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Simpliciana XLI (2019)

von Peter Heßelmann (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 504 Seiten
Reihe: Simpliciana, Band 41

Zusammenfassung

Der XLI. Jahrgang der Simpliciana enthält die Vorträge, die während der Tagung der Grimmelshausen-Gesellschaft zum Thema „Politik im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ Ende Juni 2019 in Oberkirch und Renchen gehalten wurden. Zusätzlich werden zwei Beiträge veröffentlicht, die sich dem Werk Grimmelshausens aus verschiedenen Perspektiven nähern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Front Matter
  • Titelseite
  • Impressum
  • Inhaltsverzeichnis
  • Beiträge der Tagung „Politik im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“
  • Grimmelshausens Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status
  • Tranquillitas reipublicae und Conservatio status. Zwei Grundbegriffe des politischen Denkens im 17. Jahrhundert
  • Die andere Staatsräson: Individuelle und kollektive Statusmaximierung in der soziokulturellen Pamphletistik des 17. Jahrhunderts
  • Grimmelshausen und die Gaisbacher Policey-Ordnung (1651)
  • „Den Politicis nützlich zu lesen“. Grimmelshausens Historie vom Aufstieg Frankreichs zur europäischen Großmacht
  • Im Konflikt mit der guten Policey. Soldaten und Landstreicher bei Grimmelshausen
  • Okkasion und Strategem. Zu Zeit und Modus politischer Entscheidung im Simplicissimus Teutsch
  • Mare mediterraneum, Osmanisches Reich und das Nebeneinander von Unrechtssphären und Rechtsordnungen in Grimmelshausens Continuatio
  • Skeptische Anthropologie. Grimmelshausens Kreuzinsel und die Politsatire von der Isle of Pines
  • Merkantilistische Judenpolitik und das Motiv des „Geldjuden“ in Grimmelshausens Rathstübel Plutonis und Vogel-Nest II
  • U-Topik. Rhetorik des Politischen bei Morus und Grimmelshausen
  • Simulatio / Dissimulatio auf Kathedra und Bühne der Straßburger Akademie – Matthias Bernegger und Caspar Brülow
  • Wie wirken Emblematik und „Politic“ zusammen? Daniel Meisners und Eberhard Kiesers Thesaurus Philopoliticus oder Politisches Schatzkästlein (1623–1631)
  • Politische Porträtlyrik im Dreißigjährigen Krieg. Zum Elegienzyklus Pictura loquens (1632) des pfälzischen Dichters und späteren Zweibrücker Hofrats Balthasar Venator (1594–1664)
  • Ausgebliebene Effektivität. Zu politischen Gedichten Weckherlins, besonders auf Gustav II. Adolf
  • Johann Balthasar Schupps Salomo oder Regenten-Spiegel (1657) zwischen biblischer Orientierung und lebensweltlicher Erfahrung
  • Weitere Beiträge
  • Humoristisch, homo- und intersexuell. Grimmelshausens queerer Simplicissimus Teutsch und seine Verfilmung (1975)
  • Simplicissimus-Illustrationen von Bernhard Scholz
  • Simpliciana Minora
  • „Mummeln“, „murren, murmeln“, „Mümmelchen“. Wilhelm Jensen über den Mummelsee und Grimmelshausen
  • Verborgene Texte im Europäischen Wundergeschichten Calender
  • Grimmelshausen-Preis 2019 für Dörte Hansen
  • Regionales
  • Der Bauernhof des Simplicissimus in der Wilden Rench
  • Grimmelshausen-Gesprächsrunde in Oberkirch-Gaisbach
  • Veranstaltungen in Renchen 2019
  • Rezensionen und Hinweise auf Bücher
  • Wolfgang Martin: H. J. Chr. v. Grimmelshausens Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ – Geschichte seiner Deutung, Struktur und Gehalt. (Hinweis der Redaktion)
  • Jasmin Azazmah: Poetologische Reflexionen in satirischen Romanen des 17. Jahrhunderts, 1615–1696/97. (Hinweis der Redaktion)
  • Simon Zeisberg: Das Handeln des Anderen. Pikarischer Roman und Ökonomie im 17. Jahrhundert. (Jost Eickmeyer)
  • Andreas Bässler: Kuckuckskinder und Bastardtexte. Muster der illegitimen Reproduktion im deutschsprachigen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. (Matthias Bauer)
  • Aus den Jahren der Pfälzischen Katastrophe. Julius Wilhelm Zincgrefs Briefe (1613–1626) an den Basler Professor Ludwig Lucius. Mit weiteren Briefen, Gedichten und den Thesen von Zincgrefs Basler juristischen Disputation (1613). Hrsg., übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Wilhelm Kühlmann und Karl Wilhelm Beichert. (Michael Schilling)
  • Hans Medick: Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt. (Torsten Menkhaus)
  • Holger Böning: Dreißigjähriger Krieg und Öffentlichkeit. Zeitungsberichte als Rohfassung der Geschichtsschreibung. (Frank Stückemann)
  • Projektierte Himmel. Hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. (Ortwin Lämke)
  • Medienphantasie und Medienreflexion in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Jörg Jochen Berns. Hrsg. von Thomas Rahn und Hole Rößler. (Ortwin Lämke)
  • Matthias Emil Ilg: Constantia et Fortitudo. Der Kult des kapuzinischen Blutzeugen Fidelis von Sigmaringen zwischen „Pietas Austriaca“ und „Ecclesia Triumphans“. Die Verehrungsgeschichte des Protomärtyrers der Gegenreformation des Kapuzinerordens und der „Congregatio de propaganda fide“ 1622–1729. (Dieter Breuer)
  • Mitteilungen
  • In memoriam Prof. Dr. phil. Rolf Tarot
  • Bericht über die Tagung „Politik im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 27.–29. Juni 2019 in Oberkirch und Renchen
  • Protokoll der Mitgliederversammlung der Grimmelshausen-Gesellschaft am 29. Juni 2019 in Oberkirch
  • Einladung zur Tagung „Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 25.–27. Juni 2020 in Münster
  • Ankündigung der Tagung „Satirisches Schreiben bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 17.–19. Juni 2021 in Gelnhausen
  • Anhang
  • Beiträger Simpliciana XLI (2019)
  • Simpliciana und Beihefte zu Simpliciana. Richtlinien für die Druckeinrichtung der Beiträge
  • Bezug alter Jahrgänge der Simpliciana
  • Grimmelshausen-Gesellschaft e. V.
  • Beitrittserklärung

