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Prozessanthropologie

Ein transdisziplinärer pastoralpsychologischer Entwurf

von Matthias Fritz (Autor:in)
©2020 Dissertation 436 Seiten

Zusammenfassung

Eine Anthropologie für die Pastoralpsychologie stellt ein Desiderat dar, das in der Entwicklung dieser Disziplin offen geblieben ist. Dieses Buch gibt Antwort auf die Suche nach einer anthropologischen Grundlegung mit einer eigenen Konstellation: Die organistische Philosophie Alfred North Whiteheads wird mit der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs und einzelnen Aussagen theologischer Anthropologie Pierre Teilhard de Chardins und Karl Rahners in Verbindung gebracht. So entsteht eine Prozessanthropologie, die thematische Gegenüberstellungen zu Konturen dieser Anthropologie führt und zu Optionen für die tiefenpsychologische Ausrichtung der Pastoralpsychologie kommt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Desiderat einer pastoralpsychologischen Anthropologie
  • 2.1. Standortsuche der Pastoralpsychologie
  • 2.2. Pastoralpsychologische Anthropologien
  • 2.3. Eine interdisziplinär-pastoralpsychologische Anthropologie
  • 2.4. Zur weiteren Methodologie dieser Forschungsarbeit
  • 2.4.1 Der interdisziplinäre Ansatz wissenschaftlicher Pastoralpsychologie und dieser Forschungsarbeit
  • 2.4.2. Der transdisziplinäre Auftrag der Pastoralpsychologie und dieser Forschungsarbeit
  • 3. Prozessphilosophie – Alfred North Whiteheads Versuch einer Kosmologie
  • 3.1. Einführung in ein System
  • 3.1.1. Biografische Notizen zu A. N. Whitehead
  • 3.1.2. Auf dem Weg zu einer Kosmologie: Einzelwesen und Gesellschaften – Bausteine der Welt
  • 3.1.2.1. Ursprünge der Organistischen Philosophie
  • 3.1.2.2. Actual entities
  • 3.1.2.3. Actual entities im Prozess
  • 3.1.2.4. Concrescence als Kern des Prozesses
  • 3.1.2.5. Elemente des Prozesses der concrescennce
  • 3.1.2.6. Phasen der concrescence
  • 3.1.2.7. Nexus und Gesellschaften
  • 3.1.3. Textur der Erfahrung
  • 3.1.3.1. Vertiefende Erklärung der concrescence
  • 3.1.3.2. Exkurs: Concrescence und Perception
  • 3.1.4. Gottesbegriff und Unsterblichkeit
  • 3.1.5. Identität der actual entity
  • 3.2. Konzentration auf den Menschen
  • 3.2.1. Höhere Formen der Erfahrung
  • 3.2.2. Bewusstsein /Seele (soul)
  • 3.2.3. Körper
  • 3.2.4. Gehirn
  • 3.2.5. Vernunft
  • 3.2.6. Überredung und ethisches Verhalten
  • 3.2.7. Gesellschaft und Zivilisation
  • 3.2.8. Bildung
  • 3.2.9. Identität, Beruf und Berufung
  • 3.2.10. Religion im Werden: Die Entdeckung Gottes
  • 3.2.11. Geographie und Herkunft in Verbindung mit dem menschlichen Alltagserleben
  • 3.2.12. Zusammenfassung
  • 3.3. Exkurs: Whitehead-Rezeption in Philosophie und Psychologie
  • 4. Individuation des Individuums – Schlüsselbegriff der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs
  • 4.1. Einführung in das System
  • 4.1.1. Biografie von C. G. Jung
  • 4.1.2. Die Tiefenpsychologie
  • 4.1.2.1. Grundlegendes
  • 4.1.2.2. Bewusstes und Unbewusstes
  • 4.1.2.3. Entwicklung der Persönlichkeit: Individuation
  • 4.1.2.4. Symbole und Komplexe
  • 4.1.2.5. Archetypen
  • 4.1.2.6. Synchronizität
  • 4.2. Konzentration auf den Menschen
  • 4.2.1. Psyche und Seele
  • 4.2.2. Körper
  • 4.2.3. Vernunft
  • 4.2.4. Ethisches Verhalten
  • 4.2.5. Religion im Werden
