, die mit der weitgehenden Durchsetzung der Schulpflicht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die überwältigende Mehrheit der Jungen und ←17 | 18→Mädchen ab dem sechsten Lebensjahr aufnahm, seit ihren Anfängen immer gegeben.5 Unter ihnen waren Kinder, die auffielen: aufgrund von körperlichen oder motorischen Einschränkungen, weil sie langsamer oder weniger als andere lernten, weil sie Schwierigkeiten mit dem Sehen, dem Hören oder der Artikulation hatten oder auch den Verhaltensregeln einer auf Ordnung und Disziplin pochenden Einrichtung nicht gehorchten. Insofern ist das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern, die wir heute zusammenfassend als Kinder „mit Behinderungen“ oder mit sonderpädagogischem „Förder-“ bzw. „Unterstützungsbedarf“ bezeichnen, und denen, die ohne offensichtliche Schwierigkeiten im Unterricht mithalten können, historisch betrachtet keine neue Erscheinung.6 Anders als in heutigen integrativen bzw. inklusiven Klassen blieben die Kinder, von denen man feststellte, dass sie besonderer Förderung bedurften, in der Regelschule des 19. Jahrhunderts jedoch ohne jede kompetente pädagogische Hilfe. Die Folge war dann fast durchweg, dass sich die Lern- und Verhaltensprobleme verschärften und soziale Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse zuspitzten. Zeitgenössische Quellen zeigen daher auch häufig, dass das Lehrpersonal der Volksschule die betroffenen Kinder zwar durchaus mit Gefühlen des Mitleids und der Sorge wahrnahm, aber auch als Belastung für den Rest der Klasse und als Bürde für die Bewältigung des eigenen Alltags. 2.) Gegenüber diesem historischen Normalfall, den man als zufällige Integration ohne ←18 | 19→pädagogisches Konzept bezeichnen kann, lassen sich in der Schulgeschichte auch eine Reihe von Ansätzen finden, Kinder, die den üblichen Maßstäben an Lern- und Leistungsfähigkeit nicht gerecht werden konnten, in der Regelschule durch besondere Fördermaßnahmen zu unterstützen bzw. spezifische organisatorische und didaktisch-methodische Arrangements bereitzustellen, um die als problematisch wahrgenommene Überführung in gesonderte heil- bzw. sonderpädagogische Einrichtungen zu vermeiden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einige dieser Bemühungen in der deutschen Schulgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in ihrem je spezifischen historischen Entstehungszusammenhang zu konturieren sowie die zeitgenössischen Debatten, die um diese Ansätze geführt wurden, nachzuzeichnen.7
Bei der Bearbeitung ihrer Fragestellung kann die vorliegende Studie an einige wenige bereits vorliegende Publikationen anknüpfen, die jedoch eher als erste Skizzen denn als Versuche einer differenzierten Analyse einzuordnen sind.8 Während die Historiografie der Sonder- oder Heilpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg für lange Zeit aus der Perspektive der sonderpädagogischen Fachdisziplinen – der Blinden-, Körperbehinderten-, Lernbehindertenpädagogik usf. – geschrieben wurde9 und, so die Einschätzung Sieglind Luise Ellger-Rüttgardts, „in ←19 | 20→der Regel die Funktion einer Rechtfertigung bestehender Institutionen“10 besaß, hat sich das Bild in den letzten drei Jahrzehnten deutlich verändert. Mit den Überblicksdarstellungen von Wolfgang Jantzen (1982), Andreas Möckel (1988/2007) und Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt (2008) liegen inzwischen Grundlagenwerke vor, die den Bezug zur Allgemeinen Pädagogik ausdrücklich betonen. Bereits sehr früh hat Andreas Möckel auf verschiedene historische Bemühungen um die Integration von behinderten Kindern in die Regelschule hingewiesen, diese allerdings noch sehr stark von der Geschichte der Heilpädagogik und von ihrem Scheitern her interpretiert.11 Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer „Neudefinition des Verhältnisses von allgemeiner und spezieller Pädagogik im Sinne einer stärkeren Integrierung der speziellen in die allgemeine Pädagogik“12 geht dagegen Ellger-Rüttgardt im Jahr 1995 den „historischen Wurzeln der Integrationsbewegung“ nach. In einem kurzen, aber ausgesprochen anregungsreichen Aufsatz weist sie hierbei auf eine Vielzahl von „Vorläufern der gegenwärtigen Integrationsdebatte“ und Kritiker eines gesonderten Schulwesens für Kinder mit Behinderung hin.13 Trotz des überschaubaren Umfangs des Beitrags kann Ellger-Rüttgardt vielfältige Forschungsperspektiven aufzeigen und darüber hinaus zentrale Problemfelder der historischen Integrationsversuche identifizieren.14 Im Rahmen ihrer umfangreichen Gesamtdarstellungen nehmen Möckel und vor allem Ellger-Rüttgardt immer wieder Bezug auf einzelne historische Ansätze gemeinsamen