Editorial

Der XLI. Jahrgang der Simpliciana enthält die Vorträge, die während der Tagung der Grimmelshausen-Gesellschaft zum Thema „Politik im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ Ende Juni 2019 in Oberkirch und Renchen gehalten wurden. Zusätzlich werden zwei Beiträge veröffentlicht, die sich dem Werk Grimmelshausens aus verschiedenen Perspektiven nähern.

Wie immer ein kurzer Blick voraus: Die nächste Tagung der Grimmelshausen-Gesellschaft soll sich mit „Dispositionsformen und Ordnungsvorstellungen bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ auseinandersetzen. Sie wird vom 25. bis zum 27. Juni 2020 in Münster stattfinden. Die Einladung und das Tagungsprogramm sind in diesem Jahrbuch in der Rubrik „Mitteilungen“ abgedruckt. Ich hoffe auf zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die im nächsten Jahr den Weg in die westfälische Metropole finden werden.

Vom 17. bis zum 19. Juni 2021 werden sich Interessierte in Gelnhausen zu einer Tagung treffen, die „Satirisches Schreiben bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ ins Zentrum der Diskussion stellen wird. Vortragsangebote nehme ich bereits gern entgegen.

In tiefer Betroffenheit habe ich mitzuteilen, dass Rolf Tarot am 19. November 2019 im 89. Lebensjahr verstorben ist. Er gehörte 1977 zu den Gründern der Grimmelshausen-Gesellschaft, war von 1986 bis 1998 ihr Präsident und danach Ehrenpräsident. Erinnert sei hier nur an die von ihm unter Mitarbeit von Wolfgang Bender und Franz Günter Sieveke von 1967 bis 1976 herausgegebene Grimmelshausen-Ausgabe und an seine wegweisenden Beiträge zur Grimmelshausen-Forschung. Für seine immensen Verdienste gebührt ihm der Dank der Grimmelshausen-Gesellschaft. Ein Nachruf auf Rolf Tarot befindet sich in diesem Jahrbuch.

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MICHAEL STOLLEIS (Frankfurt a. M.)

Grimmelshausens Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status

I.

Unter den kleineren Werken Grimmelshausens findet sich der Traktat Simplicianischer Zweyköpffiger RATIO STATUS, Nürnberg (Felßecker) 1670, 82 Seiten quart. Er nennt Grimmelshausens Namen einschließlich der Herkunft aus Gelnhausen. Da sich Grimmelshausen und der Empfänger der Widmung gut kannten,1 bedurfte es auch keines Versteckspiels mit Pseudonymen mehr.2 Das Titelkupfer von 1670 ist öfter beschrieben worden;3 Volker Meid hat es an den Anfang seiner 2011 erschienenen Monographie über Grimmelshausen gesetzt.4

Es zeigt den Zweyköpffigen Ratio Status (Abb. 1). Ein zweiköpfiger Herrscher sitzt auf einem Reichsapfel, zugleich ein Türke mit Krummschwert und ein christlicher Herrscher mit lorbeerumwundenem ←15 | 16→Schwert, vielleicht Kaiser Leopold I. Dem einen wird von oben ein Lorbeerkranz gereicht, dem anderen Nesseln. Auf der „guten“ Seite steht König David mit der Harfe, auf der „bösen“ Seite der wahnsinnig gewordene, „umnachtete“ König Saul als Selbstmörder (1. Chronik 10). Dem entsprechen allegorisch der kluge Nachtvogel Eule und die sanfte Taube mit dem Ölzweig. In der Kartusche darüber erkennt man Jonathan, der den David mit einem Pfeilschuss warnt (1. Samuel, 20, 35–39), in der unteren Kartusche wird der „tapffer[] Generalissim[us]“ (RS 3) Joab am Altar ermordet (1. Könige 2, 34). Die Allegorien verteilen also klar in Gut und Böse, Rechts und Links, Krieg und Frieden. Staatsräson ist schon in diesen Bildern eindeutig schwarz oder weiß. „Das zu dem günstigen Leser redende Kupffer-Blat“, wie Grimmelshausen sagt, wird „zur Warnung vorgestelt damit sich in der Wahl/ ein jeder nicht vergreiff/ sondern sich hüt vorm Fall/ und vor ewiger Qual“ (RS 4).

Das andere Titelblatt stammt aus dem dritten Band der postumen Gesamtausgabe von 1684, Simplicissimi Staats-Kram (Abb. 2). Hier ist die Doppelköpfigkeit der Staatsräson aufgegeben, aber die Schattenseite des Kopfes zeigt ein Doppelgesicht. Die Staatsräson, gekleidet in einen Herrschermantel mit zahlreichen beobachtenden Argus-Augen, an dem sich hinten viele „Politici“ mit Ellen und Scheren zu schaffen machen, hält in der linken Hand zwei Schwerter, ein lorbeerumwundenes Friedensschwert, das nach oben zeigt, ein dunkles von einem Raubvogel gekröntes Kriegsschwert, dessen Spitze nach unten zeigt. Die Staatsräson hält in der Rechten den Reichsapfel mit nach unten gesenktem Kreuz, mahnend gewissermaßen, sich nicht der schlechten Staatsräson hinzugeben. Über dem Haupt der Staatsräson steht die Sonnenuhr („Wie die Strahlen, so die Zahlen“) und soll wohl die kosmische Schicksalhaftigkeit herrscherlichen Tuns andeuten.5 Schließlich unten die Kartusche mit dem Text „Schau hier das Ratio Status Bild/ Das jetzund in der Welt viel gilt/ Wie jeder es bescheid und bstielt“.

