Symbolon - Band 21
Himmelsreisen und Höllenfahrten. Klang und Kosmos. Zeit und Zeitlosigkeit
Zusammenfassung
In jeder Themenstellung steckt ein erhebliches Maß an Polarität. Dem sind die Veranstalter allein schon durch die Auswahl der Referenten gerecht geworden. Hier wurden Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachgebieten herausgezogen. Die Beiträger kommen aus der Astronomie, der Medizin, der Musikologie oder aus dem Bereich der historischen Wissenschaften. Damit eröffnet sich ein ungemein weites, nur selten so stringent präsentiertes Feld interdisziplinärer Forschung.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort des Herausgebers
- Inhalt
- Martin Weyers: Von Raum und Zeit. Kosmologische Symbolik auf den Symbolon-Tagungen 2014–2017
- Tagung 2015 in Essen: Himmelsreisen und Höllenfahrten
- Viola Altrichter: Das menschliche Bewusstsein als Ursprung himmlischer und höllischer Phantasmen
- Daniel Beuthner: Ach, wer da mitreisen könnte. Einige Betrachtungen zur Symbolik im Kontext romantischer Reisemotive anhand des Gedichtes „Sehnsucht“ von Joseph von Eichendorff
- Oliver Münsch: Himmelsvorstellungen und Himmelsdarstellungen im frühen Mittelalter
- Peter Dinzelbacher: Allegorische Jenseitswanderungen in Mittelalter und Renaissance
- Walter von Lucadou: Symbolik bei Nahtoderfahrungen und paranormalen Erfahrungen im Umfeld des Sterbens
- Peter Eschweiler: Astralsymbolik in altägyptischen Schöpfungsmythen
- Werner Heinz: Der Sonnengesang des Franziskus von Assisi
- Tagung 2016 in Erfurt: Klang und Kosmos
- Hermann Jung: Klang – Musik – Symbol. Historische und analytische Perspektiven
- Leopoldo Siano: Musik und Weltentstehung
- Werner Heinz: Engelsmusik und „himmlische“ Musikinstrumente und der Freiberger Dom
- Lutz Felbick: „…wer die Astronomie und Musik zugleich verstehet, wird nicht darüber lachen…“ – Zur Rezeption der pythagoreisch-platonischen Philosophie im Umfeld Johann Sebastian Bachs
- Wolfgang-Andreas Schultz: Kunst ohne Kosmos? – Welche Bedeutung haben der Mensch und sein Ich?
- Werner Diederich: Wissenschaftshistorisches zu Keplers Weltharmonik
- Bruno Binggeli: Sphärenmusik vor dem Hintergrund des heutigen physikalischen Weltbilds
- Hartmut Warm: Harmonikale Befunde und Bewegungsstrukturen im Planetensystem
- Tagung 2017 in Erfurt: Zeit und Zeitlosigkeit
- Andreas Mang: Eine kleine Einleitung: Was ist Zeit?
- Werner Heinz: „Denn was ist Zeit?“ Augustinus und der Zeitbegriff in den ‚Confessiones‘
- Wolfgang Bauer: Zeitveränderungsphänomene beim Konsum von Fliegenpilzen und anderen Stimulanzien
- Yvonne S. Schulmeistrat: Zeitkonzepte in den Quellen der nordischen Mythologie
- Leopoldo Siano: ‚Zum Raum wird hier die Zeit‘: Morton Feldman zwischen Musik und Malerei
- Thomas Lorenz: Raum, Zeit und Zahl – Anfänge und Grundlagen der Zeitrechnung Alteuropas
- Hermes A. Kick: Identität – Zeit – Zeitigung. Prozessdynamische Perspektiven
- Buchbesprechungen
- Hinweise zu den Autoren
Martin Weyers
Von Raum und Zeit. Kosmologische Symbolik auf den
Symbolon-Tagungen 2014–2017
Zeit und Zeitlosigkeit (2017)
Hoch über den Köpfen der Passanten und Gastronomie-Gäste auf dem Marktplatz in Neustadt an der Weinstraße erinnert, knapp unter dem barocken Aufsatz am Südturm der ansonsten gotisch geprägten Stiftskirche St. Ägidius, eine Inschrift an das ambivalente Wesen der Zeit. Wer in milder Jahreszeit an einem der begehrten Tische vor den zahlreichen Lokalen Platz gefunden hat, um den weltlichen Spezialitäten der Pfälzer Küche zu huldigen, dessen Sinne werden – wie es in allen historisch gewachsenen europäischen Städten unweigerlich geschehen muss – früher oder später in die Sphäre des Symbolischen hineingezogen. Jeder Kirchturm verkündet im Grunde unausgesprochen die Anbindung des Zeitlichen an das Unvergängliche, und damit dieselbe Erkenntnis, die nirgends überzeugender in Worte gefasst wurde, als in dem hier zitierten Psalm 31:16: „Meine Zeit steht in deinen Händen.“1
Abb. 1: Südturm der Stiftskirche St. Ägidius in Neustadt an der Weinstraße. © Martin Weyers
Nur der Symbolkundige ist sich bewusst, dass er sich neben dem städtebaulichen Raum zugleich in einem geistigen bewegt. Jenes Denken in Sinnbildern, das einst über den Sakralraum hinaus die gesamte Lebenswelt zu okkupieren suchte, wirkt noch heute fort, solange seine Manifestationen in Kunst und Architektur auf Gemüter hoffen dürfen, die fernab des modernen Pragmatismus für die Sprache der Symbole empfänglich geblieben sind. Die Zeit steht nicht nur, indem sie in den „Händen“ des Zeitlosen gründet; vielmehr scheint sie in Zeiten überdauernden Symbolen still zu stehen – still und bewegt zugleich, insofern, als dass sich der dynamische Zeiger um die unbewegte Achse des Uhrwerks dreht, mit der allein er fest verbunden ist. Symbole wirken als verlässliche Bezugspunkte in einer Welt, in der Wandel zur alleinigen Konstante geworden scheint.
