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Der Kampf gegen den Klerus

Die staatliche Strafverfolgung des rheinischen Pfarrklerus im Kulturkampf wegen unbefugter Vornahme geistlicher Amtshandlungen – BAND 2

by Volker Speth (Author)
©2020 Monographs X, 666 Pages

Summary

Das vorliegende Werk analysiert die staatliche Strafverfolgung des Pfarrklerus, vornehmlich des Bistums Trier, im Kulturkampf zwischen 1873 und 1880, und zwar wegen unbefugter Vornahme geistlicher Amtshandlungen wie Gottesdienstzelebrierungen, Sakramentspendungen, Trauungen und Beerdigungen. Näherhin geht es um die genaue Bestimmung der strafbaren Amtshandlungen und strafbedrohten Priester, um die polizeilichen Exekutivmethoden, -probleme, -erfolge und -defizite, um die fortgesetzten Verbotsübertretungen trotz Gefängnisstrafen, um die staatlichen Versuche zur Widerstandsbrechung mittels Amtsenthebung, Ausweisung, Internierung und Ausbürgerung und um die Solidarität der Gemeinden mit ihren Geistlichen. Diese äußerte sich in Beherbergung, Beschützung, Versorgung, Versteck- und Fluchthilfe, Verhaftungsbehinderung und feierlichem Empfang bei der Rückkehr aus dem Gefängnis.
 
Band 1 beinhaltet die Kapitel I bis VIII.
Band 2 beinhaltet die Kapitel IX bis XI, Statistik- und Quellenanhänge sowie das Quellen- und Literaturverzeichnis.

Table Of Contents


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Landschaftsverbandes
Rheinland, des Erzbistums Köln und des Bistums Trier.

Autorenangaben

Der Autor
Volker Speth ist Bibliothekar und promovierter Historiker.

Über das Buch

Volker Speth

Der Kampf gegen den Klerus

Das vorliegende Werk analysiert die staatliche Strafverfolgung des Pfarrklerus, vornehmlich des Bistums Trier, im Kulturkampf zwischen 1873 und 1880, und zwar wegen unbefugter Vornahme geistlicher Amtshandlungen wie Gottesdienstzelebrierungen, Sakramentspendungen, Trauungen und Beerdigungen. Näherhin geht es um die genaue Bestimmung der strafbaren Amtshandlungen und strafbedrohten Priester, um die polizeilichen Exekutivmethoden, -probleme, -erfolge und -defizite, um die fortgesetzten Verbotsübertretungen trotz Gefängnisstrafen, um die staatlichen Versuche zur Widerstandsbrechung mittels Amtsenthebung, Ausweisung, Internierung und Ausbürgerung und um die Solidarität der Gemeinden mit ihren Geistlichen. Diese äußerte sich in Beherbergung, Beschützung, Versorgung, Versteck- und Fluchthilfe, Verhaftungsbehinderung und feierlichem Empfang bei der Rückkehr aus dem Gefängnis.

Band 2 enthält die Kapitel IX bis XI, den Statistikanhang, die Quellenanhänge
sowie das Quellen- und das Literaturverzeichnis.

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Inhaltsverzeichnis

Band 1

I. Einleitung: Thema, Fragestellungen, Vorbemerkungen

II. Das Bild von Kirche und Klerus in kulturkämpferischen Parlamentsreden

1. Die kulturkämpferische Meistererzählung

a) Es droht akut Gefahr

b) Die geschichtliche Herausbildung der Bedrohungssituation

c) Der schurkische Feind und dessen finstere Absichten

d) Der finale Entscheidungskampf hat begonnen

2. Die verschwörungstheoretischen Elemente der kulturkämpferischen Meistererzählung

III. Begriffsklärungen

1. Das geistliche Amt

2. Die Übertragung eines geistlichen Amts

3. Die geistliche Amtshandlung

IV. Die Frage der Erlaubtheit von geistlichen Amtshandlungen gesetzmäßig angestellter Pfarrgeistlicher

1. Amtshandlungen von gesetzmäßig angestellten Geistlichen in vakanten fremden Pfarreien

2. Amtshandlungen von gesetzmäßig angestellten Geistlichen in ordnungsgemäß besetzten fremden Pfarreien

3. Amtshandlungen von gesetzmäßig angestellten Geistlichen in der eigenen Pfarrei für fremde Pfarrangehörige

4. Amtshandlungen von gesetzmäßig angestellten Hilfsgeistlichen bei vakanter Pfarrstelle

V. Das Amtierungsverbot für Sukkursalpfarrer

1. Die Problematik, die diesbezüglichen maigesetzlichen Bestimmungen und die Auseinandersetzung mit dem Bischof von Trier