Lernens, können diese jedoch angesichts des sehr viel weiter gesteckten Darstellungsgegenstandes jeweils nur knapp kennzeichnen.15 Clemens Hillenbrand (2001) gibt wichtige Hinweise auf die (defizitäre) Forschungssituation und fokussiert seine eigenen Ausführungen dann auf die Weimarer Republik und den Jena-Plan Peter Petersens, den er als eine „zu unrecht verdrängte Episode sonderpädagogischer Geschichte“ bewertet.16 Ähnlich auch ←20 | 21→Erwin Rohr und Manfred Weiser, die ihren sondierenden Blick auf historische Integrationsversuche in die noch ungeschriebene „Geschichte der Außenseiter in der Pädagogik“17 einordnen und hierbei auf konzeptionelle Überlegungen der Aufnahme gehörloser und blinder Kinder in die Volksschule des 19. Jahrhunderts (Graser, Hill, Klein), auf Georgens und Reinhardts Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana und Bernfelds Kinderhaus Baumgarten hinweisen. Eine theoretisch anspruchsvolle Reflexion der Voraussetzungen einer Historiografie pädagogischer Inklusion findet sich bei List (2000a).18
Kann man festhalten, dass es seit dem Ende der 1980er bis Anfang der 2000er Jahre eine Reihe von Anstößen für die Erforschung historischer Ansätze gemeinsamen Lernens gegeben hat, so muss im gleichen Atemzug konstatiert werden, dass diese Anregungen von der historischen Bildungsforschung seitdem nicht aufgegriffen worden sind. Die Geschichte von Integration bzw. Inklusion wird zwar in einigen der aktuellen Handbücher und Einführungen sehr knapp angesprochen,19 neue quellenerschließende Studien sind jedoch bis heute ausgesprochen rar und bleiben durchgängig beschränkt auf begrenzte historische Zeiträume bzw. Problemstellungen.20
Auffällig ist hierbei vor allem, dass die historische Bildungsforschung, die institutionell nicht an sonderpädagogische Institute und Lehrstühle angebunden ist, das Thema bis heute fast vollkommen unberücksichtigt gelassen hat. Sie knüpft damit an eine Tradition an, die bruchlos bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht.21 Nimmt man die Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Bildungswesens zum Maßstab, dann kann man ohne Einschränkung davon sprechen, dass von der Allgemeinen Pädagogik lange Zeit eine Schulgeschichte ohne ←21 | 22→Kinder mit Behinderungen geschrieben wurde.22 Dies gilt sowohl für ältere, in geisteswissenschaftlicher Tradition stehende Studien der Nachkriegszeit23 als auch für gesellschaftsgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten seit den 1970er Jahren.24 Selbst das sechsbändige „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ spart die Geschichte der Sonderschule(n) vor 1945 fast vollkommen aus,25 und auch die in der DDR entstandene „Geschichte der Erziehung“ berücksichtigt Schulen für behinderte Kinder nicht.26 Noch in Gert Geißlers mehr als 1000 Seiten umfassenden „Schulgeschichte in Deutschland“ aus dem Jahr 2011 beschränkt sich die Darstellung des Sonderschulwesens auf ein vierseitiges Kapitel zum Kaiserreich.27 Ähnlich sieht es in Arbeiten zu ausgewählten Sektoren des Bildungssystems aus, etwas besser dagegen in regionalgeschichtlich ausgerichteten Publikationen.28 Angesichts des Befundes, dass die traditionelle Historische Pädagogik wie die moderne historische Bildungsforschung Kinder ←22 | 23→mit Behinderungen in ihren schulgeschichtlichen Darstellungen fast vollständig ausblenden, ist es alles andere als erstaunlich, dass auch historische Bemühungen um deren Integration in die Regelschule bisher kaum thematisiert worden sind.29
2. Auswahl der historischen Gegenstände und Präzisierung der Fragestellung
Die systematische Einbeziehung behinderter Kinder in das moderne Bildungssystem nimmt ihren Anfang in der Blinden- und Taubstummenpädagogik des späten 18. Jahrhunderts. Die aufsehenerregende „Entdeckung der Bildsamkeit“30 Blinder und Gehörloser wird in der durch Ideen der Aufklärung geprägten Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen, und in zahlreichen Ländern Europas kommt es zur Gründung erster öffentlicher Taubstummen- und Blindeninstitute: 1763 beginnt der Abbé de l’Epée mit der Unterrichtung gehörloser Schüler in Paris, im gleichen Jahr wird in Edinburgh die erste Gehörlosenschule eröffnet, 15 Jahre später in Leipzig das erste Taubstummeninstitut in Deutschland. Dass auch sinnesbehinderte Kinder einen Anspruch auf Bildung besitzen, wird angesichts der Erfolge der Taubstummen- und Blindenpädagogik von ernst zu nehmenden Teilnehmern der öffentlichen Debatte um 1800 nicht mehr in Frage gestellt. Heftig umstritten ist allerdings schon bald, ob allgemeine Schulen oder spezielle Einrichtungen die geeigneten Orte sind, diesen Anspruch einzulösen.