  • 4.2.5.1. Die religiöse Veranlagung des Menschen
  • 4.2.5.2. Exkurs: Gott
  • 4.2.6. Zusammenfassung
  • 4.3. Exkurs: Jung-Rezeption und Kritik
  • 4.3.1. Aus der Sicht der Psychologie
  • 4.3.2. Aus der Sicht der Theologie
  • 4.3.3. Weitere Rezeptionen
  • 5. Gegenüberstellung und Synopse: Whitehead und Jung im Dialog mit der theologischen Anthropologie Karl Rahners und Pierre Teilhard de Chardins
  • 5.1. Prozesscharakter des Lebens: Concrescence und Individuation
  • 5.1.1. Synopse
  • 5.1.2. Theologische Reflexion
  • 5.2. Eternal objects, actual entities und societies – Archetypen und Komplexe
  • 5.2.1. Synopse
  • 5.2.2. Theologische Reflexion
  • 5.2.3. Zwischenresümee: Versuch der Synopse von Chardins, Jungs und Whiteheads Theorien
  • 5.3. Symbol
  • 5.3.1. Synopse
  • 5.3.2. Theologische Reflexion
  • 5.4. Bewusstsein
  • 5.4.1. Synopse
  • 5.4.2. Theologische Reflexion
  • 5.5. Körper
  • 5.5.1. Synopse
  • 5.5.2. Theologische Reflexion
  • 5.6. Seele und Psyche
  • 5.6.1. Synopse
  • 5.6.2. Theologische Reflexion
  • 5.6.3. Exkurs: Das Personale als Ziel der menschlichen Entwicklung
  • 5.7. Religion und Gott
  • 5.7.1. Synopse
  • 5.7.2. Theologische Reflexion
  • 5.8. Zusammenfassende These
  • 6. Eine eigene theologische Antwort: Prozesstheologie – Die christliche Suche nach Gott und seinen Menschen in den Spuren von Alfred North Whitehead
  • 6.1. Was ist Prozesstheologie?
  • 6.2. Genese der Prozesstheologie
  • 6.3. Vertiefungen
  • 6.3.1. Charles Hartshorne (1897–2000)
  • 6.3.1.1. Ein Neo-Theismus
  • 6.3.1.2. Konsequenzen für das Menschenbild
  • 6.3.2. John B. Cobb (geb. 1925)
  • 6.3.2.1. Natural Theology
  • 6.3.2.2. Christian Theology
  • 6.3.2.3. Konsequenzen für das Menschenbild
  • 6.3.3. Joseph Bracken (geb. 1930)
  • 6.3.3.1 Eine prozesstheologische-neowhiteheadian Feldtheorie
  • 6.3.3.2 Konsequenzen für das Menschenbild
  • 6.3.4. Catherine Keller (geb. 1953)
  • 6.3.4.1 Eine tehomic theology – die Theologie aus der Tiefe der tehom
  • 6.3.4.2 Konsequenzen für das Menschenbild
  • 6.4. Der Mensch im prozesstheologischen Geschehen
  • 6.4.1. Ästhetik und Liebe als Maß einer prozesstheologischen Anthropologie
  • 6.4.2. Gotteserfahrung und Christsein in der Welt
  • 6.4.3. Körperliche Erfahrung, Sexualität und menschliche Beziehungen
  • 6.5. Zusammenfassung
  • 6.6. Offener Zwischenstand zur theologischen Diskussion
  • 7. Konturen einer tiefenpsychologisch orientierten Prozess-Anthropologie in 17 Stichworten
  • 8. Zehn Pastoralpsychologische Optionen auf Grund tiefenpsychologisch orientierten prozessanthropologischen Denkens
  • 1.) Transdisziplinarität
  • 2.) Individuelles Werden im Modus des becoming
  • 3.) Relationalität
  • 4.) Bewusstseinsformen
  • 5.) Die leiblich-körperliche Dimension und die Erlebniskategorie der Emotionen
  • 6.) Komplexität des Lebens und dessen Werden
  • 7.) Dimension des Heils
  • 8.) Symbol- und Ritualkompetenz
  • 9.) Spiritualität des Pastoralpsychologen
  • 10.) Ressourcen des Pastoralpsychologen
  • 9. Nachwort
  • 10. Literatur- und Abbildungsverzeichnis
  • 10.1. Kirchliche Dokumente
  • 10.2. Primärliteratur zu Alfred North Whitehead
  • 10.3. Primärliteratur zu Carl Gustav Jung
  • 10.4. Weitere Literatur
  • 10.5. Weitere Quellen
  • 10.6. Abbildungsverzeichnis
  • 10.7. Tabellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