2. Die Einspruchserhebung und die Benachrichtigung

VI. Das Amtierungsverbot für Kapläne bei vakanter oder provisorisch besetzter Pfarrstelle

VII. Das Amtierungsverbot für maigesetzwidrig angestellte Pfarrgeistliche und die Folgen

1. Die Amtsübertragung, der Amtsantritt und die behördliche Belehrung von Priester und Gemeinde

2. Das Verbot des Pfarrhausbezugs

3. Das Verbot der Kirchenbuchführung

4. Das Verbot des Unterrichts an öffentlichen Schulen

5. Das Dienstleistungsverbot für als Küster und Organist tätige Lehrer

VIII. Die Strafverfolgung

1. Die Einleitung der Strafverfolgung

2. Das Gerichtsverfahren

3. Die Amtsenthebung

4. Das Reichsgesetz vom 4. Mai 1874

5. Die Aufenthaltsversagung

6. Die Aufenthaltszuweisung

7. Die Landesverweisung

8. Zwischenfazit I: Das Ausmaß der staatlichen Durchsetzungs- und Implementierungsfähigkeit

Band 2

IX. Die staatliche Exekution und die Reaktion von Klerus und Bevölkerung

1. Die Amtierungsermittlung

2. Die Fahndung

3. Die Verhaftung und Ab- bzw. Wegführung

a) Die Verhaftung und Abführung von verurteilten Geistlichen

b) Die Verhaftung und Wegführung von ausgewiesenen Geistlichen

4. Der Gefängnisaufenthalt

5. Die Rückkehr aus dem Gefängnis

6. Das Exil

7. Der Privatfriede mit dem Staat

8. Die seelsorgliche Betreuung trotz Amtierungsverbot und Stellenvakanz

9. Pfarrerwahlen

10. Innergemeindliche Konflikte

11. Innerbehördliche Widerstände

12. Zwischenfazit II: Die kulturkampfbedingte Klerusverfolgung als Motor für eine Milieuverfestigung und -abschließung, für eine Verschmelzung von Volks- und Elitenfrömmigkeit und für eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Pfarrklerus und Laienschaft

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X. Die Auswirkungen der Klerusverfolgung auf die Seelsorge

XI. Schlussüberlegungen

Statistikanhang

Quellenanhang I: Dienstinstruktionen, Rundverfügungen und allgemeine Erlasse

Quellenanhang II: Die Amtsenthebung des Trierer Pfarrers C. Classen

Quellenanhang III: Die Verhaftung und Ab- bzw. Wegführung von Pfarrgeistlichen

Quellenanhang IV: Der öffentliche Empfang von Pfarrgeistlichen anlässlich ihrer Rückkehr aus dem Gefängnis

Quellenanhang V: Bittgesuche und Eingaben

Quellenanhang VI: Gerichtsurteile

Quellenanhang VII: Erlebnisberichte von Pfarrgeistlichen des Bistums Trier

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

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IX. Die staatliche Exekution und die Reaktion von Klerus und Bevölkerung

In diesem Kapitel soll die Exekutivpraxis beleuchtet werden. Näherhin geht es um die Exekutionsmittel und -methoden, die Exekutionsresultate und -erfolge, die Exekutionsfähigkeit und -wirksamkeit, die Exekutionsbehinderungen und -hemmnisse, die Exekutionssabotierungen und -obstruktionen, die Exekutionsfehler und -mängel; kurzum steht die staatliche Exekutivmaschinerie in Aktion und in Interaktion mit der katholischen Geistlichkeit und Bevölkerung im Mittelpunkt dieses Kapitels.