Symbole, Mythen und die von solchen Sinnbildern inspirierten Künste leisten die eigentliche Wiederanbindung, die Religion dem lateinischen Worte religio ←14 | 15→nach zu leisten verspricht: Sie weiten den Blick um Unermessliches. In den traditionellen, mythisch-religiös verankerten Kulturen dreht sich das Leben des Einzelnen um ein unveränderliches Eines, wie in dem der analogen Uhr zugrunde liegenden Verhältnis von Rad und Nabe – oder dem zwischen Falke und Turm in Rilkes berühmtem Gedicht:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.2
Der wie unser Planet sein Zentralgestirn das Numinose umkreisende Falke – solche Symbole des Zentrums und der geordneten Bewegung vermitteln Stabilität in einem Kosmos, der uns zuweilen chaotisch, in jedem Fall aber überwältigend vorkommen muss, umso mehr, desto tiefer wir in seine Geheimnisse einzudringen versuchen.
Die kosmologische Thematik der hier zusammengefassten vier Jahrestagungen3 lässt sich auch als ein Versuch begreifen, unser Verhältnis zum Ganzen aus der Sicht des Symbolforschers und vor dem Hintergrund des Wissens unserer Zeit neu zu bestimmen. Was dem religiösen Menschen Gott, der „uralte Turm“ ist, darf aus Sicht der Symbolforschung offenes und nicht näher bestimmbares Geheimnis bleiben. Wollte man, etwa im Sinne einer animistischen Auffassung, näher bestimmen, was die Metapher vom Menschen als Falke, Sturm oder großer Gesang sagen will, brächte man den Dichter um die Kraft seiner Worte. Die Transzendenzerfahrung manifestiert sich in Worten, die sich der wissenschaftlichen Analyse entziehen. Mythen, Metaphern und Symbole sind im selben Maße unverfügbar, in dem sie ein Unaussprechbares anzusprechen versuchen. In ihrer Absolutheit lassen sie sich nicht erfassen, sondern lediglich umkreisen, wie der Falke den Turm.
Bei Symbolon, der gemeinnützigen Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung, bedienen wir uns sämtlicher wissenschaftlicher Disziplinen und pflegen zugleich einen offenen Symbolbegriff; denn allein ein solcher kann der Vielgestaltigkeit und Ambivalenz der Sprache der Symbole gerecht werden. Die unterschiedlichen Fachrichtungen bringen ihre eigenen Definitionen mit, oder ←15 | 16→aber der jeweilige Symbolbegriff ergibt sich aus dem Kontext. In der Praxis allerdings kristallisieren sich Gemeinsamkeiten heraus, die etwa über die Bedeutung von Symbol als einem bloß semiotischen, linguistischen oder rein formalen Zeichen weit hinausgehen, zugleich jedoch spezifischer zu bestimmen sind, als etwa bei Cassirer, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen4 im Grunde eine jede Kulturleistung zum Bestandteil unseres gemeinsamen symbolischen Kosmos erklärt. Verbindend lässt sich zum einen feststellen, dass es sich bei den hier besprochenen Symbolen um visuelle Zeichen oder Zeichensysteme handelt, deren Gehalt sich analytisch beschreiben, jedoch nicht erschöpfend erschließen lässt. Das haben sie mit den Symbolen in Religion und Mythos gemein, ohne dass sie auf diese Bereiche beschränkt wären. Über die weit in die Tiefen der Vergangenheit zurückreichende Verwurzelung im Bereich des Mythisch-Religiösen hinaus findet hier auch etwa die Diskussion von Symbolen des Alltags ihren Platz. Überschlägt man die Beiträge des vorliegenden Bandes, wird zudem deutlich, dass eine weitere Gemeinsamkeit im sinnstiftenden Charakter der besprochenen Symbole besteht, und zwar über individuelle Bedeutsamkeit hinaus: Alle behandelten Symbole erweisen sich als in umfassender, wenn nicht existentieller Weise sinnstiftend oder sinnvermittelnd; sie sind (bzw. waren) – wenn auch nicht erschöpfend, zumindest aber in Grundzügen – kollektiv lesbar und kommunizierbar innerhalb der Gruppe, in der sie Verwendung finden (oder fanden). Ihre individuelle wie kollektive Bedeutsamkeit kann sich dort entwickeln, wo Symbole auf ein größeres sinnhaftes Ganzes verweisen, dessen wir ohne des symbolhaften Verweises womöglich nicht gewahr wären, welches durch das Symbol jedoch Wirksamkeit entfalten kann. Die Beschäftigung mit Symbolen verändert und verfeinert still und unspektakulär unsere Wahrnehmung und lässt uns das Ungewöhnliche im scheinbar Gewöhnlichen entdecken.
Ein ungeahntes Spektrum symbolischer Vergegenwärtigungen von Zeit und deren Absenz konnte sich in unserer Jahrestagung 2017 entfalten, die wie folgt angekündigt wurde:5
Der moderne Mensch ist ein aus der zeitlosen mythischen in die verrinnende historische Zeit Gefallener. In Kunst und Musik suchen wir dem Zugriff der Zeit zu entkommen, aufgehoben in einer Erlebnisblase, die der fragilen Gegenwärtigkeit einen vorübergehenden Schutzraum gewährt. Die Zeit des Mythos ist zeitlose Urzeit, erfahrbar gemacht im mythischen Ritual, aus dem Kunst und Musik hervorgegangen sind, und von dem sie einen Hauch bewahrt haben, bis hinein in unsere mythosvergessene Uhrenzeit.