Den historischen Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung bilden daher erste Versuche der Aufnahme gehörloser und blinder Kinder in die Volksschule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die von der pädagogischen Historiografie unter dem Begriff der „Verallgemeinerungsbewegung“ zusammengefasst worden sind. Zu dieser Zeit ist die staatliche Regelschule in fast allen Territorien des deutschen Reiches noch eher Programm als Realität. Zahlreiche Entwürfe für eine allgemeine Volksbildung konkurrieren miteinander, nur wenige von ihnen finden Eingang in die staatliche Bildungspolitik, die mit der Kodifizierung von Bildungsabschlüssen, der Regelung der Lehrerausbildung und dem Aufbau ←23 | 24→einer Schuladministration selbst erst langsam beginnt, Instrumente und Organisationsformen für die Steuerung eines modernen öffentlichen Schulwesens zu entwickeln. Gleichzeitig unternehmen vor allem die großen deutschen Bundesstaaten Preußen und Bayern schon in den 1820er Jahren Versuche, Kinder mit Sinnesbehinderungen in der Volksschule zu unterrichten.
Zwischen 1880 und 1914, dem zweiten historischen Zeitraum, der im Rahmen dieser Arbeit genauer betrachtet werden soll, scheint diese Kontroverse in Bezug auf die blinden und gehörgeschädigten Kinder bereits zugunsten eigenständiger Schulen und Internate entschieden zu sein. Der Aufbau eines differenzierten staatlichen Schulsystems ist im wilhelminischen Kaiserreich weit vorangeschritten. Nicht nur die strikte Trennung von Volks-, Mittel- und höherer Schule, von Jungen- und Mädchenschule ist juristisch und verwaltungstechnisch weitgehend festgezurrt, auch der Aufbau eines Sonderschulwesens hat erhebliche Fortschritte gemacht. Neben den Einrichtungen für Blinde und Gehörlose sind es nun vor allem sog. „Hilfsschulen“, die seit den 1880er Jahren in großer Zahl in ganz Deutschland gegründet werden, um Kinder, die in der Volksschule gescheitert sind, aufzunehmen. Die Hilfsschule entwickelt sich schnell zum quantitativ wichtigsten Teil des Systems gesonderter Schulen, so dass ihre Entstehungsphase an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit verdient. Auch ihre Etablierung verläuft jedoch nicht kritiklos und ohne praktische Versuche, konkurrierende Wege zu gehen. Breite öffentliche Aufmerksamkeit findet vor allem das sog. „Mannheimer Schulsystem“, das – anders als die Hilfsschule – den einheitlichen Rahmen der allgemeinen Volksschule beibehalten will, innerhalb dieser Organisationseinheit aber Möglichkeiten der (Leistungs-)Differenzierung vorsieht. Vor dem Ersten Weltkrieg findet das vom Mannheimer Stadtschulrat Anton Sickinger entwickelte Modell zahlreiche Unterstützer und Nachahmer, kann sich als Alternative zum viergliedrigen Schulsystem aber letztlich nicht durchsetzen.