1. Die Amtierungsermittlung

Als Voraussetzung für die Strafverfolgung verbotener geistlicher Amtshandlungen mussten die Ortsbehörden erst einmal die Fakten, d.h. in diesem Fall die Art, die Umstände, den Verrichtungsort, die Tatzeit und den Täter der illegalen Amtshandlungen ermitteln. Eine Recherchemethode war die unmittelbare polizeiliche Observierung des Verdächtigen, welche angesichts der Natur der strafverfolgten Taten primär in oder in unmittelbarer Umgebung der Kirche stattfinden musste, sodass schon Zeitgenossen höhnten, Polizisten hätten noch nie so häufig Kirchen und Gottesdienste besucht wie während des Kulturkampfes. Ein aufschlussreiches und teils bizarres Beispiel ist die Observierung des amtierungsunbefugten Kaplans N. Gombert zu Mehring, der verdächtigt wurde, in der Sakristei seiner Pfarrkirche stille Messen zu lesen, die in einer inneren Verbindung mit den gleichzeitig im Kircheninnenraum zur Laienandacht versammelten Gläubigen stünden, sodass aus den Privatmessen öffentliche Messen für eine Gemeinde und damit verbotene geistliche Amtshandlungen würden. Behufs Fakteneruierung ging der Gendarm Pakusa am 25. Februar 1877 in die Mehringer Pfarrkirche, wo er feststellte, dass die Gläubigen sich so verhielten, als ob vor ihnen am Alter ein Priester eine Messe zelebrieren würde, und argwöhnte, der neben dem Altar sitzende Küster verfolge den Verlauf der in der Sakristei vom Kaplan gelesenen stillen Messe und informiere darüber mittels entsprechender Zeichen die Gläubigen, die dadurch in den Stand gesetzt würden, die üblichen Riten (Kreuzschlagen, Niederknien usw.) zu vollziehen. Als er zwei Tage später in Zivilkleidung wieder in die Kirche ging und dasselbe Phänomen beobachtete, verließ er zur Überprüfung seiner Vermutung die Kirche und inspizierte von außen die Sakristei, wobei er bemerkte, dass der Kaplan dort so laut die Messe betete, dass der Küster ihn am Altar verstehen und die vor ihm Versammelten per Zeichen entsprechend benachrichtigen konnte.1 Nachdem ←467 | 468→der Kaplan auch aufgrund dieser Ermittlungen vom Landgericht Trier in zweiter Instanz rechtskräftig zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden war,2 musste er zwar dieses Verfahren zur seelsorglichen Weiterbetreuung seiner Gemeinde trotz Amtierungssperre aufgeben, zumindest jedoch während einer stillen Messfeier die Verbindungstür zwischen Sakristei und Kirche schließen; dafür engagierte er sich stärker bei den Laienandachten, weshalb weiterer Ermittlungsaufwand vonnöten war, um festzustellen, ob dieses Engagement den Charakter einer verbotenen Amtierung annimmt. Diese Aufgabe zwang auch den Polizeidiener von Mehring wiederholt zu dienstlichen Kirchenbesuchen, bei denen er den Geistlichen während der Laienandachten unter den Andächtigen ohne Ornat erblickte und einmal auch seinen Kopf unbemerkt in die Sakristei hineinsteckte, wo er ihn in seinem Civilanzug betend vorfand.3 Der protestantische Hülfs-Fuß-Gendarm Steinbring musste zum Jahreswechsel 1878/79 zwecks Eruierung eventueller strafbarer ←468 | 469→Amtshandlungen des Kaplans Gombert dreimal während der Arbeit und als deren Bestandteil einem katholischen Gottesdienst beiwohnen. Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1878 trat er früh morgens um 6 Uhr in Mehring seinen Dienst an, der damit begann, dass er sich eine gute Stunde bis kurz vor 8 Uhr hinter der Kirchhofsmauer ungesehen aufstellte. Nach dem Glockenläuten ging er zusammen mit den übrigen Gemeindemitgliedern in die Kirche zur Laienandacht, bei welcher der Kaplan vor dem Altar Erbauliches zum Weihnachtsfest aus einem Buch in deutscher Sprache vorlas.4 Vier Tage später, am 29. Dezember 1878, sah sich der evangelische Gendarm durch den Auftrag zur Priesterbeschattung wiederum genötigt, während seiner Dienstzeit an einem katholischen Gottesdienst teilzunehmen. Nachdem in Mehring die Glocken zum Zehn-Uhr-Gottesdienst geläutet hatten, ging er kurz nach dessen Beginn ebenfalls in die Kirche, wo er 300 bis 400 Menschen vorfand und im Chor Platz nahm. Bei meinem Eintreffen in der Kirche – so rapportierte der Gendarm – sah ich den Beschuldigten am Altare stehen, das Gesicht demselben zugedreht, und laß aus einem Buche etwas vor, welches von der versammelten Gemeinde nachgesprochen wurde. Jedoch habe ich dieses nicht verstanden, da ich evangelischer Konfession bin.5 Drei Tage später verschaffte ihm die ←469 | 470→berufliche Pflicht zur Observierung des fraglichen katholischen Geistlichen erneut die Chance, durch den dienstlichen Besuch des Neujahrsgottesdienstes seine inzwischen erworbenen Kenntnisse der katholischen Religionsausübung zu vertiefen. Am Neujahrsmorgen schon um 7 Uhr in Mehring angekommen, musste er sich in dem erst um 10 Uhr beginnenden Gottesdienst nach der Verkündigung eines Eheaufgebots und einer Beerdigung noch eine halbstündige Predigt des Kaplans anhören, die dieser vor dem Altar stehend an die Gläubigen richtete.6 Die Verwendung von Ironie und Sarkasmus als Stilmittel, wozu die Schilderung solcher Szenen unwillkürlich verleitet und wovon die zeitgenössische ultramontane Kampfpresse exzessiv Gebrauch machte, spiegelt die Tatsache wider, dass der erklärtermaßen säkulare, allein weltliche Zwecke verfolgende Staat sich leicht desavouiert und lächerlich macht, wenn er einen Priester bei genuin religiösen Kulthandlungen in einem Sakralraum, deren Hoheit und Heiligkeit verletzend, durch sehr profane Polizisten mit sehr weltlichen Methoden zu sehr irdischen Zwecken observieren lässt. Ähnlich wie bei einem Madonnenbild mit einem sich erleichternden Jesuskind stellt die ehrfurchtheischende Sakralität einer Szenerie die ordinäre Profanität einer darin agierenden Person und vollzogenen Aktion besonders drastisch bloß und gibt diese der Lächerlichkeit preis.