Grimmelshausen beginnt seinen Traktat mit einer allgemeinen Betrachtung über gute und schlechte Herrschaft, klar angelehnt an die 1619 in Frankfurt erschienene deutsche Übersetzung von Tommaso Garzonis (1549–1589) Piazza Universale di tutte le professioni del mondo (Venedig 1585). Gott ist Herr der Welt, es gilt die Trias von göttlichem Recht, Naturrecht und menschlichem positivem Recht. Die Herrscher werden direkt oder indirekt von Gott eingesetzt, sie müssen ←16 | 17→demütig gegenüber Gott sein, die Religion erhalten, sich aller Herrschertugenden befleißigen (Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Standhaftigkeit, Großmut, Mut, Ehrbarkeit, Gravität, Wahrheit, Treu und Glauben). Regenten müssen ihr Reich und ihre Untertanen erhalten. „Erhaltung“ aber heiße heute alamodisch Ratio Status. Dieses Wort sei unendlich vieldeutig, aber – so Grimmelshausen – eigentlich gehe es nur um „gut und böß“. Jede menschliche Gemeinschaft, auch die Kirche, folge ihrer eigenen Ratio Status, das sei ganz in Ordnung. Deshalb zeige er nun durch „warhaffte Biblische Historien“ (RS 11), wie sich die legitime Selbsterhaltung einer Herrschaft von der höllischen machiavellischen Handlungsweise unterscheide.

Die erste Erzählung widmet sich König Saul („Anderer Discurs“ [RS 11]). Der war anfangs ein guter Herrscher, entwickelte sich aber zum Tyrannen, wählte sich statt Gott den gottlosen Ratio Status, folgte der „alemode Politic“ (RS 20). Nun nimmt das Unheil seinen Gang, die anfängliche Zuneigung zu David wird Verfolgung, die böse Staatsräson stachelt Saul sogar zum Mordversuch an, führt zu Verzweiflung und schließlich zum Selbstmord. Die handfeste Lehre hieraus lautet, dass „der politische Ratio Status gegen denen die GOTT vertrauen/ nichts vermag“ (RS 30). Die Regenten sollen „den verfluchten Machiavellischen Ratio Status (dessen Practic mit dem Atheismo oder aufs wenigst einem bösen Gewissen und endlicher Verzweiflung hier Zeitlich gestrafft zu werden pflegt/) dem Gottlosen überlassen“ (RS 32).

Diesem Nachtstück oder Schreckensbild wird dann – naturgemäß etwas blasser – Sauls Sohn Jonathan als tugendhafter Prinz gegenübergestellt. Er hält unbeirrbar zu David und führt ein völlig tugendhaftes Leben (Dritter Diskurs). So also sieht die gute Seite des doppelköpfigen Ratio Status idealiter aus.

Der vierte Diskurs ist dann König David gewidmet, dem Muster eines guten Herrschers, einer Präfiguration des Jesus von Nazareth aus dem Hause David. Sein Gottvertrauen schützte ihn schon gegen die Ränke von Saul, ja Spinne und Mücke mussten dazu auf Gottes Befehl helfen. Gewiss, so Grimmelshausen, sei er auch Anfechtungen ausgesetzt gewesen und habe gesündigt, aber er sei letztlich durch sein Gottvertrauen der ideale Herrscher geblieben. Er gebe

[…] allen Machiavellischen Statisten damit zu erkennen […] daß der getreue GOtt deren ihme ergebenen Potentaten ärgste Feinde zu seiner Zeit auch ohne derselben GOtt ergebenen Fürsten Zuthun/ schon ernidrigen und nach seinem Göttlichen Belieben gar vertilgen könne/ massen auch allen seinen Feinden endlich widerfahren. (RS 39–40)

←17 | 18→David hat gesündigt durch Ehebruch und Mord (Uria), durch Lüge und Betrug, aber auch durch die Volkszählung wider Gottes Gebot.6 Aber teils lassen sich diese Sünden als erlaubte Kriegslisten sehen, denn im Krieg ist es erlaubt „seine Feinde mit allerhand List/ Betrug/ Vortheln/Stratagematis und was den anhängig zu schwächen“ (RS 41). Teils waren es menschliche, lässliche Sünden; David war „kein Engel“ (RS 45). Aber er bereute, weinte, bat um Vergebung und kam wieder auf den rechten Weg. Jedenfalls löste er sich nicht von Gott und benutzte keine „GOtt widerstrebende spitzfindige Staats-Griff der Machiavellisten“ (RS 45). Der machiavellische Ratio Status, so nochmals Grimmelshausens Botschaft des Lebens von Saul, pflegt „einen rechtmässigen Fürsten vor der Zeit von seinem Stul/ bis in die Höll hinunter zustürtzen“ (RS 47).

Der fünfte Diskurs schließlich gilt dem Exempel des „tapfern Kriegs-Fürsten Joab“ (RS 47). Dessen Ratio Status war zunächst der treue Dienst für seinen König. Joab stellt sich, obwohl mit David verwandt, dienend unter ihn und wird zum Muster eines treuen, tapferen und seinen eigenen Ehrgeiz besiegenden Soldaten und Dieners. Aber am Ende wird er so mächtig und folgt dem „gottlosen Ratio Status“, dass er David gefährlich und von diesem umgebracht wird. Andreas von Heyde hat auf die Parallele zu dem 1634 ermordeten Wallenstein aufmerksam gemacht, und tatsächlich bezieht sich Grimmelshausen sowohl im Simplicissimus warnend auf Wallenstein als auch im Rathstübel Plutonis. Es ist zwar denkbar, dass dieses Bild eines treuen, aber seinem Herrn schließlich zu mächtigen Dieners sich mit der Widmung des Traktats an Crailsheim als Vertreter des Amtsadels in der Ortenau zusammenfügt. Die gute Staatsräson eines Dieners der Obrigkeit zielt auf Bescheidenheit und treuen Dienst. Zwingend ist das aber nicht; denn der gleichzeitige Roman Dietwald und Amelinde (1670) wurde Philipp Hannibal von Schauenburg gewidmet, ohne dass dort eine ähnliche Absicht erkennbar wäre.