In der Weimarer Republik, der dritten historischen Phase, die diese Studie fokussiert, kommt es stattdessen zu einer Stabilisierung der Viergliedrigkeit und zu einem weiteren Ausbau getrennter schulischer Einrichtungen für Kinder mit besonderen Förderbedürfnissen. Nach dem Abschluss der Verfassungsberatungen, die in den „Weimarer Schulkompromiss“ münden, der erstmals eine vierjährige gemeinsame Grundschule für alle Kinder ohne Behinderungen vorsieht, endet die kurze Phase der Strukturreformen. Die Zahl der Hilfsschülerinnen und -schüler nimmt noch einmal deutlich zu, und mit den sog. „schwererziehbaren Kindern“ gerät eine neue Schülergruppe in den Blick, die von Teilen der Lehrerschaft und Schuladministration verstärkt als Problem wahrgenommen wird. Alternative Ansätze gemeinsamen Lernens werden in den 1920er Jahren nicht mehr vor dem Horizont einer umfassenden Umgestaltung des staatlichen ←24 | 25→Schulsystems diskutiert, sondern nur noch mit Blick auf einzelne Reformschulen und deren pädagogische Konzepte. Für die in großer Zahl entstehenden Versuchsschulen der Weimarer Republik existiert allerdings ein erstaunlich großer Freiraum, den einige der reformpädagogischen „Gemeinschaftsschulen“ nutzen, auf „Abschulungen“ an Sondereinrichtungen zu verzichten und stattdessen pädagogische Ansätze zu entwickeln, auch die weniger leistungsstarken und schwierigen Schülerinnen und Schüler zu fördern. Da die historische Reformpädagogik für aktuelle Ansätze der schulischen Inklusion eine wichtige Referenz bildet, scheint ihre Berücksichtigung im Rahmen dieser Studie unverzichtbar. Neben der Hamburger Schule „Berliner Tor“ und der „Jena-Plan-Schule“ Peter Petersens wird hierbei die „Individualpsychologische Versuchsschule“ in Wien im Mittelpunkt der Darstellung stehen, die aufgrund ihres besonderen Profils einbezogen wurde, obwohl sie als eine der interessantesten Reformeinrichtungen in Nachkriegsösterreich nicht als Teil der deutschen Schulgeschichte angesprochen werden kann, dem reformpädagogischen Diskurs in Deutschland aber ausgesprochen nahestand.
Die Auswahl der in dieser Studie untersuchten Modelle beruht neben den bereits angesprochenen Gründen auf einigen Vorannahmen, folgt aber auch pragmatischen Gesichtspunkten: Zum einen ist es die Absicht der Studie, den historischen Zeitrahmen von der Etablierung der allgemeinen Volksschule bis zum Ende der Weimarer Republik möglichst in seiner Gesamtheit – wenn auch natürlich nur an ausgewählten Beispielen – in den Blick zu nehmen, da, so die Vermutung, sich gerade aus dem historischen Längsschnitt interessante Einsichten in Bezug auf Kontinuitäten und Brüche in der Debatte um den angemessenen Ort der pädagogischen Förderung behinderter Kinder erwarten lassen, und zwar sowohl hinsichtlich der beteiligten Akteursgruppen als auch in Bezug auf die Ausformung spezifischer Argumentationsmuster. Die Ausweitung des Untersuchungszeitraums über den Zweiten Weltkrieg hinaus erscheint nicht als sinnvoll, da die Zeitgeschichte der schulischen Integration nach 1945 bereits mehrfach beschrieben worden ist.31 Zum anderen ist es angesichts des aktuellen Forschungsstands notwendig, die Untersuchung auf den deutschsprachigen Raum zu konzentrieren. Dem Verfasser ist durchaus bewusst, dass es sich hierbei um eine Verengung der Perspektive handelt, denn vor allem die Debatte des 19. Jahrhunderts um die Beschulung gehörloser und sehbehinderter Kinder war eine internationale, und die Frage ihrer Einbeziehung in das Schulsystem stellte sich z.B. in Frankreich und England in ganz ähnlicher Weise wie ←25 | 26→in Deutschland. Es wäre daher wünschenswert, institutionelle und diskursive Entwicklungen auch außerhalb Deutschlands in die Analyse einzubeziehen, um Gemeinsamkeiten, aber auch Spezifika nationaler Prozesse erkennbar machen zu können. Angesichts fehlender Vorarbeiten ist eine solch anspruchsvolle Ausrichtung jedoch gegenwärtig noch nicht umsetzbar. Vielmehr soll die vorliegende Publikation dazu beitragen, den Quellenkorpus für weitere Untersuchungen in transnationaler