Da die auch anderwärts und zu anderen Zwecken benötigten Polizisten unmöglich die der unbefugten Vornahme von Amtshandlungen verdächtigten Geistlichen lückenlos überwachen konnten und zum regelmäßigen Kirchenbesuch abgestellt werden konnten,7 waren die Behörden zur Strafverfolgung in vielen ←470 | 471→Fällen auf Zeugenaussagen angewiesen, sodass neben der polizeilichen Observierung die Zeugenbefragung die zweite zentrale Methode zur Ermittlung von verbotenen Amtierungen und zur Täterüberführung darstellte.8 Doch standen die Behörden dabei vor dem notorischen Problem, für die ihnen zu Ohren gekommenen verbotenen Amtshandlungen im Nachhinein zuverlässige und vor Gericht aussagebereite Zeugen zu finden; selbst Regierungsanhänger und Gemeindebeamte schwiegen oder schützten Unkenntnis vor aus Angst vor Repressalien und Anfeindungen seitens ihrer Mitbürger.9 In vielen Fällen gaben einbestellte ←471 | 472→Gottesdienstbesucher bei der Zeugenvernehmung an oder vor, den der illegalen Amtierung verdächtigten Zelebranten nicht zu kennen,10 was angesichts ←472 | 473→der vielen herumvagierenden ‚Wandergeistlichen‘ im Einzelfall sogar stimmen konnte und jedenfalls schwer widerlegbar war; oftmals wurde die Unkenntnis auch bewusst herbeigeführt11. Selbst Lehrer, die doch Staatsbedienstete waren, ←473 | 474→konnten sich weigern, als Zeugen zu fungieren. Als nämlich der Bürgermeister von Bassenheim Lehrer aus Rübenach und Mülheim zur regelmäßigen Berichterstattung darüber aufforderte, welche Amtshandlungen und an welchen Tagen die dortigen amtierungsunbefugten Geistlichen Reiss bzw. Zimmermann verrichten,12 holte er sich von den Lehrern drastische Abfuhren, weil diese sich nicht als Hilfspolizisten und Zuträger instrumentalisieren lassen wollten und zudem fürchteten, sie würden sich durch Denunziationen die Verachtung ihrer Mitbürger in einem solchen Maße zuziehen, dass eine gedeihliche Berufsausübung unmöglich werden würde.13 Zwar leisteten anonyme Denunzianten, welche die Vornahme von Amtshandlungen durch einen dazu nicht befugten Geistlichen ←474 | 475→anzeigten und die Namen von Zeugen nannten,14 den Behörden nicht erbetene Ermittlungshilfe, doch sie vermochten die Ermittlungsschwierigkeiten, welche die Schweigekartelle von potentiellen Zeugen den Ermittlungsbeamten bereiteten, nicht substantiell zu kompensieren. Der kulturkämpferische Landrat von Bitburg beklagte bitterlich die Behinderung der Strafverfolgung, die diese bis in regierungsloyale Kreise hineinreichende und selbst Lügen nicht scheuende Verschwiegenheit der Bevölkerung verursachte: Die Ermittelung kirchenpolitischer Vergehen ist außerordentlich schwierig, weil fast die ganze Bevölkerung die Behörden nicht allein nicht unterstützt, vielmehr im Gegentheil mithilft, dieselben zu hintergehen, und Lügen in solchen Sachen für ein Gott gefälliges Werk hält. Aber ←475 | 476→auch selbst reichsfreundliche Personen halten aus Scheu vor Differenzen hinterm Berge.15

Wie bereits bei der Darstellung der Strafverfolgung beschrieben, meldeten die Bürgermeister als die die Ermittlungen leitende und teils auch durchführende Ortsbehörde die Ermittlungsergebnisse der zuständigen Staatsanwaltschaft zwecks Einleitung der Strafverfolgung und der vorgesetzten Behörde zu deren Information.16

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2. Die Fahndung

Anders als man zunächst erwarten könnte, thematisiert dieses Unterkapitel fast gar nicht die Fahndung nach rechtskräftig verurteilten Geistlichen, um diese ins Gefängnis abzuführen, da die Fahndung zwecks Strafverbüßungszuführung im Exekutivalltag der Klerusverfolgung nur eine geringe Rolle spielte. Dies liegt einerseits darin begründet, dass die meisten Geistlichen keine Verbergungs- und Verdunkelungsversuche unternahmen,17 sondern sich mehr oder minder freiwillig verhaften ließen, aber auch darin, dass ein rechtskräftig zu einer Gefängnisstrafe verurteilter Priester, der das ‚Absitzen‘ der Gefängnisstrafe dauerhaft vermeiden wollte, ins nichtpreußische Reichsgebiet oder ins nichtdeutsche Ausland floh (und fliehen musste18), wo er für die Behörden spurlos verschwand. Entsprechend der Quellenlage geht es in diesem Unterkapitel daher fast ausschließlich um die polizeiliche Suche und Fahndung nach ausgewiesenen oder gar schon des Landes verwiesenen Priestern, die dem Aufenthaltsverbot oder der Landesverweisung zuwiderhandelten, indem sie – häufig verkleidet – aus ihrem gewählten Versteck oder Exilort heimlich in ihre angestammte Pfarrei zurückkehrten und dort verbotenerweise einen Gottesdienst, manchmal auch – insbesondere an hohen Feiertagen – mehrere Gottesdienste an mehreren Tagen hintereinander abhielten. Anschließend gelang es ihnen häufig wieder zu verschwinden, bevor die Polizei oder der Bürgermeister überhaupt von ihrer Anwesenheit erfuhren, sodass die behufs Amtierungsunterbindung vorgesehene Festnahme und Zwangsverbringung aus dem aufenthaltsverbotenen Territorium nicht erfolgen konnten.19 ←477 | 478→ ←478 | 479→Manchmal blieben solche Priester auch längere Zeit an ihrem Wirkungsort und nahmen bei kirchentreuen Gemeindemitgliedern Quartier.20 Jedenfalls entwickelte sich eine allen polizeilichen Zugriffsversuchen trotzende muntere Geheimmobilität von gesperrten und aus ihrer Pfarrei verbannten Priestern,21 wodurch sich die Behörden verständlicherweise vorgeführt und teils regelrecht verhöhnt wähnten. Der Präsident der Regierung Trier beschrieb dieses übliche Vorgehen, das er – sicherlich irrtümlich – von der Bistumsleitung vorgeschrieben glaubte, in der Sache zutreffend folgendermaßen: Den gesperrten Geistlichen scheint in den ←479 | 480→letzten Monaten von dem Generalvikariat genau vorgeschrieben zu sein, wie sie sich zu verhalten haben; wenigstens zeigt sich in dieser Hinsicht überall ein gleichmäßiges Verfahren. Sie haben alle auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 4. Mai d. J. weiterfungirt, der Verhaftung aber sich möglichst lange entzogen. Sie verließen ihre Gemeinden und kehrten alle 8 – 14 Tage unverhofft, meist verkleidet, zurück, um sogleich wieder zu verschwinden. In kurzen Röcken und hellen Beinkleidern, mit rundem Hut, Stock und Brille, einzelne sogar in blauen Kitteln, schlüpften sie in die Kirche, kleideten sich in der Sakristei um und erschienen in Amtstracht vor dem Altare, um Messe zu lesen. Andere wurden wochenlang bei den Gemeindegliedern versteckt gehalten und erhielten so ihre Anhänger in beständiger Aufregung. Dem Ausweisungsbefehle leisteten sie nicht Folge.22

