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(Post-)koloniale frankophone Kriegsreportagen

Genrehybridisierungen, Medienkonkurrenzen

von Sara Izzo (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 208 Seiten

Zusammenfassung

Der Band widmet sich der Kriegsberichterstattung im Spannungsfeld von Literatur und Journalismus. Im Zentrum stehen unterschiedliche Kriegs- und Konfliktherde der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie des 21. Jahrhunderts, die sich in ein (post-)koloniales Gesellschaftsgefüge einschreiben. Die Untersuchung der literarisch-journalistischen Kriegsdarstellungen konzentriert sich insbesondere auf zwei Schwerpunkte: die genrespezifische Verschränkung von Journalismus und Literatur sowie die damit verknüpfte Konkurrenzbeziehung von Literatur und anderen Medien.
Die Beiträge des Bandes gehen auf die gleichnamige Sektion beim 11. Kongress des Frankoromanistenverbands 2018 an der Universität Osnabrück zurück.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung (Sara Izzo)
  • Blaise Cendrars, Chez l’armée anglaise : un drôle de reportage de guerre (Myriam Boucharenc)
  • La représentation de l’Histoire et les images de la guerre civile : un reportage entre littérature et journalisme. Le cas des écrivains-journalistes algériens des années 1990 (Ramzi Hidouci)
  • Dé/reconstruire l’imaginaire visuel – les reportages sur le conflit israélo-palestinien de Jean Genet (Sara Izzo)
  • L’Élimination, récit d’un génocide par Rithy Panh (Thabette Ouali)
  • La guerre et le témoin : Les Carnets de Homs de Jonathan Littell comme problématisation du caractère littéraire des journaux de guerre (Markus Lenz)
  • Une saison de machettes de Jean Hatzfeld : la mise en scène de la voix des bourreaux entre récit factuel et récit fictionnel (Lena Seauve)
  • L’image de l’Occidental dans les narrations du génocide rwandais : L’aîné des orphelins de Tierno Monénembo (Messan Tossa)
  • Berichte aus der Zone. Gewalt und Neue Kriege zwischen Reportage und Roman (Roberto Bolaño, Mathias Énard) (Jan Knobloch)
  • Yanick Lahens und der verletzte Körper. Sprachreflexionen zum Erdbeben von Haiti im Umfeld der Neuen Kriege (Annika Gerigk)
  • Bild-Sprache(n) des Krieges. Der Afghanistankrieg in deutsch- und französischsprachigen Graphic Novels (Marina Ortrud M. Hertrampf)
  • Reihenübersicht

Sara Izzo

Einleitung

Die hier versammelten Beiträge gehen auf die Sektion « (Post-)koloniale frankophone Kriegsreportagen: Genrehybridisierungen, Medienkonkurrenzen » beim 11. Kongress des Frankoromanistenverbands (Osnabrück) zurück. Sie widmen sich der Kriegsberichterstattung im Spannungsfeld von Literatur und Journalismus und konzentrieren sich dabei auf unterschiedliche Kriegsherde der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie des 21. Jahrhunderts, die sich in ein (post-)koloniales Gesellschaftsgefüge einschreiben.

1. Gesellschaftsform – Kriegstypus – Reportagestil

Mit Bezug auf den bedeutenden Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz stellt Mary Kaldor die Annahme einer Korrelation zwischen Gesellschaftsform und Kriegstypus auf, wonach « jede Gesellschaft […] über ihre eigene, für sie charakteristische Form des Kriegs [verfüge] »1. Prägend für das 20. Jahrhundert seien zum einen die totalen Kriege der ersten Jahrhunderthälfte und zum anderen der dominierende Ost-West-Konflikt des Kalten Kriegs, der jedoch eine Reihe von « irregulären, inoffiziellen Kriege[n] der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts [subsumiert], wie […] d[ie] Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkriegs und de[n] Guerillakrieg Mao Zedongs und seiner Nachfolger »2. Letztere gelten als Vorboten der für das 21. Jahrhundert charakteristischen sogenannten Neuen Kriege. Damit unterscheidet Kaldor als erste zwischen vermeintlichen ‚alten‘ Kriegen, verstanden als große zwischenstaatliche Kriege, und einer neuen Form der Gewalteskalation an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, die sich durch innere Auseinandersetzungen und bürgerkriegsähnliche Zustände kennzeichnet:

Die politische Gewalt ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts […] allgegenwärtiger, richtet sich stärker gegen Zivilisten, verwischt die Unterschiede zwischen Krieg und Verbrechen, gründet sich auf eine entzweiende Identitätspolitik und verschärft diese immer weiter – das sind die Kennzeichen der ‚neuen Kriege‘. Den Terrorismus muß man als eine Variante der ‚neuen Kriege‘ verstehen – er ist die logische Folge der in gegenwärtigen ←7 | 8→Konflikten entwickelten Taktik. Unsicherheit ist außerdem nicht nur das Ergebnis politischer Gewalt. Naturkatastrophen und Krankheiten töten weitaus mehr Menschen als Krieg und Terrorismus und bilden zusammengenommen ein globales Risikoumfeld, in dem Krieg, Armut und Klimawandel alle miteinander verquickt sind.3

Kaldors Definition versucht einem Gestaltwandel dieser neuen Kriegsform Rechnung zu tragen, die als Folge einer Aushöhlung bzw. Auflösung staatlicher Autonomie verstanden und mitunter durch die intensivierte und stetig fortschreitende Globalisierung bedingt wird. Letztere generiert eine zunehmende wechselseitige transnationale und transkulturelle Verflechtung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche (Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur), welche wiederum auch den kriegerischen Konflikten eine spezifische Prägung gibt – etwa die Internationalisierung der Kriegsakteure, das Aufbrechen nationalstaatlicher Grenzen, das Verschwimmen klar differenzierbarer Kriegsparteien oder Kriegstreiber. Im deutschsprachigen Raum hat insbesondere Herfried Münkler die Entwicklung der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Krieg näher in den Blick genommen und dabei für die Neuen Kriege drei Faktoren als Differenzierungsmerkmal herausgestellt, nämlich die Privatisierung des Kriegs und die damit einhergehende Multiplikation von Kriegsakteuren, die Asymmetrierung der Kriegsgewalt und die Demilitarisierung des Kriegs mit der Konsequenz einer Aushöhlung der eindeutig zugewiesenen Rolle von Kombattanten und Nonkombattanten.4 Stärker als Kaldor deutet Münkler die Analogien zwischen den Dekolonialisierungskriegen und den Neuen Kriegen an. Tatsächlich lassen sich die Ursprünge vieler Neuer Kriege nicht ohne die Berücksichtigung vormaliger kolonialer bzw. imperialer Grenzziehungen sowie die auch im Zuge der Dekolonisierung fortbestehenden postkolonialen Interessen- und Machtsphären beschreiben. Insbesondere für die aus literaturwissenschaftlicher Perspektive brennende Frage nach den medialen Repräsentationsmöglichkeiten jener neuen Gewaltmuster leistet Münkler einen wichtigen Beitrag, indem er die Rolle der Medien in den Fokus rückt. Neben die Korrelation von Gesellschaftsform und Kriegstyp stellt Münkler die Korrelation von Kriegstyp und medialer Berichterstattung.5 ←8 | 9→So betont er die Veränderung der Medien und ihre Wirkung in den Neuen Kriegen, legt dabei den Schwerpunkt in Anlehnung an Gerhard Paul auf den sogenannten « Krieg der Bilder »6. Das Neue liegt jedoch nicht alleine in der Diagnose eines zweifelhaften Authentizitätsanspruchs von Bildinszenierungen, die insbesondere durch den Aufstieg eines ‚optischen Zeitalters‘7 in den 1960/1970er Jahren zu begründen ist. Vielmehr liegt das Neue in der viralen Informationsverbreitung im Internet. Gerade die Flut und fehlende Gewichtung von Bildern und Informationen im Netz sowie die Beschleunigung der Informationsvermittlung durch das Prinzip der Übertragung in Echtzeit zählen zu den besonderen Merkmalen der aktuellen Medienberichterstattung. Neben den medienevolutionären Entwicklungen scheint die Konfliktberichterstattung aber auch gerade durch den neuen Kriegstyp bestimmt, wie Münkler in einem kontrastiven Vergleich zwischen der Reportage im klassischen Staatenkrieg, hier als ‚symmetrischer Krieg‘ bezeichnet, und der Reportage in den Neuen Kriegen herausstellt. Für den Staatenkrieg wählt er als Beispiel die Reportage zur Schlacht in Königgrätz von William Howard Russell, der als einer der ersten Kriegskorrespondenten gilt und unter anderem für die Times und den Daily Telegraph von unterschiedlichen Kriegsschauplätzen im 19. Jahrhundert Bericht erstattet hat:

Betrachten wir nun zunächst den Reporter oder Berichterstatter in den Zeiten des symmetrischen Krieges: Im Idealfall konnte er, wie der Brite William Howard Russell im Jahre 1866 während der Schlacht von Königgrätz, einen Kirchturm besteigen, von dort aus die Bewegungen der Truppen sowie die Wirkung der von ihnen gegeneinander geführten Stöße und Gegenstöße beobachten und am nächsten Tag kühl und distanziert berichten, wer den Sieg davongetragen hatte. Diese Kirchturmperspektive lässt sich metaphorisch auf einen mehrjährigen Krieg übertragen. Das Ganze stellt sich dar als ein zeitlich über Tage, Wochen, Monate, womöglich Jahre gestrecktes Duell, bei dem zwei tendenziell gleichartige Kontrahenten gegeneinander angetreten sind, um ihre Kräfte zu messen.8

←9 | 10→

Der Blick aus der Vogelperspektive von der Kirchturmspitze, welcher ein scheinbar neutrales Überschauen des kriegerischen Duells zweier gleich gestellter Kontrahenten suggeriert, verdeutlicht ex negativo die Unmöglichkeit im globalen Zeitalter der Neuen Kriege, einen präzisen Blickwinkel auf ein Geschehen einzunehmen, das überhaupt nicht mehr in seiner Gänze erfasst werden kann. Ein Vergleich bietet sich dahingehend zwischen Russells Reportage zur Schlacht von Königgrätz und der Comic-Reportage Kobane Calling9 (2016) des italienischen Autors Zerocalcare zum Widerstandskampf der Kurden gegen den IS (Islamischer Staat) im Zuge des Syrienkriegs an. Betrachten wir zunächst die von Münkler thematisierte Textpassage aus Russells Bericht, so können wir konstatieren, dass die Kirchturmspitze als idealer Aussichtspunkt für den klar strukturierten kriegerischen Schlagabtausch der beobachteten Staatsarmeen bewertet wird:

On the previous day I had been looking over the country from a lofty tower commanding the Prague gateway, whence Josephstadt on the north and the whole of the positions of the armies were displayed as if on a raised map, but I had a little idea, indeed, that it was to serve me in such good stead, and that I was to behold from it one of the most obstinate and decisive battles of the world. Nothing but a delicate, and yet bold, panorama on a gigantic scale could give a notion of the extent of the view and the variety of landscape visible from this tower, and no panorama could convey any idea of such a scene, filled with half a million of men moving over its surface like the waves of the sea or as a fast-driving cloud in gale.10

Wenngleich auch Zerocalcare für seine prologartige Einführung (Fig. 1) in die Comic-Reportage Kobane Calling eine erhöhte Blickperspektive wählt, nämlich ←10 | 11→das Dach einer Moschee, so sind die im nächtlichen Sternenhimmel erscheinenden Onomatopoesien unterschiedlicher Explosionen und Geschosse (« Blam », « Tum », « Ratatata », « Fsss ») für ihn als fremder Beobachter nicht ohne die Hilfe eines kurdischen Kombattanten dechiffrierbar, der die Explosionsgeräusche den unterschiedlichen Kriegsparteien zuordnen kann.

Fig. 1: Zerocalcare 2016, p. 5–6. Copyright 2020 Michele Rech/Zerocalcare-BAO Publishing

In einer direkten Konfrontation dieser beiden Textausschnitte können somit einige dichotome Merkmale in Bezug auf den Beobachterstandpunkt und die Perspektivierung herausgefiltert werden (Kirche vs. Moschee, Überblick vs. Verdunklung, endogener vs. exogener Blick, direkte vs. vermittelte Dechiffrierung der Ereignisse), aus denen sich zentrale Fragestellungen zu einer möglichen Ästhetik der Neuen Kriege ableiten lassen: Welche Distanz, welcher Betrachterstandpunkt, welche Erzählperspektive werden gewählt, um von den Ereignissen der Kriegsschauplätze Zeugnis abzulegen? Welche narrativen und stilistischen Konsequenzen ergeben sich daraus für die literarische Reportage?

Die bei Münkler thematisierte Korrelierung von Kriegsform und Reportagestil steht im Zentrum dieser Publikation, die sich jedoch nicht ausschließlich ←11 | 12→den Kriegsherden der vergangenen drei Jahrzehnte widmen möchte, sondern den Fokus auf Kriegsreportagen der zweiten Hälfte des 20. und des 21. Jahrhunderts legt. Somit werden auch die Repräsentationsmechanismen jener Konflikte in den Blick genommen, die gemeinhin als Vorboten der neuen Gewaltmuster gelten. Unter der Bezeichnung von Bürgerkriegen11 wurden sie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ebenso in den Blick genommen wie die spezifisch als Neue Kriege12 zu bezeichnenden Gewaltphänomene. Die in diesem Band um die Frage der literarischen Kriegsdarstellungen vereinten Beiträge widmen sich zwei Schwerpunkten, der genrespezifischen Verquickung von Journalismus und Literatur sowie den damit verknüpften Konkurrenzbeziehungen von Literatur und anderen Medien.