bzw. komparativer Perspektive zu erweitern und auf mögliche Forschungsperspektiven hinzuweisen.32 Eine weitere Vorentscheidung betrifft die Auswahl der dargestellten Versuche gemeinsamen Lernens in der Volksschule des 19. und 20. Jahrhunderts. Es ist bereits betont worden, dass es sich hierbei um ausgewählte Beispiele handelt, die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben können. Auf hochinteressante weitere Ansätze ist von der Forschung bereits aufmerksam gemacht worden, auch wenn differenzierte Untersuchungen bisher noch eine Ausnahme darstellen.33 Ein zentrales Kriterium für die gewählten Fokussierungen bestand in der Quellenlage. Den im Folgenden dargestellten Beispielen ist gemeinsam, dass elaborierte Begründungen für die Praxisversuche vorlagen, die es erlaubten, systematisch entwickelte Legitimationszusammenhänge und Argumentationsmuster zu identifizieren. Darüber hinaus wurden alle Ansätze gemeinsamen Lernens behinderter und nicht behinderter Kinder im zeitgenössischen Umfeld intensiv und in der Regel ausgesprochen strittig diskutiert, nicht zuletzt, weil diese selbst sich als Modelle für ein neu aufzubauendes Volksschulwesen begriffen. Gerade aus der Aufarbeitung der historischen Kontroversen, die sich in einer umfangreichen und vielfältigen Zeitschriften-Literatur spiegeln, wurden aufschlussreiche Einsichten erwartet.34
←26 | 27→Anders als traditionelle Geschichten der Sonder- bzw. Heilpädagogik nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgangspunkt nicht von spezifischen Problemlagen (der „Taubstummen“, „Schwachsinnigen“ oder „Schwererziehbaren“) oder von sonderpädagogischen Institutionen, sondern von der allgemeinen Schule. Sie fragt danach, in welcher Weise die historischen Ansätze das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen in der Regelschule begründen und in Bezug auf organisatorische bzw. pädagogische Settings ausformulieren. Hierbei werden drei Ebenen unterschieden, denen einzelne Leifragen zugeordnet sind:
1. Normative Orientierungen
– In welche normativen und systematischen Begründungszusammenhänge sind die Argumente für das gemeinsame Lernen eingebunden?
– Welche Vorstellungen vom (behinderten) Kind beinhalten die Ansätze?
2. Institutioneller Rahmen
– Welche Kinder sollen in der allgemeinen Schule unterrichtet werden, welche nicht?
– Wie soll die Schule organisiert sein (Größe und Zusammensetzung von Lerngruppen, Gestaltung von Zeiten und Räumen)?
– Welches Personal soll in der allgemeinen Schule arbeiten und welche Kompetenzen werden von ihm erwartet?
3. Pädagogische und didaktische Leitideen
– Welche pädagogischen Intentionen werden mit der gemeinsamen Lerngruppe behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler verbunden?
– Welche Vorstellungen über Arrangements des gemeinsamen Lernens werden entwickelt?
– Welche Formen spezifischer Förderung soll es geben?
Die oben genannten Leitfragen werden im Verlauf der Darstellung durchgängig thematisiert, je nach Ausprägung der verschiedenen Ansätze jedoch in unterschiedlicher Akzentuierung und Tiefe. Soweit die Quellenlage dies zulässt, wird darüber hinaus ein Blick auf die praktische Arbeit der Schulversuche geworfen.
Der zweite Schwerpunkt der Arbeit liegt in dem Versuch der Rekonstruktion der historischen Debatten über die zuvor dargestellten Ansätze. Hierbei geht es ←27 | 28→zunächst darum, die in den öffentlichen Kontroversen beteiligten Akteursgruppen zu identifizieren, um anschließend die Argumente von Befürwortern und Gegnern zusammenzutragen und zu systematisieren.
Details
- Seiten
- 290
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631796597
- ISBN (ePUB)
- 9783631796603
- ISBN (MOBI)
- 9783631796610
- ISBN (Hardcover)
- 9783631796481
- DOI
- 10.3726/b15913
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (September)
- Schlagworte
- Geschichte der Inklusion Integrationsklassen Historische Bildungsforschung 19. Jahrhundert Reformpädagogik Verallgemeinerungsbewegung
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 290 S., 20 s/w Abb., 6 Tab.