Die Entdeckung, Festnahme und Wegbeförderung von verbannten Priestern, die an ihren zugewiesenen Wirkungsort zwecks Gottesdienstverrichtung heimlich zurückkehrten, wurden durch verschiedene Faktoren erschwert. Erstens nutzten die Priester, wie schon der Trierer Regierungspräsident kritisch anmerkte, weidlich das einfache Mittel der Verkleidung. Dazu muss man bedenken, dass den Priestern auch außerhalb der Kirche und der Gottesdienste das Tragen einer eigenen klerikalen Standesbekleidung vorgeschrieben war, in der Regel eines Talars oder einer Soutane, und dass auch das Tragen eines Bartes nach allgemeiner Gewohnheit unstatthaft war,23 sodass ein katholischer Priester in der Öffentlichkeit unmittelbar und von weitem als solcher zu erkennen war. Wenn ein Priester also keinen Talar und keine Soutane, sondern normale Laienkleidung trug und sich einen Bart wachsen ließ, war er schon und galt als verkleidet.24

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Zweitens wurde die Auffindung behufs Zwangswegbringung der heimlich an ihren früheren Wirkungsort zurückkehrenden ausgewiesenen Priester durch die unzureichende Methode der Personendarstellung behindert, denn zur Identifizierung des Gesuchten dienten allein schriftliche Personenbeschreibungen, während ←481 | 482→Fotographien oder Zeichnungen nicht zur Fahndung verwendet worden zu sein scheinen. Die ‚Signalements‘25 gaben aber den Polizisten, die den Gesuchten nicht von Angesicht zu Angesicht kannten, nur ein unzulängliches Mittel zur Personenerkennung an die Hand. Dementsprechend erzählen die Erlebnisberichte von einer Vielzahl von Fällen, in denen ein ausgewiesener Priester, vor allem wenn er sich als ‚Zivilist‘ verkleidete, von der Polizei unerkannt und unbehelligt auch bei Tageslicht im aufenthaltsverbotenen Regierungsbezirk – aber natürlich außerhalb seines früheren unmittelbaren Amtierungsgebiets – lange herumreisen konnte, während eine Verhaftung, ein Mindestmaß an Identitätsverheimlichungsbemühung vorausgesetzt, meist ein persönliches Kennen des Verhafteten seitens des Verhaftenden voraussetzte, falls Letzterer nicht durch die Begleitumstände oder Auskünfte Dritter um die Identität einer Person wusste.

Drittens wurde speziell im Regierungsbezirk Trier eine Ergreifung durch die Nähe nichtpreußischer Bundesstaaten und des Auslandes, insbesondere des Großherzogtums Luxemburg, erschwert, denn viele ausgewiesene oder ausgebürgerte Priester fanden dort ein vor polizeilichem Zugriff relativ geschütztes Refugium, ←482 | 483→von dem aus sie schnell und ausflugsartig an ihren früheren Wirkungsort zurückkehren konnten und in das sie sich nach der Amtierung rasch wieder absetzen konnten.26