1. Einleitung

Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, o Herr,

Könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen nicht widerstehen,

Das sich über die Welt hin ausbreitet.

Und wir könnten sogar erraten,

Welchen Tanz du getanzt haben willst,

Indem wir uns den Schritten deiner Vorsehung überließen. […]

[G];anz mit dir eins sein – und lebendig pulsierend

Einschwingen in den Takt des Orchesters, den du auf uns überträgst. […]

Herr, lehre uns den Platz,

Den in dem endlosen Roman,

Der zwischen dir und uns begonnen hat,

Der Tanz einnimmt, dieser seltsame Tanz unseres Gehorsams. […]

Gib, dass wir unser Dasein leben […] wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet.

Wie einen Ball,

Wie einen Tanz,

In den Armen deiner Gnade,

Zu der Musik allumfassender Liebe.

Herr, komm und lade uns ein.1

Das Gedicht von Madeleine Delbrêl beschreibt in poetischer Sprache, was die Prozessphilosophie unter Alfred North Whitehead philosophisch und theologisch zu erfassen sucht. Ausgehend von dem Whiteheadschen Entwurf einer Kosmologie und einer impliziten Theologie soll diese Arbeit, im Sinne Hans-Joachim Sanders, ein „Sprachprojekt“2 sein, ein theologisches Sprachprojekt. Diese Arbeit nimmt sich die neuentworfene Welt der Whiteheadschen Prozessphilosophie zur Grundlage, um die Sprache der Theologie und der Pastoralpsychologie zu hinterfragen, und um Impulse in diesen Disziplinen zu setzen.3

Ein Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Theologie und Pastoralpsychologie sprach-reicher zu machen und für den Dialog mit anderen Wissenschaften zu öffnen. Darin verfolgt diese Arbeit mit Hilfe eines philosophischen Projektes den Versuch zu einem transdisziplinären Ansatz von Anthropologie.

Delbrêl hat in Gott eine andere Sprache als die der Theologie entdeckt, eine Sprache der Musik und des Tanzes, eine Sprache, die lockt und die befremdet. Diese Sprache tönt in unserer Welt und soll erkannt werden. Oder ist sie schon längst die Sprache der Menschen und die Theologie hat es noch nicht erkannt?

Psychologie und Theologie sprechen auch unterschiedliche Sprachen. Sind diese kompatibel? Können beide Disziplinen eine gemeinsame Sprachebene finden? Kann die Philosophie eine Hilfe dabei sein?

In meinen Augen ist dies mit Hilfe der Prozessphilosophie möglich und es werden sogar gemeinsame Impulse verbunden und vernetzt, so dass die gemeinsame Sprachebene eine Erweiterung des ursprünglichen Sprachschatzes sein kann.

Das zweite Kapitel geht der Frage nach, wie sich die Pastoralpsychologie heute, nach vielen Versuchen, sie zu definieren, und aus verschiedenen Traditionen zu entwickeln, versteht und wird in dieser Erörterung auf die Frage eingehen, wie anthropologische Aussagen für die Disziplin zwischen Theologie und Psychologie zu finden sind. Dafür wird der wissenschaftliche Ansatz der Transdisziplinarität aufgegriffen.

Im dritten Kapitel wird die Sprach- und Gedankenwelt Alfred North Whiteheads eröffnet. Diese soll die Grundlage des weiteren Vorgehens in dieser Arbeit sein und als diese Grundlage das Fundament der These dieser Arbeit bilden.