Der angehängte schwankhafte Discurs von Salomos Freund Sabud7 und seiner allzu neugierigen und deshalb verprügelten Frau möge hier beiseite bleiben, weil er zum Thema der Staatsräson nichts beiträgt. Alle bisherigen Interpreten fanden entweder diesen Anhang am meisten ←18 | 19→„simplicianisch“, oder sie wunderten sich, weil er nicht zu den vorhergehenden Diskursen passen wollte.

Fassen wir den Gehalt zusammen, dann ergibt sich nicht mehr als eine sowohl im katholischen als auch im lutherischen Milieu gängige Illustration von Schwarz und Weiß, Tugend und Laster bei Regenten und ihren Dienern.8 „Gottlose“, machiavellische Listen seien nicht nur böse, heißt es, sie führten auch langfristig nie zum Erfolg.9 Nur der im Gottvertrauen handelnde, wenn auch gelegentlich nach Menschenart sündige Herrscher werde am Ende erfolgreich sein. Er werde nicht nur sich selbst als Herrscher erhalten, sondern ein Segen sein für Land und Leute. Dies alles ist gedanklich schlicht. Es fehlt hier nicht nur jene spielerische Ironie, die sonst Grimmelshausen auszeichnet, sondern auch die künstlerische Gestaltung. Es ist eher eine Predigt zur Stärkung von Gottvertrauen und Redlichkeit, eine Warnung vor Listen und Verbrechen, ausgenommen die allgemein erlaubten Kriegslisten. Diese Predigt ist auch nicht witzig – weit entfernt etwa von dem barocken Predigtfuror eines Abraham a Santa Clara (1644–1709) –, sondern einfache Mahnung. Sie zeigt, wie gesagt, die nahezu plagiierende Nähe zu dem Ravennater Kanoniker und Juristen Tommaso Garzoni von 1585 und verharrt auch argumentativ im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts. Man denke an die viel breitere und subtilere Diskussion um die ,Ragion di Stato‘, um die Arcana und um den Tacitismus bei den bekanntesten Autoren Italiens und Spaniens (Botero, Boccalini, Ammirato, Settala, Scioppio, Ribadeneira, Saavedra-Fajardo). Auch die gesamte deutsche Debatte vor 1618 und während des Krieges scheint bei Grimmelshausen keine Spuren hinterlassen zu haben (Bornitz, Clapmarius, Corvinus, Besold, Forstner, Efferen, Boecler).10 Alle Versuche der Distanzierung von Politik und Recht einerseits und der theologischen Interpretation von Gottes Gebot andererseits bleiben hier ungehört.

←19 | 20→

Der Traktat selbst ist in der Grimmelshausen-Literatur mehrfach behandelt worden. Er steht als lehrhaft argumentierende Abhandlung zwar im Schatten des simplicianischen Werks, sagt aber doch etwas über den Bildungsstand und die religiösen Überzeugungen des Autors. Felix Bobertag schreibt 1884 nur Folgendes: „Die Discurse handeln von der ‚Staatsraison‘, welche an den biblischen Beispielen von Saul, Jonathan, David und Joab als eine bedenkliche Theorie dargestellt wird, ohne dasz sich übrigens die Erörterung durch besondere Klarheit auszeichnet“. Und er fährt fort: „Sehr hübsch aber und ganz in Grimmelshausens bester Manier ist der Anhang zu Abisag von Sunem, deren Gemahl Sabud von seinem Hunde und Hahne darüber belehrt wird, wie er ihr das Fragen nach Geheimnissen abzugewöhnen habe“.11

Heute ist der Forschungsstand zu Grimmelshausen und zur Literatur des 17. Jahrhunderts reicher und differenzierter. Auch zum Zweyköpffigen Ratio Status ist inzwischen viel geschrieben worden. Günther Weydt hat 1979 den modernen Forschungsstand kurz dargelegt.12 Dieter Breuer hat alles Bisherige zusammengefasst, das erste Titelblatt erklärt und Entstehungsgeschichte, Quellen und Inhalt berichtet.13 Was die Einordnung in die politisch-juristische Debatte der Zeit angeht, so stellt er in Übereinstimmung mit dem (nicht ganz fehlerfreien) Aufsatz von Andreas von der Heyde fest,14 der Traktat vertrete eine Position, die nicht mehr dem politiktheoretischen Diskussionsstand um 1670 entspreche. Grimmelshausen stehe hier mit seinem Appell an klassische, religiös begründete Herrschertugenden in der Tradition der bibeltheologischen Begründung von Kaiser und Reich. Möglicherweise habe Grimmelshausen indirekt auch den profranzösisch taktierenden Fürstbischof von Straßburg, Franz Egon von Fürstenberg (1626–1682), mahnen wollen.

Auch alle anderen literaturgeschichtlichen Äußerungen zum Ratio Status kreisen um die Frage, wie es zu dem von Grimmelshausen vertretenen Standpunkt von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Himmel und Hölle komme. Dass es sich um eine versteckte und dem Handeln ←20 | 21→nach weltlicher Staatsräson zustimmende Satire handle, so eine These von Horst Nieder,15 hat offenbar nicht überzeugt. Die Forschung hat bei der Einordnung des Staatsräson-Traktats in das Gesamtwerk auch auf die Verzahnung mit dem Mörder und Räuber Olivier hingewiesen, der Simplicius im Simplicissimus Teutsch vorhält, er habe Machiavelli noch nicht gelesen (Buch IV, Kapitel XV).16 Inzwischen sind weitere Untersuchungen hinzugekommen, etwa von Friedrich Gaede und Rainer Hillenbrand,17 Stefan Trappen und Wilhelm Kühlmann, zuletzt die Frankfurter Dissertation von Monte Adair18 sowie die zusammenfassende Darstellung von Volker Meid.19 Im Folgenden soll die politischjuristische Debatte der Staatsräson und damit der Kontext des Zweyköpffigen Ratio Status im Mittelpunkt stehen.