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Viertens wurden ein Aufspüren und Abtransport von ausgewiesenen amtierungsunbefugten Priestern, die ihrer Heimatpfarrei27 eine Stippvisite abstatteten, am stärksten durch eine breite Solidarität der katholischen Bevölkerung gehemmt, welche – wie der Landrat von Kreuznach der Regierung Koblenz am Beispiel des ausgewiesenen Pfarrers C. Müller zu Schöneberg klarzumachen suchte – ein Amtierungs- und Aufenthaltsverbot für einen ihrer Pfarrgeistlichen, selbst wenn es eine gesetzliche Grundlage hatte, als staatlichen Gewalt- und Willkürakt empfand und sich, darin von der katholischen Presse und Geistlichkeit bestärkt, zum Widerstand berechtigt wähnte, zumal sie auch ein eigenes originäres Interesse an einem gottesdienstlichen Leben mit Messen, Taufen und Beerdigungen hatte.28 Als Folge ←484 | 485→dieser Einstellung klagte der Landrat von Daun problembezeichnend, daß es bei der Unterstützung, die die Contravenienten bei der Bevölkerung finden, und den unzureichenden polizeilichen Kräften sehr schwer fällt, derselben habhaft zu werden.29 Konkret bestand diese Beihilfe einmal in der Bereitstellung von Unterschlupf, da das Pfarrhaus zwar bisweilen ein besonders raffiniertes Versteck sein konnte, weil man den Gesuchten dort am wenigsten vermutete,30 sich im Allgemeinen aber wegen der leichten Entdeckungsgefahr doch nicht empfahl und daher ein Unterkommen bei zuverlässigen, kirchentreuen Katholiken bevorzugt wurde, wobei das Quartier häufig sicherheitshalber gewechselt wurde.31 So lamentierte die Regierung ←485 | 486→Koblenz, dass es dem ausgewiesenen Pfarrer A. Stiff zu Dümpelfeld mit Hülfe der ultramontanen Gemeindeglieder gelungen war, sich schon wochenlang in Dümpelfeld aufzuhalten und die Wachsamkeit der Behörden durch einen fortwährenden Wechsel seines Aufenthalts zu täuschen.32 Weiterhin äußerte sich die populare Unterstützung in der Übernahme von Benachrichtigungs-, Beobachtungs- und Bewachungsaufgaben, um einen Priester vor Entdeckung und Verhaftung zu bewahren. Insbesondere wenn ein Priester gerade amtierte, wurde sogar ein System von Wachtposten organisiert, welche ihn beim Herannahen von Polizisten alarmierten, um ihm eine rechtzeitige Flucht zu ermöglichen.33 So meldete ein Lehrer aus Neunkirchen, ←486 | 487→ ←487 | 488→dass man zum Schutz des aus dem Regierungsbezirk Trier ausgewiesenen Kaplans C. Heinen zu Neunkirchen Schulknaben als Wächter aufstellt, um jedesmal frühzeitig die Ankunft irgendeines Gendarmen oder hiesigen Wächters der öffentl. Ordnung zu melden […]. Wenn der Kaplan eine Promenade macht, so begleiten ihn 2 Schulknaben, um das Terrain auszuspioniren, wodurch mitunter recht komische Scenen hier vorkommen.34 Außerdem leisteten Einwohner logistische, technische und organisatorische Hilfsdienste bei der Anreise des Pfarrgeistlichen zum Pfarrort und vor allem bei der Abreise, die häufig genug den Charakter einer Flucht annahm, im Anschluss an die Amtierung.35 Schließlich äußerte sich der Beistand ←488 | 489→der Gläubigen in ihrer beharrlichen Weigerung, über den Aufenthaltsort eines ausgewiesenen Priesters Auskunft zu geben, sodass die Behörden auf eine Mauer des Schweigens stießen, und zwar auch bei Nichtkatholiken, wenn sie die Kulturkampfgesetzgebung ablehnten, und oft auch bei Regierungsanhängern, die sich aus Furcht vor Repressalien in die Schweigemauer einreihten.36 So hatte der aus ←489 | 490→dem Regierungsbezirk Koblenz ausgewiesene Kaplan H. Schmitz zu Andernach am 16. Dezember 1874 in der Filiale Namedy Frühmesse gehalten und war danach wieder verschwunden. Der Bürgermeister von Andernach berichtete über seine Nachforschungen zum Verbleib und zur Fluchtrichtung des Kaplans: Auf meine an einzelne Namedyer gerichtete Anfrage, wohin derselbe sich gewandt habe, erhielt ich stets die gleiche Antwort: Das weiß ich nicht.37

Aus diesen Gründen, wobei der letztgenannte Grund, die Existenz einer breiten ‚Unterstützerszene‘, der bedeutsamste ist, stellte die Fahndung nach amtierungsunbefugten verbannten Geistlichen, die an ihren früheren Wirkungsort zurückkehrten, den preußischen Exekutivapparat vor erhebliche Schwierigkeiten und brachte so manchen Behördenvertreter an den Rand der Verzweiflung, was im Folgenden anhand einiger Beispiele nachverfolgt werden soll. So nutzte der aus mehreren Kreisen des Regierungsbezirks Köln ausgewiesene Rektor Kochen zu Eudenbach im Siegkreis die Nähe des Regierungsbezirks Koblenz, um den polizeilichen Nachstellungen zu entgehen.38 Der Bericht des zuständigen Bürgermeisters ←490 | 491→enthüllt, in welchem Ausmaß ein geschickt taktierender Geistlicher, wie ein Fisch im Meer seiner Sympathisanten, Unterschlupfgewährer, Leibgardisten und Fluchthelfer schwimmend, alle polizeilichen Zugriffsversuche ins Leere laufen lassen und die personell unzureichend ausgestatteten Behörden regelrecht zum Narren halten konnte.39 Auch Kaplan J. Leusch zu Kinheim, der gemäß § 5 des Reichsgesetzes vom 4. Mai 1874 bis zur Beendigung seines Strafverfahrens aus den Kreisen Wittlich und Bernkastel ausgewiesen war, vermochte dank seiner Anhänger und Getreuen alle Festnahmebemühungen zu konterkarieren. Als er nach Kinheim zurückkehrte, wo ihm eine Witwe Unterschlupf gewährte, beschied diese den zu ihr hingeschickten und sich nach dem Kaplan erkundigenden Polizeidiener in rüder Weise, darnach hätte er nicht zu fragen, das ginge ihn nichts an, er möge sich zur Thüre hinausmachen.40 Eine Hausdurchsuchung kurze Zeit später förderte nur seine Kleidungsstücke und Bücher, aber nicht den Kaplan selbst zutage. Als der ←491 | 492→Landrat von Wittlich dann an einem Samstagabend die Nachricht erhielt, dass der Kaplan wahrscheinlich zur Zelebrierung der Sonntagsmesse wieder in Kinheim eingetroffen sei, schickte er am folgenden Sonntagmorgen alle drei Wittlicher Gendarmen dorthin. Obwohl diese schon um 5 Uhr morgens in Kinheim eintrafen, das Haus der Witwe und einige Nachbargebäude durchsuchten und bis zum Ende der üblichen Gottesdienstzeiten gegen Mittag dort verblieben, konnten sie nur in Erfahrung bringen, dass der Kaplan am Abend vorher Beichte gehört hatte, aber ihn selbst wieder nicht auffinden. Der Landrat versprach der Regierung Trier, die Recherchen fortzusetzen, ob mit besserem Erfolge, muß ich indessen bezweifeln, da die ganze Bevölkerung des Ortes auf Seite des Leusch steht und ihm zur Flucht und Geheimhaltung behülflich sein wird.41