Das vierte Kapitel dieser Arbeit hebt Kernpunkte der Analytischen bzw. Komplexen Psychologie Carl Gustav Jungs hervor und beleuchtet diese in ihrer Relevanz für die Anthropologie.

Ein fünftes Kapitel versucht sowohl in einer Gegenüberstellung wie auch im Modus einer Synopse Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede zwischen Whiteheads Organistischer Philosophie und Jungs Tiefenpsychologie zu benennen. Diese werden in theologischen Reflexionen in den Diskurs der theologischen Anthropologie, hier repräsentiert durch die Entwürfe der beiden Jesuiten Karl Rahner und Pierre Teilhard de Chardin, eingebracht.

In einem weiteren Kapitel (Kapitel 6) soll dann die Genese der sogenannten Prozesstheologie, die sich auf die Entwürfe der Whiteheadschen Prozessphilosophie beruft, skizziert, deren Kerngedanken herausgearbeitet und an einzelnen Forschern4 dieser theologischen Richtung und zentralen Motiven der prozesstheologischen Anthropologie dargestellt werden. Dieses Kapitel versucht eine Übersicht zentraler Linien dieser theologischen Denkrichtung ausführen.

Die beiden letzten Kapitel (Kapitel 7 und 8) führen schließlich zum ersten Kapitel und der Ausgangsfrage, welche Ergebnisse ein transdisziplinärer pastoralpsychologischer Forschungsversuch der Pastoralpsychologie und damit auch der Theologie und der Psychologie bieten kann, zurück. Mit Konturen einer in dieser Arbeit entworfenen Prozess-Anthropologie und den daraus resultierenden Optionen für die Pastoralpsychologie wird diese Arbeit zu ihrem Ziel geführt.

2. Desiderat einer pastoralpsychologischen Anthropologie

2.1. Standortsuche der Pastoralpsychologie

Mit der Verlautbarung der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) hat eine bedeutende Öffnung der römisch-katholischen Theologie für andere Wissenschaften stattgefunden: „[D];ie neuen Forschungen und Ergebnisse der Naturwissenschaften, aber auch der Geschichtswissenschaft und Philosophie stellen neue Fragen, die sogar für das Leben Konsequenzen haben und auch von den Theologen neue Untersuchungen verlangen. […] In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie, wirklich beachtet und angewendet werden, so daß auch die Laien zu einem reineren und reiferen Glaubensleben kommen.“5 Unter diesen nichttheologischen Wissenschaften wird u.a. der Wert der Psychologie als gesellschaftsfördernd und als Hilfe zur Selbsterkenntnis des Individuums verstanden: „In ihrem Fortschritt geben Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften dem Menschen nicht nur ein besseres Wissen um sich selbst; sie helfen ihm auch, in methodisch gesteuerter Weise das gesellschaftliche Leben unmittelbar zu beeinflußen.“6 Seit der Entwicklung der Pastoralpsychologie als eigenständige Fachrichtung herrscht „über das Selbstverständnis der Pastoralpsychologie […] keine grundsätzliche Einigkeit“7. Viera Pirker stellt in ihrer Arbeit die Entwicklung der Pastoralpsychologie zu einer eigenständigen Disziplin dar, baut aber auch auf der Offenheit dieser Forschungsrichtung auf. In drei Schritten sucht sie nach dem Standort der Pastoralpsychologie „zwischen Theorie und Praxis […], zwischen Theologie und Psychologie […] sowie in Abgrenzung zur Religionspsychologie.“8

Der Versuch einer solchen Standortbestimmung der Pastoralpsychologie ist auch konfessionell unterschiedlich zu bewerten. Jürgen Ziemer verortet sie deutlich in der evangelischen Theologie und hierin wiederum im Kontext der Seelsorgelehre bzw. Poimenik. Er beschreibt die „Pastoralpsychologie als Grunddimension in der gegenwärtigen Seelsorge“9. Dabei hält er fest, dass der „Begriff Pastoralpsychologie […] nicht eindeutig definiert und geschützt“10 ist. Als eine „Handlungswissenschaft“11, im Sinne einer Seelsorgelehre, ermöglicht die Pastoralpsychologie nach Ziemer einen Brückenschlag zwischen der Lebensrealität der Menschen, sowie der Erfahrung der Seelsorger und auch der theologisch-wissenschaftlichen Erkenntnis. Mit Ziemer kann die Pastoralpsychologie als eine neue Teildisziplin der Theologie verstanden werden.