II.

Wenn wir annehmen, die Abhandlung sei etwa gleichzeitig mit dem großen Simplicissimus Teutsch zwischen 1667 und 1670, also innerhalb des Œuvres „früh“ entstanden,20 dann erscheint sie in der europäischen Debatte um Machiavelli und die Staatsräson eher „spät“, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie ist zeitlich „spät“; denn das Kerngebiet jener Debatte liegt zwischen dem ausgehenden 16. Jahrhundert und dem ←21 | 22→ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. Sie ist aber auch ideengeschichtlich „spät“, weil sie eine mit biblischen Exempla begründete Position einnimmt, die in Deutschland nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs als überholt erscheinen musste.

Die Formel „ragione di stato“ taucht bekanntlich um 1525 in Italien auf, sowohl in Florenz im Umkreis von Machiavelli, Guicciardini und Giovanni della Casa als auch in venezianischen Gesandtenberichten.21 Nachdem Machiavellis Werke noch 1532 unbeanstandet in der päpstlichen Druckerei erschienen waren, verschärfte sich das konfessionelle Klima im Zuge der nun einsetzenden Gegenreformation. Dabei spielten der englische Kardinal Reginald Pole (1500–1558) als erster „Antimachiavellist“ und der mit ihm befreundete Papst Pius IV (1499–1565) die entscheidende Rolle. Das Konzil von Trient setzte 1559 Machiavelli auf den italienischen Index; 1583 folgte der spanische.22 Die Kirche störte sich vor allem am 18. Kapitel des Principe, in dem Machiavelli dem Herrscher empfiehlt, es sei im Kampf um die Macht besser, religiös zu erscheinen als es wirklich zu sein. Modern gesprochen, hieß das, er müsse sich in seinem Kalkül (ragione) freihalten von Ideologie, um machttechnisch zu entscheiden, ob er „Löwe oder Fuchs“ sein, aggressiv oder konspirativ handeln wolle.23 Der Verlauf des nun entstehenden Antimachiavellismus ist bekannt. 1576 erscheint Innocent Gentillets Discours sur les moyens de bien gouverner gegen Machiavelli, 1589 gelangt „Ragion di Stato“ bei Giovanni Botero erstmals auf einen Buchtitel. Die Religionskriege in Frankreich mit ihrem Höhepunkt der Bartholomäusnacht, die Häufung religiöser Streitigkeiten im Reich mit der Blockade des Reichstags und des Reichskammergerichts, der Freiheitskampf der Niederlande und die endgültig scheinende Unversöhnlichkeit der Konfessionen heizen die Stimmung an. ,Kratos‘ und ,Ethos‘, wie Meinecke das genannt hat, standen gegeneinander. Die so ←22 | 23→genannten „Politici“ und die Juristen bestanden zunehmend auf dem Satz, Politik und Völkerrecht folgten eigenen Regeln. „Silete theologi in munere alieno“ lautet der berühmte Ausruf des Alberico Gentili in Oxford. Der Mainzer Jurist Michel Kreps, katholisch, aber antijesuitisch, schreibt 1620, „Und soll uns Politische der gelehrten Theologen Zanck und ohneinigkeit nicht so viel hindern können“.24 Das entsprach nun ab etwa 1610 auch der generellen Linie der Autoren, die in ihren „Politiken“ Handbücher für die Regierung des frühmodernen Staats schrieben. In einer Welt voller Konflikte setzten sie auf eine moralisch gemäßigte, „vernünftige“ Staatsräson. Wie Christoph Strohm gezeigt hat, gehört dieses juristische Denken eher in den reformierten als in den lutherischen Kontext.25

Aber die Theologen aller drei Bekenntnisse bestanden darauf, die theologische Wahrheitsfrage dürfe nicht ausgeklammert werden. Speziell die Hofprediger waren „obligiert“, Mahnungen aussprechen, über der Machtpolitik nicht Gott als letzte Instanz zu vergessen.26 Unter den lutherischen Juristen waren Reinkingk und Seckendorff die führenden Stimmen.27 Im katholischen (französisch-italienischen-spanischen) Lager sind es Gentillet, Garzoni, Botero, Boccalini,28 Ribadeneira, in Deutschland Adam Contzen und Aegidius Albertinus.29 Sie alle deuten ←23 | 24→den Staat als göttliche Stiftung, geschützt durch die wahre Religion und religiös angeleitete Staatstugenden. Alle diese Stimmen gehören in das 16. und frühe 17. Jahrhundert, ausgenommen die Lutheraner Reinkingk und Seckendorff, die aber in ihren Alterswerken nach 1650 nicht mehr als repräsentativ gelten können.

So wurde „Staatsräson“ zum europäischen Schlagwort. Spanier und Franzosen übersetzen ragion di stato in ihre Landessprachen, die Deutschen bleiben überwiegend beim Latein und führen nebeneinander auf:30 ratio status, ratio gubernandi vel imperandi, arcana imperii, necessitas, prudentia politica, dissimulatio, daneben finden sich Hoheit, geheime Reichssachen, Reservatrechte, jus dominationis, statssachen. Die Engländer sprechen von law of state, statecraft, interest of the state, aber auch prerogative.