Vor allem die Erlebnisberichte der Geistlichen quellen über von Beispielen für die Solidarität der Bevölkerung, die sich in Versteckhilfen, Transportdiensten, Unterkunftsgewährungen, Warnungen und Denunziationsverweigerungen bekundete. Eine von J. Büsch, damals Kaplan in Treis, geschilderte Episode sei nacherzählt: Der aus dem Regierungsbezirk Koblenz ausgewiesene Kaplan wurde an Heiligabend des Jahres 1874 morgens um 9 Uhr aus dem Koblenzer Gefängnis ←492 | 493→entlassen. Der natürlich beabsichtigten Rückkehr in seine Heimatgemeinde rechtzeitig zum Weihnachtsfest standen aber drei Schutzleute entgegen, die ihm durch die Straßen von Koblenz folgten. Er ging in die Wohnung eines Freundes, zog die schon bereitliegenden Zivilkleider an und ging wie ein Laie gekleidet durch eine andere Tür des Eckhauses wieder hinaus. Als die vor dem Hause lange wartenden Schutzleute Verdacht schöpften und das Haus gründlich durchsucht wurde, hatte der Kaplan bereits ein moselaufwärts nach Cochem fahrendes Moseldampfschiff bestiegen. Als man auf der Moseluferstraße die Kutsche eines ihn verfolgenden Kommissars zu sehen glaubte, gab ihm der Kapitän des Schiffes flugs einen Matrosenanzug mit großer Kapuze, holte ihn mit auf die Kommandobrücke und ließ ihn mit ihm gemeinsam das Steuerruder führen. Als an einer Station der Gendarm von Treis das Dampfschiff bestieg, um nach dem Kaplan zu suchen, schob der Kapitän diesen in seine Privatkabine und zog den Schlüssel ab. Die anderen Passagiere, darunter auch viele Einwohner von Treis, die ihm entgegengefahren waren, leugneten auf Nachfrage, das Versteck des Kaplans zu kennen. In Treis gegen 17 Uhr angekommen, stieg der Gendarm aus und musste sich ob seiner gescheiterten Festnahmebemühungen seitens der am Ufer wartenden Schaulustigen Neckereien gefallen lassen, während der Kaplan bis zur Station Pommern weiterfuhr, im dortigen Pfarrhaus einen Bauernkittel anzog, in einem Fischerboot über die Mosel setzte und über den schneebedeckten Abhang ohne Weg und Steg nach Treis eilte. Dort nahm er natürlich nicht im Pfarrhaus Quartier, sondern in der Nähe der Kirche bei einem guten Freunde, wie er es auf dem Schiff mit den ihn abholenden Einwohnern von Treis verabredet hatte. Abends war der Kaplan schon gut geborgen und umgeben vom Herrn Pastor und guten Freunden und hielt um Mitternacht die Christmette. Am nächsten Abend traf sich Kaplan Büsch mit seinen Vertrauten in einem Wirtshaus und es ging hoch her. Da auf einmal hieß es: „Der Gensdarm kommt!“ Schnell waren die Leute dabei, den Kaplan zu verstecken, und zwar in einem aufgeworfenen Kornhaufen.