←16 | 17→In der Alltagserfahrung begegnet uns die Zeit auf mannigfaltige Weise: linear, als kausale Abfolge und auf ein Fernziel gerichtet, das es zu erreichen gilt, oder aber verrinnend und an Vergänglichkeit gemahnend, dem Tod als einem zu vermeidenden entgegeneilend; zuweilen zirkulär, etwa wenn wir im Jahreskreislauf wiederkehrende Feste feiern; träge und in endloser Dehnung begriffen oder flüchtig an uns vorüberrauschend.
In all diesen unterschiedlichen psychischen Erscheinungsformen spiegelt sich das historische Erbe verschiedener Zeitvorstellungen – die sich umgekehrt zugleich einer Reihe disparater Erfahrungsweisen von Zeit verdanken. In den linearen Zeitverläufen sind wir – auf ein utopisches Ziel gerichtet – gemeinsam mit der auf Fortschritt zielenden Wissenschaft Kinder der christlichen Theologie, in den zyklischen Erben vorchristlicher Traditionen.
Erscheint die Welt etwa in den Gemälden der Renaissance zentralperspektivisch aufgefasst wie eine Bühne, der Raum wie ein geometrisch berechenbares Behältnis, in dem sich die Zeitlichkeit des Lebens gleich einem Uhrwerk abspielt, so lassen die Konzepte der modernen Physik die uns angeborenen Kategorien von Raum und Zeit weit hinter sich und entziehen sich daher weitgehend symbolhafter Repräsentation; man denke etwa an die Raumzeit in ihrer Verformbarkeit, versuche, sich die an Stelle eines unbewegten göttlichen Verursachers getretene Singularität – im Sinne eines erkenntnistheoretisch unüberwindbaren Horizontes – vorzustellen, oder aber neuere Theorien, die sich auf Quantenbits beziehen, zu visualisieren.
Bereitete dem Aurelius Augustinus, dem der Kosmos wie eine sich in der Zeit entfaltende göttliche Liedkomposition vorkam, der Gedanke an teleologische Vorherbestimmtheit Kopfschmerzen, so bedeutet die Auffassung von der zukünftigen Zeit als offene Potentialität Ungewissheit und Freiheit zugleich.
Welche Rolle spielen zyklische und lineare Zeitmodelle in der Symbolik? Wie wirken sich unterschiedliche Vorstellungen und Erfahrungen von Zeit auf die Sinnbilder von Kunst, Mythos, Religion und Wissenschaft aus? Und wie kommen diese Sinnbilder unserem Streben nach Sinnhaftigkeit entgegen? Welche Bedeutung haben sie für unser Verhältnis zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur und unseres biologischen Prozessen unterworfenen Daseins? Wie lässt sich Zeitlichkeit außer Kraft setzen, von der halluzinogenen Wirkung des Fliegenpilzes bis zur Kontemplation mittelalterlicher Christusbildnisse? Als Symbolforscher bewegen wir uns zwischen äußerer und innerer Zeit, folgen den Spuren, die unterschiedliche Auffassungen und Erlebnisweisen von Zeit in den bildnerischen Erzeugnissen der Kulturen hinterlassen haben, und diskutieren ihre Relevanz vor dem Hintergrund neuester Erkenntnisse aus Psychologie, Geistes- und Naturwissenschaft.
Die Gestirne (2014)
An diesen Zeilen schreibend und zwischendurch zu dem Turm der Stiftskirche mit dem Psalm 31:16 aufblickend, fühle ich mich mit vierzigtausend Jahren Symbolgeschichte verbunden – vor allem aber mit mehr als sechs Jahrzehnten Symbolforschung, die innerhalb dieses Zeitraums im deutschen Sprachraum maßgeblich durch unseren Verein mitgestaltet wurde. Etwas weiter südlich, in Bühl an der Badischen Weinstraße, war der Symbolforscher Manfred Lurker zuhause, der unsere Gesellschaft bis zu seinem Tode 1990 entscheidend mitgeprägt hat. Lurkers Arbeit scheint mir insofern vorbildlich, als dass dieser Symbolforscher (obgleich ←17 | 18→ein Quereinsteiger in die akademische Welt) als Autor zahlreicher Einzeluntersuchungen, wie auch als Herausgeber von Referenzwerken wie der Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie6 Grundlagenarbeit betrieben hat, seine Bücher zugleich jedoch im deutschen Sprachraum einen entscheidenden Beitrag zur Popularisierung der Symbolforschung auf wissenschaftlicher Grundlage geleistet haben. Gleiches lässt sich von Autoren wie etwa Wolfgang Bauer, Otto Betz, Brigitte Romankiewicz oder dem leider 2017 verstorbenen Günter Dietz sagen, die wie Lurker als aktive Mitglieder immer wieder auch als Symbolon-Referenten und -Autoren in Erscheinung getreten sind. Seit ihrer Gründung im Jahre 1955 und dem ersten, 1960 erschienenen Symbolon-Band leistet unsere Gesellschaft einen kontinuierlichen Beitrag, um den Blick vom Offensichtlichen auf das Verborgene zu lenken und Bedeutungsvolles gleichermaßen im Alltag wie in den Abgründen der Geschichte aufzudecken. Wissenschaftliche Analyse und künstlerisches Spiel sind die beiden komplementären Triebfedern einer jeden umfassenderen Anstrengung, jenen Geist lebendig zu halten, der, oftmals nur noch historisch aufspürbar, von Ferne herüberweht. Das zu einem hochmodernen Tagungszentrum erweiterte Augustinerkloster Erfurt ist uns in den letzten Jahren selbst zu einem Symbol für jene Brücken geworden, die wir als Symbolforscher zwischen Zeitgeist und Geschichtlichkeit zu bauen trachten.