2. Kriegsreportagen – zwischen Literatur und Journalismus

Seit ihrer Entstehung und Durchsetzung als bedeutendste journalistische Textsorte in Frankreich zum Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet sich die Reportage durch eine genreinhärente Hybridität aus, welche die Grenzen zwischen Literatur und Journalismus, Fiktionalität und Faktualität, Subjektivität und Objektivität verwischt. Trotz einer « antinomie traditionnelle entre ‘presse’ et ‘littérature’ »13 ist diese Hybridisierung mitunter durch die Schnittmenge von literarischem und journalistischem Feld bedingt, welche eine doppelte Tätigkeit vieler Autoren als Journalisten und vieler Journalisten als Autoren impliziert. Der Terminus des écrivain-journaliste14 trägt dieser Doppelfunktion im Französischen Rechnung. Das Genre der Reportage bringt laut Myriam Boucharenc die besondere Herausforderung mit sich, gleichsam einen doppelten Pakt mit dem Leser einzugehen:

←12 | 13→

Insbesondere in Bezug auf das journalistische Subgenre der Kriegsreportage bleibt der hier evozierte referentielle Pakt mit dem Leser neu auszuloten. Das Spannungsverhältnis von Faktischem sowie dem Effekt von Faktischem, welches im Übersetzungs- und Verschriftlichungsprozess von Gesehenem und Erfahrenem hinzu Beschriebenem und Bezeugtem den referentiellen Darstellungsmodus der Reportage kennzeichnet, nimmt im Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen verstärkt eine ethische Dimension an. Trotz jedweder Objektivitätsansprüche legt der Blick des Reporters immer einen subjektiven Filter auf das Geschehen. Die Realität erscheint durch die Linse eines individuellen ‚Temperaments‘16, das sich darüber hinaus auch selbst in Relation zum Geschehen positioniert – auf rhetorischer Ebene sowie im journalistischen bzw. literarischen Feld.17 Mit Blick auf die oben zitierte Comic-Reportage von Zerocalcare zeigt sich, dass hier die Selbstpositionierung des Autors in Juxtaposition mit einem kurdischen Widerstandskämpfer stattfindet, der im Laufe der gesamten Reportage in Bezug auf die kriegerischen Ereignisse eine aufklärende bzw. erklärende Funktion bewahrt, so dass zum einen der Vorwurf einer eurozentrischen Perspektivierung entwaffnet werden kann, zum anderen aber auch eine eindeutige politische Positionierung stattfindet.

Die Beiträge zeigen, dass die Frage nach der journalistisch-literarischen Selbstpositionierung einen Reflexionsschwerpunkt hinsichtlich der Einordnung und Bestimmung der journalistisch-literarischen Aufarbeitung der unterschiedlichen Gewaltmuster und Kriegsherde darstellt. Wird eine eurozentrische Sichtweise kolportiert, verschleiert, kritisiert oder konterkariert? Werden die ←13 | 14→Opfer, die Täter oder andere Zeugen in den Blick genommen, zu Wort kommen gelassen oder zu einem Dialog geführt? Hierbei werden letztlich auch jene identitätspolitischen Überlegungen kadriert, welche so bestimmend für die asymmetrischen Kriege sind und darüber hinaus auch als Ausdruck eines postkolonialen Gesellschaftsgefüges zu verstehen sind.

Augenscheinlich determiniert die subjektive Perspektivierung nicht nur die journalistisch-literarische Stimme, sondern vor allem auch den Fokus auf und den Darstellungsmodus von der erlebten Wirklichkeitserfahrung in den Kriegsgebieten. Die Problematik der Darstellbarkeit von Krieg tangiert in der Literaturwissenschaft den Bereich der ethischen Reflexion.18 Die Sagbarkeit von Gewalt verhandelt auch den « Zusammenhang von ästhetischer Qualität literarischer Texte und der in ihnen zum Ausdruck kommenden Wirklichkeitserfahrung und Sensibilität für die ethische und moralische Dimension menschlicher Existenz »19, welcher für Jutta Zimmermann einen ‚ethical turn‘ in der Literaturwissenschaft markiert. Die Literarisierung der kriegerischen Konflikte lässt sich im Genre der Reportage unterschiedlich skalieren und ist darüber hinaus auch vom Publikationskontext abhängig, wie die Beiträge verdeutlichen. Im journalistischen Genre selbst reichen sie von der synästhetisch-sensorischen Beschreibung von Atmosphäre über ein metaphorisch-bildsprachliches Übersetzen des (Un-)Sichtbaren hin zu einer raumzeitlichen Dehnung oder Überschichtung von Erfahrungen. Dabei muss hinterfragt werden, inwieweit dem Prozess der Literarisierung hier selbst eine ethische Funktion zukommt, insofern als darin eine Unsagbarkeit überwunden wird.