Stets bedeutet das Grundwort „ragione“ (Rechnung, Kalkulation) die Berechnung der Macht des eigenen oder fremder Gemeinwesen als rationale Grundlage von Entscheidungen. In den folgenden Jahren (1590–1610) breiten sich Staatsräson und seine Kehrseite, der Antimachiavellismus, rasch aus.31 Wir können drei Konnotationen unterscheiden. 1. Die Formel „Staatsräson“ spaltet von der allgemeinen Vernunft eine speziell auf den „Status“, den Zustand des Gemeinwesens, bezogene Vernunft ab. Staatsräson ist also eine „spezielle“ Vernunft, die mit anderen Vernunftschlüssen in Konflikt geraten kann. 2. Zugleich dient sie als Kristallisationskern einer großen Zahl von Synonyma, die sich im Klima verhärteter Konfessionalisierung bei Katholiken, Lutheranern und Calvinisten ausbilden und dort dazu tendieren, die leitende Rolle von Gottes Wort und seiner Diener zu schwächen und selbständig, empirisch kalkulierbar die Realitäten der Politik ins Auge zu fassen. Hier ist Staatsräson eine spezielle, Religion und Moral nicht achtende Vernunft. 3. Schließlich eignet der Formel Staatsräson die Tendenz, den Ordnungsanspruch der Zentrale, also meist den rücksichtslos durchgreifenden Willen des jeweiligen Herrschers zu begünstigen. So wird sie ←24 | 25→zum Markenzeichen des den mittelalterlichen Ständestaat überwindenden Absolutismus und insoweit auch bekämpft.32

Mit diesen Vorgängen ist die Wiederentdeckung der Schriften des Tacitus, seiner in Deutschland begeistert aufgenommenen Germania, vor allem aber seiner historischen Schriften verbunden. Stilistisch rückte taciteisches Latein seit der Mitte des 16. Jahrhunderts an die Stelle des klassizistischen Cicero. Inhaltlich eignete Tacitus sich als rückhaltloser Berichterstatter über die Verbrechen im kaiserlichen Rom als unverdächtiger Ersatz für den verteufelten Machiavelli. Wer über Rechtsbrüche aus Staatsräson sprechen wollte, konnte dies mit Hilfe der taciteischen Fallbeispiele tun. Praktisch alle Denkvarianten des Machiavellismus und Antimachiavellismus konnten in Form des „tacitismo nero“ und des „tacitismo rosso“ (absolutistisch und antiabsolutistisch) diskutiert werden.33 Die Diskurse über Machiavelli, Staatsräson und Tacitus laufen nebeneinander, verschlingen sich und sind in der Sache weitgehend identisch. Immer ging es um das unsicher gewordene Verhältnis von Macht und Recht, Politik und Religion.

So unterschied 1602 der junge Altdorfer Professor Arnold Clapmarius zwischen „arcana (dominationis)“ und den „jura dominationis“ und sagte:

[…] arcana Dominationis (Italis & Gallis est ragion di stato, Germani non efferunt, nisi forte per Reichsstand / vel per Reichssachen) sunt certa & secreta privilegia conservandae dominationis, introducta boni publici causa, quibus opponit Tacitus flagitia dominationis (Itali la cattiva ragione di stato) quibus fides & relligio violatur […].34

Ebenfalls 1602 unterscheidet der sächsische Fiskalbeamte Jakob Bornitz im Einklang mit der italienischen Literatur zwischen der wahrhaften „Prudentia politica“ und der geheuchelten der „Pseudopolitici“ und ←25 | 26→Machiavellisten, deren „ratio certè non prudentia, sed summa malitia est“, also das mit dem Anschein des Guten geschminkte Böse, verabscheuungswürdig in jeder Hinsicht.35 Wer ihr folge, gehöre zu den „Cacopolitici“. Es gibt also die gute, staatserhaltende Staatsräson und die schlechte, Treue und Religion verletzende „schlechte Staatsräson“. So unterschieden Giovanni Botero, Justus Lipsius, Scipione Ammirato, Trajano Boccalini, Girolamo Frachetta, Hippolithus à Collibus und viele andere. Speziell in Deutschland ergießt sich gegen die als machiavellistisch bezeichnete Form der Staatsräson, die Betrügerei und Verbrechen erlaube, der ganze Abscheu frommer Autoren, gleichviel ob sie katholisch oder lutherisch sind, während Reformierte in dieser Diskussion eher weltlich denken. Aber auch die in machtlosen deutschen Kleinstaaten oder Städten sitzenden Autoren schlagen sich durchweg auf die Seite der Kritiker der Staatsräson. Andererseits verhalten sich seit Justus Lipsius die Tacitisten eher religionsneutral und wägen nüchtern ab, wie Herrschaft effektiv ausgeübt werden kann, konkret: welche Mittel der Geheimhaltung (arcana) und Täuschung (flagitia) erlaubt sind, ja geboten sein können. Kein Zufall, dass diese Autoren oft fallweise argumentierende Juristen sind.

Grimmelshausen kennt solche Differenzierungen nicht. Er bleibt auf der Linie der frühen antimachiavellistischen Autoren. Er fordert den Christlichen Fürsten, dem er nur kleine, entschuldbare Abweichungen von der Kompassnadel des „Princeps Christianus“ erlauben will, etwa in existentiellen Notlagen, bei Zwangskonversionen oder bei Kriegslisten.

Auch der Tyrannenmord für den Fall religiöser Bedrückung wird diskutiert und gewissermaßen „raisonabel“ gemacht, und zwar von katholischer und hugenottischer Seite gleichermaßen. Lutherische Autoren, denen mit Römer 13 gepredigt wurde, auch der bösen Obrigkeit zu gehorchen, waren insoweit viel zurückhaltender. Flexibel argumentierten Jesuiten, zumal als Beichtväter der Höfe, und folgten dabei dem sogenannten ethischen Probabilismus, der eine Berücksichtigung des ungewissen Ausgangs und wandelbarer Maßstäbe erlaubte.