Diese Entwicklung einer neuen Teildisziplin theologischen Denkens und Handelns birgt aber auch Herausforderungen. Das Einbeziehen neuer Erkenntnisse stellt auch eine Provokation bisheriger wissenschaftlicher Thesen dar. Die Ausfaltung von Wissen und die Aufteilung von Inhalten auf mehrere Teildisziplinen der Theologie kann bedeuten, dass der Überblick über die Vielfalt an Wissen bzw. eine Zielrichtung dessen verloren gehen kann. Bereits 1988 warnte Heribert Wahl mit Blick auf die gesamte Theologie als Wissenschaft, dass die Theologie die „Wahrung des Lebensbezugs“12 verlieren könnte. Bezogen auf die Psychoanalyse sieht er in der Möglichkeit des Einbezugs psychologischen Wissens in die Theologie eine Möglichkeit, den „Aufspaltungsprozeß auf allen Gebieten der Theologie bewußt zu reflektieren, sie dadurch für den Verlust an Lebens- und Erfahrungsbezug zu sensibilisieren und die christliche Glaubenswissenschaft insgesamt wieder mit dieser Praxisdimension in Verbindung zu bringen.“13 Damit wird ein „gegenseitiger Beziehungs- und Verständigungsprozeß“14 entworfen. Dieser ist nach Wahl für die Theologie von großer Bedeutung, nicht zuletzt weil sie auf diese Weise die Lebensrelevanz der Menschen, welche er verloren gehen sieht, wieder in den Blick nehme. In dieser Funktion kann die Pastoralpsychologie eine Quelle der Theologie und des Dialogprozesses innerhalb der Theologie sein.15

Diese Behauptung stellt Andreas Wittrahm 2001 jedoch mit Blick auf innerpastoralpsychologische Unsicherheiten in Frage. Denn in seiner Studie Seelsorge, Pastoralpsychologie und Postmoderne geht er so weit zu behaupten, er könne keine „notwendige Gemeinsamkeit im wissenschaftstheoretischen Grundverständnis“16 pastoralpsychologischer Forscher erkennen. Inhalt und Sinn der Pastoralpsychologie seien so weit offen, dass es keine „gemeinsame[n, M.F.] Vorstellungen über die Innen- und Außenbeziehungen in der Pastoralpsychologie“17 gebe. Damit scheint die Verortung der Pastoralpsychologie als Disziplin zwischen Psychologie und Theologie, die Zuordnung zur Theologie in der Praktischen Theologie oder die Zuordnung in die Angewandte Psychologie der psychologischen Wissenschaft komplett offen. Die Pastoralpsychologie kann Wittrahm in ihrem Gegenstand lediglich, wie Michael Klessmann es weiter unten in diesem Kapitel ebenfalls erklären wird, als „Kommunikationsprozess[e]“18 beschreiben. Wittrahm erkennt eine Pastoralpsychologie mit Schlagseite hin zur Diskussion von Konfliktsituationen und verweist dafür u.a. auf Studien von Joachim Scharfenberg, Isidor Baumgartner und Heinrich Stenger.19 Im Kontrast dazu wünscht er sich die Beschäftigung mit der „positive[n, M.F.] Seite der Postmoderne mit ihren vielfältigen Möglichkeiten und Entscheidungsräumen, die von vielen Zeitgenossen geschätzt und deren Akzeptanz von der sozialwissenschaftlichen Forschung gut dokumentiert wird.“20 Neben der Sorge um die Defizitorientierung der Pastoralpsychologie fordert Wittrahm eine Weitung der pastoralpsychologischen Perspektive von der Ausrichtung auf das Individuum zu einer tieferen „Kenntnis von interaktionell initiierten Veränderungen“21. Die Pastoralpsychologie ist in der Analyse Wittrahms eine liquide und disparate (theologische) Disziplin, der die Unsicherheit über das eigene Wesen zutiefst eingeschrieben ist.