Abb. 2: Traditionsreicher Tagungsort: Das Augustinerkloster Erfurt. © Martin Weyers
An diesem historisch bedeutsamen Ort vollendeten wir im Frühjahr 2017 mit Zeit und Zeitlosigkeit unseren gleichsam „kosmologischen“ Zyklus, der vier Jahre zuvor mit Die Gestirne im Essener Kardinal-Hengsbach-Haus begonnen hatte – der ersten unter dem 2013 neu gewählten Vorstand geplanten Jahrestagung. Das Jahr 2013 stellt somit nicht nur thematisch, sondern auch hinsichtlich der Vorstandsarbeit und des Charakters unserer Jahrestagungen eine Zäsur dar, drückt doch jede gestaltende Hand ihrem Werk unwillkürlich ihren Stempel auf. Nachdem auf der Mitgliederversammlung 2013 mit Hermann Jung und Bärbel Beinhauer-Köhler gleich erster und zweiter Vorsitzender erklärt hatten, für ein Vorstandsamt nicht länger zu Verfügung zu stehen, musste sich dieser grundlegend neu formieren. Werner Heinz und ich wurden zum zweiten bzw. ersten Vorsitzenden gewählt; für Kontinuität sorgte Axel Voss als Schriftführer und dritter Vorsitzender. Hermann Jung, der bis heute unserer Gesellschaft eng verbunden ist und bei Bedarf beratend zur Seite steht, erklärte sich freundlicherweise bereit, die Herausgabe der Symbolon-Bände weiterhin zu betreuen, solange noch Veröffentlichungen ausstehen, die aus den von ihm geplanten Tagungen hervorgegangen sind. Dieses Werk war bereits mit dem vorangegangenen Band Nr. 20 vollbracht, der zusätzlich auch die Beiträge zur Tagung 2014 Die Gestirne enthält. Der Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle auch der Ankündigungstext unserer ersten, vom neuen Vorstand durchgeführten Tagung wiedergegeben, mit der damals unser „kosmologischer Zyklus“ eröffnet wurde:
So fern und doch so nah: Indem wir nach den Sternen greifen, greifen wir nach dem Un(be-)greifbaren. Gestirne gelten als Symbol für Transzendenz und kosmische Ordnung, vom Alten Reich der Ägypter, die den Untergang des Sonnengottes und der Gestirne, dem Lauf der Sonne folgend, an den Himmelsrichtungen festmachten, über den römischen Sol Invictus bis zu den Sphärenharmonien und der Vorstellung vom Menschen als Mikrokosmos. Wie haben sich frühere Kulturen, Philosophen, Dichter und Künstler symbolisch mit den Sternen verbunden – und welche Perspektiven ergeben sich daraus für unsere heutige Zeit, die das nächtliche Funkeln als ferne Signale kosmischer Kernfusionen zu begreifen versucht?
Neben gesicherten Erkenntnissen bilden unsere Symposien einen geeigneten Rahmen, um unkonventionelle Thesen vorzustellen und durch Präsentation vor einem Expertenpublikum auf den Prüfstand zu stellen. Hier waren es vor allem die philosophischen Überlegungen von Jochen Kirchhoff zu dem gleichermaßen naturwissenschaftlich wie mystisch geprägten Weltbild von Giordano Bruno, sowie die von Axel Voss vorgestellten Analogien zwischen Dantes Kosmologie und dem Weltbild der modernen Astronomie, wie sie von Bruno Binggeli aufgezeigt wurden, die Gelegenheit boten, eingefahrene Vorstellungen durch neue Denkmöglichkeiten durchlässig werden zu lassen. Auch der Beitrag von Ralf Piolot geht über (in diesem Fall kunsthistorisch) Gesichertes hinaus, indem er in einem der berühmtesten Gemälde der europäischen ←19 | 20→Kunstgeschichte das mariensymbolische Sternzeichen Virgo aufspürt – die Entschlüsselung einer verdeckten Symbolik, die bislang übersehen wurde, und eine, im wahrsten Sinne des Wortes, kunsthistorische Sternstunde! Ganz gleich, ob nun neue Entdeckungen präsentiert werden oder durch eine neuartige Sichtweise Altbekanntes in neuem Licht erstrahlt – als wissenschaftliche Forschungsgesellschaft ist es uns ein Anliegen, auf sämtliche Beiträge – insbesondere sofern diese Aufnahme in unsere Symbolon-Bände finden sollen – die Messinstrumente akademisch-wissenschaftlicher Qualitätskriterien anzuwenden, auch wenn wir dabei, der Natur unseres Forschungsgegenstandes geschuldet, transparent für die Erfordernisse wissenschaftlicher Grenzgebiete bleiben. Unterstützt werden wir dabei durch die hervorragende Arbeit des Peter-Lang-Verlags, dem an dieser Stelle für die mittlerweile langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit gedankt sei.