Welche Ausnahmen von Gottes Gebot und dem Naturrecht aber im Einzelnen diskutiert wurden, mag hier dahinstehen. Ganz allgemein gilt: Staatsräsondenken und Machiavellismus werden an der Wende zum 17. Jahrhundert mehrheitlich als „falsa pestifera doctrina“ be←26 | 27→zeichnet (S. J. Brutus, Vindiciae contra tyrannos, 1578) und wechselweise als „italienische“, „spanische“ oder „französische“ bzw. „welsche Teufelei“. Machiavelli wird beschimpft als „pseudopoliticus“ und Teufelsdiener, der die „cattiva ragion di stato“36 gelehrt habe (Scipione Ammirato, 1594). Auf der Gegenseite steht die erlaubte Staatsräson, die in vielerlei Präzedenzfällen entfaltet wird. Nachdem durch die Formel „ragione di stato“ zunächst der Anspruch eines von Religion und Kirche unabhängigen, an Machterwerb, Machterweiterung und -erhaltung orientierten politischen Denkens ausgedrückt wird, verbindet sich mit der „Staatsräson“ – parallel mit dem Machtzuwachs des neuzeitlichen Territorialstaats – bald das Ensemble aller „Staatsinteressen“. Veit Ludwig von Seckendorff bündelt einfach „Stat, ratio status oder Statssachen“.37 Als frommer Lutheraner, der sich freilich gut mit „Statssachen“ auskannte, bleibt er in Sachen „Staatsräson“ auf der Grundlinie von Reinkingks Biblischer Policey (1653), zumal in seinem Alterswerk Christen-Stat (1685). Auch die satirischen Theaterstücke und die Traktate gegen die „machiavellistischen Pseudopolitici“ wirken nach 1650 eher wie Nachzügler 38. Ebenso geht die Bedeutung der Hofprediger nach 1650 zurück.39 An den Universitäten werden die Theologen nach Rang, praktischem Einfluss und Besoldung von den Juristen abgelöst.

Dass diese Juristen sich tendenziell von den Theologen abgrenzen und einen „religionsfreien Raum“ für Politik und Recht beanspruchen, wurde bereits erwähnt. Besonders das nun im Gefolge der Schule von Salamanca und von Hugo Grotius aufsteigende Völkerrecht wird immer weniger von theologischen Maximen gesteuert. Juristen verwenden die „ratio status“ und die daraus entspringende „necessitas“ als Rechtfertigungsgrund für den Bruch von Verträgen und als Eingriffstitel in „wohlerworbene Rechte“ (iura quaesita).40 Das beginnt schon früh. 1614 schreibt der Tübinger Professor Christoph Besold vorsichtig, die ←27 | 28→„Ratio politica“, die man nun Staatsräson nenne, während sie früher „Aequitas oder Epieikeia“ genannt worden sei, diene der Überschreitung des Rechts.41 1640 formuliert es Hippolithus a Lapide (Bogislaus Philipp von Chemnitz) in seiner Dissertatio de ratione status ganz positiv und deutlich härter, die Necessitas sei jene Kraft (vis) und Würde (dignitas), die oft einer an sich nicht erlaubten Sache den Charakter des Rechts und der Billigkeit verleihe. Denn die Necessitas, ein magnum patrocinium der menschlichen Unvernunft, breche alles Recht (omnem legem frangit).42 Von einer die Härten des Rechts ausgleichenden aequitas bei Besold ist also mitten im Krieg die necessitas geworden, die das Recht aushebelt und Vertragsbrüche erlaubt.

In der Publizistik nach dem Prager Frieden von 1635 gewinnt der Topos der Staatsräson eine auf das Reich bezogene Dimension. Nun wurde die Ratio Status Imperii Romano Germanici diskutiert, gegen Habsburg (Hippolithus a Lapide) oder gegen Frankreich (Machiavellus Gallicus), oder als Maßstab für die Analyse der Gebrechen der Reichsverfassung (Pufendorf 1667, Johann Wolfgang Textor 1667).43

Aber auch ohne den Kontext der Reichsverfassung verlor sich der Reiz der Debatte um die „Ratio Status“ seit der Jahrhundertmitte. Hermann Conring beschäftigte sich in Helmstedt intensiv und abwägend mit Machiavelli und Tacitus. 1651 veröffentlichte er eine Dissertation De Ratione Status,44 die das Ende der Polemik gegen Machiavelli markiert. Zugleich beginnt eine Akademisierung des Themas, auf dem nun Politik- und Rechtswissenschaft sich in Distanz zu kirchlichem „Fundamentalismus“ einerseits, zu moralfreier Macht- oder Gewaltpolitik andererseits bewegen.

Der nach 1648 aufsteigende Absolutismus handelte beim Wiederaufbau der Länder ohne größere Debatten nach seiner jeweiligen Staatsräson. Eine neue Wirtschafts-, Steuer- und Militärpolitik, ein zentrali←28 | 29→sierter Verwaltungsaufbau, und eine generelle Ausrichtung auf den Monarchen als Willenszentrum hielten Einzug. Man konnte nun von Staatsinteressen sprechen, ohne gleich als Machiavellist angefeindet zu werden. Die bindungslose „böse“ Staatsräson wird in Regeln gefasst und juristisch gebunden. Sie bleibt zwar beweglicher Faktor der Vertrags- und Rechtsänderung, ja der Rechts-Aufhebung, aber sie wird kalkulierbarer. „Ratio Status, Necessitas“ und – immer mehr das wohlklingendere „Bonum commune“ – werden akzeptierte Topoi des fürstlichen Regiments. Außenpolitisch dokumentiert der Aufstieg des Völkerrechts die grundsätzliche, wenn auch erst allmählich erreichbare Verrechtlichung der Außenbeziehungen der entstehenden „Staaten“, die sich territorial definieren, Grenzen ausbilden, ihre Souveränität beanspruchen, kurzum alle Merkmale weltlichen Staatsdenkens annehmen.