Aus theologischer Perspektive darf der Standort der Pastoralpsychologie zwischen Theologie und Psychologie, in der Sorge um den Dialog zwischen den einzelnen theologischen Disziplinen, nicht verloren gehen, so sehr der innertheologische Diskurs wie oben skizziert dieses Verhältnis auch belastet. Diese beiden Ebenen sind bei allen Autoren der Pastoralpsychologie die Grundbausteine dieser theologischen Disziplin. Aus theologischer Perspektive wird die Pastoralpsychologie zumindest als Grundmuster, Teilgebiet22 oder auch Teildisziplin der Praktischen Theologie anerkannt. Pirker verortet die Pastoralpsychologie sogar weiter von der Praktischen Theologie, als reine Teildisziplin, weg und ordnet sie „zwischen der Praktischen Theologie und der Psychologie“23 ein. Klaus Kießling bezeichnet sie „als Grundmuster Praktischer Theologie […], auch wenn ihre Bezeichnung als Pastoralpsychologie andere Assoziationen weckt.“24 Er verwehrt sich dagegen, diese allein der Psychologie zuzurechnen.25 Für Michael Klessmann ist die Pastoralpsychologie hingegen ein „Zweig der Psychologie“, der „sich auf religiöse bzw. pastorale Kommunikation […] bezieht.“26 So hat die Pastoralpsychologie die Möglichkeit frei, „aus der komplexen Vielfalt der Psychologie als Wissenschaft wiederum das auszuwählen, was ihr im Blick auf den zur Debatte stehenden Gegenstand als plausibel und weiterführend erscheint.“27 Diese Freiheit baut darauf auf, dass die Pastoralpsychologie im respektvollen Umgang mit der Psychologie von dieser auch als Teilgebiet psychologischer Praxis und Theorie anerkannt wird. Heinrich Pompey setzt dies in seinem Beitrag Pastoralpsychologie – die Entwicklung der ältesten Teildisziplin der Angewandten Psychologie schlichtweg voraus, wenn er schreibt, dass bereits ab dem 18. Jahrhundert Wissenschaftler pastoraltheologischer Provenienz „die damaligen Kenntnisse der Charakterologie, der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie und der Allgemeinen Psychologie für die Seelsorge nutzbar […] machen, im Sinne einer von Theologen Angewandten Psychologie.“28 In diese Richtung einschlagend formulieren u.a. Wahl und Klessmann, dass die Pastoralpsychologie heute „interdisziplinär29 zu verstehen sei, was bedeute, dass sie sich „nicht bloß selektiv und rezeptiv, sondern produktiv am wissenschaftlichen Streit um die Wirklichkeit beteiligen“30 soll. Joachim Scharfenberg formuliert es mit eigenen Worten über pastoralpsychologisches Arbeiten so, „daß man bei der Klärung psychologischer Zusammenhänge Theologie treibt und bei der Klärung theologischer Zusammenhänge Psychologie.“31

Während Uneinigkeit über die Frage, wo genau die Pastoralpsychologie im Horizont zwischen Theologie und Psychologie anzusiedeln sei, zu herrschen scheint, ist bei vielen Pastoralpsychologen jedoch der Konsens zu finden, die Pastoralpsychologie brauche einen erfahrungsorientierten Ansatz für und mit den wissenschaftlichen Disziplinen von Theologie und Psychologie.32 Im Sinne der Seelsorgelehre setzt Pirker die Pastoralpsychologie deshalb in den „Horizont der Praxisreflexion“33. Ziemer erkennt in der Seelsorgelehre einen ersten „Aspekt[e];“34 dieser Disziplin. Für Klessmann geht es in der Pastoralpsychologie um die Untersuchung von „Kommunikationsprozesse[n, M.F.] im Bereich von Religion und Kirche“35. Wahls Sorge um den Realitätsverlust der Theologie wurde diesbezüglich bereits weiter oben aufgezeigt. Pompey hingegen erklärt die Pastoralpsychologie zu „einer Teildisziplin der Pastoralanthropologie“36 und hebt damit den Bezug auf den Menschen hervor.