Mit dem nun vorliegenden Band Nr. 21 schließt sich somit der Kreis kosmologischer Themenstellungen. Nachdem Hermann Jung mit dem 2017 erschienenen Symbolon-Band Nr. 20 seine Herausgeberschaft beendet hatte, galt es, einen Nachfolger zu bestimmen, mit dem gleichbleibende Qualität gewährleistet werden kann. Herausgegeben werden die Symbolon-Bände satzungsgemäß vom Vorstand, der jedoch eine Einzelperson entsprechend autorisieren kann. Da nun mit Werner Heinz ein vielerfahrener Autor und Herausgeber als Vorstandsmitglied zur Verfügung stand, der zudem auf eine langjährige enge Zusammenarbeit mit dem Peter-Lang-Verlag zurückblicken kann, lag es nahe, für die folgenden Tagungspublikationen, wie sie nun hier im Band Nr. 21 vorliegen, dem zweiten Vorsitzenden diese verantwortungsvolle Arbeit anzuvertrauen. Seither teilen wir uns erfolgreich die Arbeit, die zuvor über lange Jahre hinweg in ein und derselben bewährten Hand gelegen hatte: Während ich für die Programmplanung verantwortlich zeichne, betreut Werner Heinz die Transformation der Vorträge in eine druckreife Form – eine Zusammenarbeit, die sich nun seit mittlerweile mehr als fünf Jahren bewährt hat. Jeder Vorsitzende formt mit der eigenen Persönlichkeit auch den Charakter der Tagungen. Von vornherein war es mir wichtig, neben im akademischen Betrieb etablierten Kräften auch solche zur Geltung kommen zu lassen, die sich im Grenzbereich der Wissenschaftlichkeit bewegen – ohne diese dabei gänzlich aus den Augen zu verlieren. Als Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung verstehen wir uns als ein Forum für seriöse Forschung, wissen aber auch um die Grenzen der damit einhergehenden Methodik. Bei der Beschäftigung mit Symbolen ist dem faktisch-historischen Aspekt stets ein psychologischer und künstlerischer gegenübergestellt. Daher liegt es nahe, neben dem äußeren Raum stets auch den inneren mitzudenken und mit geeigneten Mitteln zu erkunden.
←20 | 21→Himmelsreisen und Höllenfahrten (2015)
Im Spannungsfeld des Prinzips der Polarität, das seit 2015 bislang bei allen Jahrestagungen bereits im Tagungstitel aufgezeigt wird, nur um ein möglichst breites und ambivalentes Feld thematischer Möglichkeiten abzustecken und zugleich die Gegensätze überwindende Eigentümlichkeit symbolischer Bezüge hervorzuheben, bewegen wir uns über die dem rationalen Geist unüberwindbar erscheinende Kluft hinweg, die sich zwischen innerer und äußerer Welt, Subjekt und Objekt auftut. In der Sprache der Symbole kann nicht nur die Subjekt-Objekt-Spaltung, sondern mit ihr der Abgrund zwischen vertrauter Sinnes- und Verstandeswelt und dem ganz Anderen der Transzendenz als überwunden gelten, ganz gleich, ob letzteres im gestirnten Himmel über uns, oder im Dunkel unterirdischer Welten verortet wird. Schließlich eignen sich beide Welten – die von Himmel und Unterwelt – gleichermaßen als Projektionsfläche, wobei sich durch die Verschiedenheit der mit ihnen verbundenen Assoziationen unterschiedlich gefärbte Mythologien entfalten. Als eines der Leitmotive unseres kosmologischen Themenzyklus lässt sich daher die Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt festmachen, die auch in dem Ankündigungstext zur Jahrestagung 2015 zum Ausdruck kommt:
Seit Galileo Galilei im Jahre 1606 sein Teleskop auf die Milchstraße richtete und erkannte, dass diese aus Sternen gepflastert ist, sind manche Mythen um die symbolhafte Verbindung von Himmel, Erde und Totenreich verblasst; zugleich hat sich unser Blick in die Tiefen des Kosmos um ein Ausmaß erweitert, das jede Vorstellungskraft sprengt. Der Blick zu den Sternen war immer auch ein Blick nach innen. Sei es nun, dass wir mit Novalis oder der Identitätsphilosophie Schellings bis zu Carl Friedrich von Weizsäcker die Grenzen zwischen „äußerer“ (raumzeitlicher) und „innerer“ (psychischer) Wirklichkeit als künstlich erachten, sei es, dass wir im funkelnden Nachthimmel bloß eine Projektionsfläche für unsere eigenen psychischen Untiefen zu erkennen glauben.
Die Imaginationskraft des Menschen entzündet sich gleichsam am Aufscheinen der Gestirne – so lautete unser Tagungsthema 2014, an das wir nun mit Himmelsreisen und Höllenfahrten anknüpfen. Und so verwandelt sich die äußere Betrachtung, gleich einem Vexierbild, bald in eine innere, der Himmelskörper transformiert von einem physikalischen Objekt in ein symbolisches.
Wie unser eigenes Zentralgestirn in unterschiedlichen Kulturen als Ursprung von Licht und Wärme – und damit auch von Leben und Geist – gefeiert, das physikalische Prinzip somit zu einem symbolisch-religiösen überhöht wird, erfahren wir anhand von drei Beispielen am Sonntagvormittag.
Zuvor jedoch ergründen wir, nach einem inneren und äußeren Kosmos verbindenden Eröffnungsvortrag, im Laufe des Samstags die romantische Sehnsucht nach Wiederherstellung der Einheit von physikalischem und metaphysischem Himmel, folgen den Malern, Dichtern und Visionären des Mittelalters auf ihren Himmels- und Jenseitsreisen und versuchen Parallelen zu den erst heute wissenschaftlich ergründeten Nahtoderfahrungen aufzudecken, um uns gegen Abend mit C.G. Jung auf eine filmische Nachtmeerfahrt zu begeben.