Darüber hinaus entscheidet aber auch der Veröffentlichungskontext im Spannungsfeld von Journalismus und Literatur über die Textfunktion. So ist zwischen Reportagen zu unterscheiden, die alleine im immediaten journalistischen Kontext der Ereignisse publiziert werden, und jenen, die (auch) in einem literarischen Kontext veröffentlicht werden und weniger auf Aktualität denn auf Dauerhaftigkeit hin angelegt sind (cf. den Beitrag zu Cendrars in diesem Band). Diese zeitliche Dimension, welche sich zwischen dem Anspruch einer Beschreibung vom immediaten Geschehen und dem Anspruch einer zeitlosen ←14 | 15→Universalität auffächert,20 wird insbesondere im Publikationsübergang vom journalistischen zum literarischen Produktionsbereich deutlich. Die Hybridisierung spiegelt sich beispielsweise in paratextuellen editorischen Zuordnungen wider, wie etwa der Bezeichnung als « récits » (cf. die Beiträge zu Hatzfeld und Lahens in diesem Band). Daneben sind auch Formen hypotextueller Transferbeziehungen von journalistischen zu literarischen Texten im Werk eines Autors oder aber zwischen unterschiedlichen Autoren zu konstatieren (cf. die Beiträge zu Lahens, Littell, Énard, Bolaño und Genet in diesem Band). Das journalistische Rohmaterial erfährt dabei eine literarische Kotextualisierung, die wiederum eine gerade für die Gegenwartsliteratur typische Hybridkonstellation von Reportage und Roman bzw. Fiktion schafft. Diese schreibt sich in die von Dominique Viart diagnostizierte Tendenz eines « retour au réel » bzw. auch « retour à l’histoire » ein.21 Die journalistischen Hypotexte verändern in diesem neuen Kontext ihre Funktion, reproduzieren sie hier vor allem einen Effekt von Faktischem und von Referentialität innerhalb des fiktionalen Textraums. Mit der Literarisierung ist somit aus zeitlicher Perspektive auch eine Universalisierung des textuellen Geltungsbereichs verbunden. Für das Subgenre der Kriegsreportage ist dies auch dahingehend von Bedeutung, dass jene immediaten Berichterstattungen nur einen Ausschnitt, einzelne Facetten, eine Momentaufnahme von meist über lange Jahre schwelenden Konflikten erfassen können, wohingegen Chroniken oder Retrospektiven eher eine Langzeitperspektive einnehmen, wenngleich auch diese relativ zur Dauer des Kriegs bleiben kann.

Prozesse einer Literarisierung von kriegerischer Gewalt sind allerdings nicht alleine als Reaktion auf die Grenzen der Darstellbarkeit spezifischer Wirklichkeitserfahrungen zu verstehen, sondern richten sich auch an bestehenden Medienkonstellationen aus. Wie Karpenstein-Eßbach hervorhebt, ist

Details

Seiten
208
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631828809
ISBN (ePUB)
9783631828816
ISBN (MOBI)
9783631828823
ISBN (Hardcover)
9783631822128
DOI
10.3726/b17241
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Literarischer Journalismus Französische Gegenwartsliteratur Kriegsberichterstattung Kriege im 20. und 21. Jahrhundert Neue Kriege Literatur und (audio-)visuelle Medien Faktualität und Fiktionalität Identitätspolitik Opfer- und Täterperspektive Literatur und Ethik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 208 S., 21 s/w Abb.

Biographische Angaben

Sara Izzo (Band-Herausgeber:in)

Sara Izzo ist derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und lehrt im Bereich Romanistik (Französische und Italienische Literaturwissenschaft). Nach dem Studium der Fächer Romanistik/Französische Philologie, Kunstgeschichte und Neuere Geschichte an der Universität Bonn erfolgte ihre Promotion im Fach Romanistik/Französische Philologie mit einer Arbeit über die politischen und journalistischen Schriften von Jean Genet.

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