Der Ansatz Klessmanns über die Pastoralpsychologie als Reflexion von Kommunikationsprozessen zwischen Individuen und Organisationen, Gruppen bzw. Institutionen nachzudenken, soll hier als Ansatz der Forschungsarbeit eines Theologen hervorgehoben werden, denn er nimmt diese Perspektiven bzgl. der Ausrichtung der Pastoralpsychologie auf. Klessmanns These, dass die Pastoralpsychologie darin bestehe, als Teildisziplin Praktischer Theologie, eine „Wissenschaft von der Wahrnehmung gelebter Religion“37 aus psychologischer Perspektive zu sein, nimmt Kommunikation in einem ganzheitlichen Sinn mit Blick auf den Menschen wahr. Hierbei geht es ihm, anders als Ziemer es vertritt, „nicht nur [um, M.F.] die Seelsorge, wie es weithin angenommen wird“38. Die Pastoralpsychologie bekommt somit eine Bedeutung für die gesamte Theologie in ihrer Theorie und Praxis, wie auch für das Gesamt der Psychologie zugesprochen und holt darin Scharfenbergs These (s.o.) ein. Zudem wendet Klessmann sich mit Blick auf die gelebte Religion von der Defizitorientierung, die Wahl bei unterschiedlichen Pastoralpsychologen kritisiert, im Sinne von Gaudium et Spes39 ab und erfasst den Menschen als kommunikatives Wesen, auch im Kontext von Religion und Glauben, aber vor allem als relationales, interpersonales, ein „Wesen der Gemeinschaft“40. Auf Grund dieser Überlegungen zum Wesen des Menschen und der Fokussierung der Pastoralpsychologie ausgehend vom Menschen, stellt sich die Frage, wie die Pastoralpsychologie das Wesen des Menschen denkt bzw. denken kann. Die Pastoralpsychologie ist somit eine Disziplin, die Vielfalt kommunikativer Prozesse des Menschen mit seiner Umwelt untersucht und folglich aus den Erfahrungen mit und am Menschen entwickelt wird. Durch die unterschiedlichen Traditionen aus Theologie und Psychologie, die sich in der Pastoralpsychologie treffen und zu gemeinsamen Wegen finden, muss man wohl mit Panhofer davon sprechen, dass es „nicht die Pastoralpsychologie“ gibt, „sondern eine legitime und bereichernde Vielfalt an Zugängen, Themenfeldern, Methoden und Stilen, die einander ergänzen.“41

2.2. Pastoralpsychologische Anthropologien

Der interdisziplinäre Ansatz der Pastoralpsychologie kann nur im Respekt vor den Werten und Traditionen der je eigenständigen Disziplinen von Theologie und Psychologie und deren eigenen Fachrichtungen erfolgen. Die Pastoralpsychologie ist in diesem Verständnis und ihrem Eigenwert als eine Konstruktion auf Grundlage unterschiedlicher Wissenschaften zu verstehen. Als Brückendisziplin zweier getrennter Forschungszweige sucht sie im Respekt vor der Geschichte der Theologie und der Psychologie nach Erkenntnissen, welche der einen oder der anderen wissenschaftlichen Disziplin in ihrem theoretischen Denken und praktischen Handeln helfen.

Details

Seiten
436
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631828830
ISBN (ePUB)
9783631828847
ISBN (MOBI)
9783631828854
ISBN (Hardcover)
9783631818886
DOI
10.3726/b17244
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 436 S., 10 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Matthias Fritz (Autor:in)

Matthias Fritz studierte römisch-katholische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie an der Universität Wien und zu - letzt im Aufbaustudium „Pastoralpsychologie und Spiritualität" an der Philoso - phisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt, wo auch seine Promotion erfolgte. Er ist Priester im Bistum Aachen und Hochschulseelsorger an der Katholischen Hochschulgemeinde Aachen.

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Titel: Prozessanthropologie
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