←21 | 22→So wie die Himmelsleiter in Jakobs Traum eine Überwindung der ontologischen Trennung im Sündenfall der Genesis verhieß und jeder Regenbogen in seiner flüchtigen Präsenz auch unsere metaphysischen Sehnsüchte in vielfarbigem Licht erstrahlen lässt, kann symbolische Wahrnehmung auch die Milchstraße wieder in einen Weg zu uns selbst verwandeln. Isoliert betrachtet, verlieren Symbole alsbald ihre Ausstrahlungskraft; in ihrer poetischen Bindungskraft jedoch erwachen sie unvermittelt zu neuem Leben. Lassen wir auch dieses Jahr wieder die Sterne in ihrem ursprünglichen symbolischen Glanz erstrahlen!
Abb. 3: „Himmelsreisen und Höllenfahrten“: Wie eine alltagssymbolische Vergegenwärtigung unseres Tagungsthemas wirkt die hier im Anschluss an eine unserer Tagungen eingefangene Szenerie auf dem Erfurter Marktplatz. © Martin Weyers
Klang und Kosmos (2016)
Zwischen der feinsinnigen Wahrnehmung durch Symbole und der Subtilität des Geigenspiels besteht eine weitreichende Analogie: beide offenbaren sich nur dem geschulten Geist, und beide sind auf ein handwerklich perfekt gearbeitetes und wohlgestimmtes Instrument angewiesen. Ein Geigenbauer erkennt bereits an den Bäumen, welchem Holz musikalisches Talent potenziell innewohnt. Jedes Instrument ist eine Persönlichkeit, deren Eigenarten sich klanglich manifestieren ←22 | 23→und auf diese Weise subtile Nuancierungen ermöglichen. Jede Stradivari trägt, als vollendet in Form gebrachter Klangkörper, einen Eigennamen. Der Geiger Hans-Peter Zimmermann musste 2015 schmerzlich erfahren, dass der Verlust seines Instruments – einer geliehenen, da selbst für einen Künstler von Weltruf kaum erschwinglichen Stradivari – einer Amputation gleichkommt: „Die Geige kann so etwas wie ein eigener Körperteil werden.“7 Nachdem Zimmermann seine geborgte Lady Inchiquin abgeben musste, brannte in dem Musiker in der Folge ein „Phantomschmerz“.8 Die kostbaren Instrumente werden herausragenden Musikern leihweise zur Verfügung gestellt – oder landen in Tresoren, wo sie verkümmern und ihren Klang einbüßen; denn, wie Zimmermann im Gespräch mit einem Journalisten erläutert: Ein solches Instrument muss regelmäßig gespielt werden, dauerhaft in Vitrinen aufbewahrte Geigen hingegen sind klanglich tot.9 Dasselbe gilt für Symbole. In Enzyklopädien kanonisiert, ereilt sie ein Schicksal, das dem der musealisierten Streichinstrumente gleicht; sie wollen gespielt werden. Daher vollzieht sich auch die Arbeit von Symbolon im Zusammenspiel zwischen lebendiger Kommunikation auf unseren Symposien, und dauerhaft fixierter, gleichwohl zu erneuter Auseinandersetzung einladender Quintessenz, die in Form unserer Tagungsbände vollzogen wird, ein Prozess, in dem wir uns immer wieder neu erfinden. Anstelle einer enzyklopädischen Vorgehensweise, bei der ein Symbol oder Symbolkreis nach dem anderen mehr oder minder isoliert voneinander abgehandelt wird, eröffnet sich unter einem Titel wie dem unserer 55. Jahrestagung die Möglichkeit, scheinbar Bekanntes in neuem Licht – oder besser: in neuem Klang – zu erleben.
Der amerikanische Komponist John Adams hatte Mitte der 1980er Jahre einen Traum, der ihn zum dritten Satz (Meister Eckhardt and Quackie) seiner Harmonielehre inspirieren sollte, einem symphonischen Werk, dessen Titel doppeldeutig auf (insbesondere Schönbergs) Musiktheorie verweist, zugleich jedoch auf einen Gleichklang von Mensch und Kosmos und somit auf eine spirituelle Dimension abzielt. Im Traum erblickte der Komponist seine vierzehn Monate alte, auf den Kosenamen Quackie hörende Tochter, auf der Schulter von Meister Eckhart sitzend, erschaute, wie beide an Himmelskörpern vorbeigleiten, während das Kind dem Mystiker die Geheimnisse der Anmut (grace) ins Ohr flüstert. In den solchermaßen symbolisch aufgeladenen wagnerianischen Klängen wird die Idee einer übergreifenden kosmischen Ordnung sinnlich erfahrbar. Die Harmonie der Sphären – für viele bloß ←23 | 24→das spekulative Konstrukt einer überholten Weltsicht – ist in den Träumen der Künstler gegenwärtig!
Der Symbolforscher erkennt im Künstlertraum unschwer eine Reihe vertrauter Motive, die sich um die Beziehung von Klang und Kosmos ranken: Die sich gleichermaßen im Lauf der Gestirne als auch im musikalischen Wohlklang manifestierende göttliche Ordnung (Sphärenharmonie), die Durchdringung des kosmischen Raums als Projektion einer erweiterten psychischen Wahrnehmung (verkörpert durch den spätmittelalterlichen Mystiker), die Externalisierung spontaner Eingebung in Form von Inspiration durch Genius oder Muse (aus der im christlichen Kontext der – oftmals musizierend dargestellte und somit wiederum auf die himmlischen Harmonien verweisende – Engel wird).