Dies alles wird an deutschen Universitäten registriert, um nicht zu sagen breitgetreten. Zwischen 1650 und 1700 finden sich dort zahlreiche Disputationen und Dissertationen zur Staatsräson, erfasst in eigenen Bibliographien.45 Sie signalisieren die Juridifizierung und Historisierung des ehemals aufregenden Themas. Im frühen 18. Jahrhundert verebben aber auch sie. Dass das Handeln nach Staatsräson den Einflüsterungen des Teufels folge, wurde nicht mehr ernst genommen. Ja der Teufel selbst geriet zur komischen Figur und wurde, wie es in Faust I heißt, „in’s Fabelbuch geschrieben“.46 Nach 1700 ist wohl deshalb auch kein bedeutendes staatstheoretisches Werk mehr zur „Staatsräson“ erschienen. Natürlich waren die sachlichen Probleme nicht verschwunden, aber sie wurden nun in der Frühaufklärung unter den Stichworten Nutzen und Gerechtigkeit (decorum und utile), Moral und Politik, Völkerrechtsverstoß und Verstoß gegen angeborene Menschenrechte diskutiert. Der Anti-Machiavel Friedrichs des Großen von 1740 war die Jugendarbeit eines Herrschers, der später ganz selbstverständlich und ausdrücklich der Staatsräson seines Staates folgte. Aus alledem ergibt sich, dass Grimmelshausens Zweyköpffiger Ratio Status, wenn er knapp vor 1668 geschrieben sein mag, tatsächlich ein zeitlich und inhaltlich „später“ oder „verspäteter“ Beitrag jener Debatte war.

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III.

Grimmelshausens Staatsräson-Diskurse erheben keinen gelehrten Anspruch, sie „erzählen“ vielmehr kompilierend biblische Geschichte mit einem pädagogischen Zweck. Die Manier, ethisch-politische Botschaften anhand von Exempeln aus dem Alten Testament zu vermitteln, ist den kirchlich gebundenen Autoren jener Zeit selbstverständlich. Nicht anders argumentierte die mittelalterliche Scholastik mit Bibelworten, Kirchenvätern und Konzilsbeschlüssen. Im Zeitalter der Religionskriege waren Bibelworte gewissermaßen theologische Waffen. Aus Gründen, die hier nicht diskutiert werden können, wurde gerade das Alte Testament genutzt, vor allem bei Reformierten, in der englischen High Church und den Puritanern, aber auch bei Lutheranern und Katholiken.47 Speziell um 1. Samuel 8, 11 ff. kreiste die Debatte des Absolutismus.48

Wer dagegen mit dem Arsenal der Antike, speziell mit dem Heiden Tacitus operierte, wie Justus Lipsius mit seiner in 53 Auflagen und 21 Übersetzungen verbreiteten „Politik“,49 wer sich gar auf Machiavelli berief, konnte nicht gleichzeitig die Bibel nutzen. Der Späthumanismus argumentierte mit antiker Literatur und vermied im Konfessionsstreit die möglicherweise zu Streit führenden biblischen Beispiele. Damit öffnete sich der Raum für den, barockem Denken eigentümlichen, Dualismus „heidnischer“ und „christlicher“ Referenzen. Er zeigt sich in allen Adelspalästen, fürstlichen Schlössern und Kirchen des Barock. Auf der einen Seite tummelt sich in schöner Nacktheit die antike Mythologie mit geflügelten Eroten oder Amoretten. Auf der anderen Seite streben Märtyrer, Heilige und die Muttergottes nach oben, zu Himmelfahrt und göttlichem Gericht. Die Eroten haben sich als christlich mutierte antike Putti in Engelchen verwandelt.

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Mein Resümee zu Grimmelshausens Zweyköpffigem Ratio Status mag zwar keine neue Deutung bieten, aber vielleicht einen breiteren Horizont öffnen. Der Traktat gehört in die lange Reihe oppositioneller Schriften gegen die seit dem frühen 16. Jahrhundert voranschreitende Säkularisierung des politischen Denkens. Sie beginnt mit Thomas Morus Utopia von 1516, die eine vernunftgeleitete Ordnung menschlichen Zusammenlebens entwarf, und sie setzt sich ein Jahr später mit dem Versuch Machiavellis fort, im Rückgriff auf die Antike die Mechanismen weltlicher Politik zu beschreiben und in konditionale Handlungsmaximen („wenn – dann“) umzusetzen. Die gesamte religiöse Tradition, und in einer späten Phase auch Grimmelshausen, bäumte sich gegen diese Entsakralisierung des politischen Denkens auf. Die Welt ohne Gott und christliche Ethik zu denken, war Teufelswerk. Nicht umsonst soll der Teufel in England nach seinem Namenspatron Machiavelli „Old Nick“ benannt worden sein. Und je mehr der Teufel im Zusammenhang mit der Frühaufklärung an Terrain verlor, desto mehr tobte er. Aber es half nichts. Am Ende landete er mit Hörnern und Pferdehuf im Kasperletheater. Dennoch gehört die zentrale Frage, woher das Böse in der Welt kommt, aus der Erbsünde, aus der individuellen Psyche oder aus dem Kollektiv, weiter zu den offenen Fragen.50

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Abbildungen

Abb. 1: Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen: Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status […]. Nürnberg […] 1670, Titelkupfer.
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Abb. 2: Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen: Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status, Titelkupfer. In: ders.: Deß Aus dem Grabe der Vergessenheit wieder erstandenen Simplicissimi Staats-Kram […]. Bd. 3. Nürnberg 1684.
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1 Reichsfreiherr Krafft von Crailsheim, Herr zu Neuhaus, Walsdorff, Hornberg, Tham und Morstein etc. Hochfürstlich Brandenburgischer Rath, und Ober-Amtmann zu Feuchtwangen. – Grimmelshausen: Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status. Hrsg. von Rolf Tarot. Tübingen 1968 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Unter Mitarbeit von Wolfgang Bender und Franz Günter Sieveke hrsg. von Rolf Tarot), S. 5. – Der Text wird im Folgenden nach der Edition von Tarot mit Sigle RS und Seitenangabe in runden Klammern zitiert.

Details

Seiten
504
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783034340441
ISBN (ePUB)
9783034340458
ISBN (MOBI)
9783034340465
ISBN (Paperback)
9783034340274
DOI
10.3726/b16800
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Fiskalpolitik Geld Grimmelshausen Literatur Frühe Neuzeit Ökonomie
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 504 pp., 49 fig. b/w.

Biographische Angaben

Peter Heßelmann (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Simpliciana XLI (2019)