Klang und Musik scheinen sich, als akustische Phänomene, ihrer Natur nach zunächst der bildlichen Darstellung zu entziehen. Dem menschlichen Leben scheinbar weiter entrückt als die darstellenden, bildenden und erzählenden Künste, vermögen uns zu Musik verwobene Klänge gleichwohl zutiefst zu berühren. Im Spannungsfeld musikalischen Ausdrucks verwandeln sich mathematische Verhältnisse in sinnliche Erfahrung, erfährt das nüchterne Zahlenspiel die Epiphanie höchster Empfindung. In den hörend erfahrenen Weltharmonien verschmelzen Innerlichkeit und Objektivierung, Innerstes und Äußerstes.
Die Symbolik von Klang und Musik lässt sich nicht zuletzt durch Vorführungen am Flügel vermitteln: Unsere dritte Jahrestagung in Folge zum Oberthema Gestirne beleuchtet Klang und Kosmos daher nicht nur in Form wissenschaftlicher Vorträge aus unterschiedlichsten Fachrichtungen, sondern bietet zugleich Gelegenheit, intellektuell Erkanntes hörend zu erkunden und zu verinnerlichen.
Bei dieser Tagung erwies es sich als Glückfall, dass sich unter den Referenten gleich eine Reihe von ausgezeichneten Musikern befand, die uns ermöglichten, das Tagungsthema nicht lediglich in Worten anzusprechen, sondern förmlich erklingen zu lassen. Mit Wolfgang-Andreas Schultz hatten wir einen der interessantesten zeitgenössischen Komponisten zu Gast, der als Hochschullehrer auch über didaktische Qualitäten verfügt. Schultz vermittelte uns am Rednerpult Einblicke in Bachs Kompositionsverfahren, und ließ am Steinway-Flügel anhand des Werkes Transfiguration (2006) seine eigene Kompositionstechnik nachvollziehbar werden. In der harmonischen Entwicklung dieses knapp zehnminütigen Orchesterstückes spiegelt sich symbolisch ein integraler Heilungsprozess – auch hier ein Leben in wachsenden Ringen, durch Einbeziehung fragmenthafter Wirklichkeitserfahrung im Sinne einer auf Ganzheit gerichteten (Klang-)Symbolik. Solche Momente sind keinesfalls bloß als Denkpausen zum Zwecke der Auflockerung eines eng gestrickten Vortragsprogramms zu bewerten, vielmehr bereichern sie den Erlebnis- und Erkenntnisgewinn, der sich aus einem entsprechend konzipierten Tagungsprogramm erzielen lässt, um jenen Bereich, der sich allein durch sinnliche Erfahrung vermittelt. Durch die Beschränkungen des geschriebenen Wortes, aber auch entlang der Grenzen der einzelnen Fachdisziplinen, bilden sich oftmals blinde Flecken, die sich durch den fächerübergreifenden Dialog bei Symbolon mit Wissen und lebendiger Anschauung (oder Anhörung) füllen ←24 | 25→lassen. So stellte auch Werner Heinz in seinem Beitrag über Engelsmusik mittels Einspielungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Musik eine Verbindung zwischen den Künsten her, deren Möglichkeiten in einseitig kunsthistorisch aufgearbeiteten Analysen viel zu oft ungenutzt bleiben. Es liegt auf der Hand, dass sich solche Aspekte nur auf der Tagung, nicht jedoch durch die nachfolgende Publikation vermitteln lassen. Dasselbe muss erst recht für die Improvisationen von Lutz Felbick zu den von Hartmut Warm entwickelten Visualisierungen der Bewegungen von Gestirnen gelten. Auch die von Axel Voss als Sprecher gemeinsam mit der Weimarer Pianistin Cora Irsen aufgeführte konzertante Lesung von Dantes Divina Commedia vermochte das Tagungserlebnis um eine in Worten nicht fassbare Dimension zu erweitern.10
Die wechselseitigen Inspirationen, die sich auf unseren Tagungen im Dialog der Wissenschaften, insbesondere aber auf persönlicher – und gelegentlich künstlerischer – Ebene ergeben, lassen sich naturgemäß nicht in die nüchterne Form der Tagungsbände transportieren. Ein Symposium ist definitionsgemäß mehr als die Summe der präsentierten Vorträge. Anders als etwa bei der systematischen Zusammenstellung einer Anthologie folgen die Vortragsthemen unserer Jahrestagungen einer eigenen Dramaturgie – um nicht zu sagen: einem anderen Eros –, wobei dem gesprochenen Wort und der persönlichen Begegnung eine Schlüsselrolle zukommen. Durch paarweise Gegenüberstellung divergenter Themen und Ansätze ergeben sich im Dialog zudem gelegentlich (und durchaus beabsichtigt) überraschende Zusammenhänge, die über den einzelnen Beitrag hinausgehen, zum Beispiel auf der Tagung 2015 durch die Verbindung von mittelalterlichen Jenseitsvorstellungen (Peter Dinzelbacher) und Symbolik der Nahtoderfahrungen (Walter von Lucadou), oder 2017 durch die Untersuchung der Zeitlichkeit mittelalterlicher Christusbildnisse (nicht in Druckfassung vorliegend) im Anschluss an eine Darstellung der veränderten Zeiterfahrung unter Einwirkung des Fliegenpilzes (Wolfgang Bauer). Bei der Planung der vier um Symbole von Raum und Zeit kreisenden Tagungen, von denen also nun die noch ausstehenden drei in den aktuellen Band Eingang gefunden haben, habe ich mich weniger von systematischen Erwägungen leiten lassen, sondern vielmehr der Eigendynamik der Symbole anvertraut, die sich entwickeln kann, wo immer man ihnen Raum zur Entfaltung gewährt. Da sich Symbole und Mythen niemals erschöpfend behandeln lassen, empfiehlt sich eine die jeweiligen Sujets mehr umkreisende als enzyklopädisch abarbeitende Herangehensweise. Unter dem sich kontinuierlich ←25 | 26→wandelnden Tagungsthema mit seinen Kontextverschiebungen lassen sich den wiederholt aufgegriffenen Symbolen jeweils unterschiedliche Aspekte abringen. Der Erkenntnisprozess gleicht daher insgesamt eher einer schraubenförmig kreisenden und sich dabei kaum merklich nach oben entwickelnden Bewegung, als dem linearen Prozess, der dem vom Fortschrittsgedanken geprägten traditionellen Wissenschaftsverständnis idealhaft innewohnt. Nach und nach enthüllt sich so, Schicht um Schicht, die Tiefendimension symbolischer Sinnebenen, ohne dass ein Ende jemals absehbar wäre.
Abb. 4: Nibelungenmuseum, Worms, am Ende einer langen Tagung: Wiederauftauchen der Symbolforscher aus der „Unterwelt“ des sogenannten „Mythenlabors“ – seit 2016 Heimat des neu eingeführten Symbolon-Symbolforscherkreises. © Martin Weyers
Am Ende unseres kosmologischen Zyklus stand ein Thema von höchster gesellschaftlicher Aktualität, nämlich die von Hermes A. Kick untersuchte Frage nach der Funktion von Symbolen für die im Hinblick auf Persönlichkeitsentwicklung unabdingliche Identitätsbildung. So endete auch der mit unseren Jahrestagungen 2014 bis 2017 vollzogene Zyklus – von den Gestirnen zurück in der Lebenswelt – mit persönlich wie gesellschaftlich höchst relevanten Einsichten in die sinn- und identitätsstiftende Kraft der Symbole, eine kulturelle Leistung, die in krisenhaften Zeiten umso bedeutsamer erscheinen muss. Hier, in druckwürdige Form gebracht, mögen die Ergebnisse unserer weit über Tagesaktualität ←26 | 27→hinausreichenden Forschungstätigkeit in die Gesellschaft zurückwirken, aus deren fast vergessenen kulturellen Wurzeln sie hervorgegangen sind. In den zu neuem Leben erweckten überlieferten Symbolen, genauso wie in spontanen Symbolschöpfungen (etwa in der Kunst), die ihrerseits wiederum einen historischen Entwicklungsprozess durchlaufen können, sucht unser Bewusstsein gerade in krisenhaften Zeiten Halt und Orientierung in Bildern, die momenthafte Erfahrungen in einen übergeordneten Zusammenhang einordnen helfen. Nachdem die herkömmliche Religion ihre gesellschaftsformende Kraft eingebüßt hat – der Kirchturm nicht länger den Takt des Lebens bestimmt –, gilt es, die sinnstiftende Kraft der symbolischen Wahrnehmung unter den Vorzeichen einer wissenschaftlich geprägten Lebenswelt auf unserer Zeit gemäße Weise in Anspruch zu nehmen. Der Komplexität der Lebensvorgänge wird die Wahrnehmung durch Symbole wie keine andere gerecht, nicht in Form eines für alle Zeiten fixierten und damit vom unaufhörlichen Wandel abgespaltenen Vokabulars, sondern im Sinne einer gleichfalls unaufhörlichen symbolschöpferischen Tätigkeit. Unser Bewusstsein orientiert sich an auf solche Weise geschaffenen Sinnbildern, nur um von dort, zurückgebunden an seinen Ursprung, umso kühnere Sprünge wagen zu können. Folgen wir ihm dabei auf den kommenden Seiten!
Literatur
Büning, Eleonore: „Eine goldene Stradivari hören Sie sofort“. Interview mit Frank Peter Zimmermann. 21.01.2016. https://www.faz.net/-gs3-8clre (abgerufen am 17.01.2019).
Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bände, Berlin 1923–1929.
Goertz, Wolfram: „Frau General lässt bitten“. In: DIE ZEIT, Nr. 4/2016, vom 21. Januar 2016.
Hagmann, Peter: „Muss es um jeden Preis eine Stradivari sein?“. Interview mit Frank Peter Zimmermann. 15.5.2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/musik/der-geiger-frank-peter-zimmermann-im-gespraech-general-dupont-und-die-lady-aus-irland-ld.82531 (abgerufen am 17.01.2019).
Lurker, Manfred (Hrsg.), Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie: internationales Referateorgan [BSIM] / begr. von Manfred Lurker. (Bd. 1–9 hrsg. von Manfred Lurker; Bd. 10–13 hrsg. von Manfred Lurker und Helmut Schneider; Bd. 14 hrsg. von Werner Bies und Helmut Schneider; ab Bd. 15 hrsg. von Werner Bies und Hermann Jung.) 1968ff.
Rilke, Rainer Maria: „Das Stundenbuch“. In: ders., Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Band 1, herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Frankfurt am Main und Leipzig 1996.
←27 | 28→1 Nach der Luther-Bibel; die Einheits-Übersetzung hingegen spricht von „Geschick“. Beides geht aus dem sich auf die Lebensperiode beziehenden hebräischen Urtext hervor. Für letzteren Hinweis danke ich Werner Heinz.
Details
- Seiten
- 558
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631816790
- ISBN (ePUB)
- 9783631816806
- ISBN (MOBI)
- 9783631816813
- ISBN (Hardcover)
- 9783631806623
- DOI
- 10.3726/b16739
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (Februar)
- Schlagworte
- Zeit Archäoastronomie Harmonie der Sphären Nahtod Schöpfungsmythen
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 558 S., 55 farb. Abb., 79 s/w Abb., 3 Tab.