Der Fall des im Juli 1874 aus dem Regierungsbezirk Trier ausgewiesenen und schließlich Ende November 1874 ausgebürgerten Pfarrers P. Maringer zu Niederbettingen beleuchtet besonders aufschlussreich die Funktionsweise, die Probleme, aber auch einen Grund für den letztlichen Erfolg der staatlichen Exekution des Reichsgesetzes vom 4. Mai 1874. Zunächst vermochte zwar der Pfarrer wiederholt in seine angestammte Pfarrei zur Kultverrichtung zurückzukehren, ohne dass die Polizei dies verhindern und seiner Person zwecks Wegbeförderung aus dem Aufenthaltsverbotsgebiet immer habhaft werden konnte.42 Die Staatsmachtvorführung ←493 | 494→erreichte ihren Höhepunkt an Weihnachten des Jahres 1874, als ihm auflauernde Gendarmen nicht einen mehrtägigen Aufenthalt in Niederbettingen und die Zelebrierung mehrerer Weihnachtsgottesdienste unterbinden konnten. Obwohl zwei Gendarmen am ersten Weihnachtsfeiertag bei großer Kälte in tiefem Schnee ab drei Uhr morgens im Freien auf Posten standen, gelang ihnen trotz der angestrengtesten Bemühungen nicht die Verhaftung des Pfarrers, weil die Dorfbewohner über seine Sicherheit wachten, ihn von der Ankunft der Gendarmen rechtzeitig warnend in Kenntniß setz[t];en und die Gendarmen obendrein noch verhöhn[t]en.43 Der diesen Vorfall rapportierende Landrat von Daun verortete den Hauptgrund für den exekutiven Fehlschlag sicherlich zutreffend in dem Mangel an Polizisten bei gleichzeitiger Obstruktionshaltung der Bevölkerung, als er prophezeite, dass der Pfarrer bei den zu erwartenden künftigen Besuchen seiner Heimatpfarrei wieder mit Hülfe der Bevölkerung erneut seiner Verhaftung werde entkommen können, wenn nicht ←494 | 495→ausreichende polizeiliche Kräfte zur Verfügung gestellt werden. Konkret forderte der Landrat die dauerhafte Stationierung eines Polizisten in jeder Ortschaft der Pfarrei und die Heranziehung der Gemeinden für die dadurch verursachten Kosten, zumal er der Passivität der örtlichen Polizeiverwaltung eine gehörige Mitschuld am Scheitern der Ergreifung gab.44 Der weitere Fortgang des Versuchs, die wiederholte Rückkehr eines verbannten Pfarrers an seinen früheren Posten zu vereiteln, offenbaren sowohl die Exekutivprobleme wie einen Grund für die letztendliche Fähigkeit des Staates, ausgewiesenen oder ausgebürgerten Geistlichen solche Besuche zu verleiden. Nachdem nämlich die Regierung Trier den Vorschlägen des Landrats zugestimmt hatte, wurde ein Fußgendarm nach Niederbettingen abkommandiert. Da ihn aber kein Einwohner des Ortes bei sich einquartieren wollte, wies ihm der Bürgermeister ausgerechnet das leerstehende Pfarrhaus als Unterkunft zu, also die Wohnung desjenigen, den er im Falle einer Rückkehr in den Ort verhaften sollte. Für eine notdürftige Möblierung musste der Gendarm seine eigenen Möbel nach Niederbettingen transportieren lassen. Da sich auch kein Einwohner von Niederbettingen zu seiner Beköstigung bereitfand, musste er überdies eine Haushaltshilfe anstellen, die ihm für 4 Silbergroschen täglich und freie Kost den Haushalt führte und ihn bekochte. Die Kosten sowohl für den Möbeltransport als auch für die Haushälterin wie für den erforderlichen Kochherd wurden allerdings der Zivilgemeinde aufgebürdet. Weiterhin luden der Landrat und der Bürgermeister die Gemeinderäte der zur Pfarrei gehörigen Ortschaften vor und verdeutlichten ihnen die finanziellen Folgen, welche ihnen aus der Beherbergung und Deckung ihres Pfarrers drohten, insofern die Kosten für eine längerfristige Polizeistationierung vor Ort auf die Gemeindekasse abgewälzt würden, was sich ←495 | 496→natürlich auf die Gemeindesteuern auswirken musste. Daraufhin ersuchten – so hatte der Bürgermeister in Erfahrung gebracht – mehrere Einwohner schriftlich ihren Pfarrer, zur Vermeidung von Kosten und sonstigen Unannehmlichkeiten, die ein dauernder Aufenthalt eines oder mehrerer Gendarmen in ihrer Pfarrei mit sich bringe, auf weitere Besuche zu verzichten, und der Gendarm hielt angesichts dieser veränderten Umstände eine weitere Stippvisite des Pfarrers, der Gerüchten zufolge eine Kaplanstelle in Luxemburg angenommen hatte, für unwahrscheinlich. Im Vertrauen darauf wollte der Landrat auf die von der Regierung Trier bereits genehmigte Stationierung zweier weiterer Polizisten zu Lasten des Gemeindeetats vorläufig verzichten, freilich im Fall einer Rückkehr des Pfarrers darauf zurückkommen. Die dann fällige Belastung der Gemeinde hielt er deswegen für berechtigt, weil alle involvierten Gemeindevorsteher bei ihrer angeordneten Vernehmung in persönlichen protokollierten Erklärungen ihre Mitwirkung bei der Ergreifung ihres Pfarrers abgelehnt hatten. Dennoch wollte der Landrat die Gemeindevorsteher nicht persönlich für diese Weigerung und für den Boykott der polizeilichen Festnahmebemühungen verantwortlich und haftbar machen, weil sie durch eine Mitwirkung dem Hasse der fanatisirten Bevölkerung und den größten Chicanen und Widerwärtigkeiten sich aussetzen würden. Zur Gemeindedisziplinierung und zur Fernhaltung des Pfarrers hielt der Landrat es für zielführender, die ganze Gemeinde, die ihn unterstützt, im Falle der wiederholten Rückkehr desselben durch Belastung mit den Kosten der zu ergreifenden Gegenmaßregeln auf Grund des Gesetzes vom 11. März 1850 über die Polizeiverwaltung zu maßregeln.45 Der Landrat ←496 | 497→ ←497 | 498→wollte also statt einzelne Personen die Gemeinde als ganze gewissermaßen in Sippen- und Beugehaft nehmen und für die durch den Polizeieinsatz entstehenden Kosten aufkommen lassen. Die Strategie des Landrats zeitigte den staatlicherseits gewünschten Effekt und Erfolg. Zwar musste er einräumen, dass die Pfarrangehörigen in dem in ihrer Mitte platzierten Gendarmen einen verhaßten Feind erblicken und ihren Grimm durch abstoßendes, zurückhaltendes Benehmen und mancherlei auf Verhöhnung des Gendarmen berechnete Intriguen zu erkennen geben, aber entscheidend war, dass Pfarrer Maringer in der Osterzeit des Jahres 1875 nicht in seine Pfarrei zurückkehrte, sodass der Landrat den dort stationierten Gendarmen abziehen und sich darauf beschränken konnte, die Gendarmen von Nachbargemeinden mit der intensiven Überwachung der Pfarrei Niederbettingen zu beauftragen. Sollte allerdings Pfarrer Maringer mit Unterstützung und unter dem Schutz der Bevölkerung die bevorstehende Aushebung von Wehrpflichtigen zum Besuch seiner früheren Pfarrei nutzen, so wollte der Landrat auf seinen ursprünglichen, von der Regierung Trier gebilligten Plan zurückgreifen, nämlich mehrere Polizisten in der Pfarrei zu stationieren und die Kosten dafür der Zivilgemeinde aufzubürden.46

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Glücklicherweise ist dank des noch während des Kulturkampfes publizierten Erlebnisberichts des Pfarrers Maringer auch die Sicht der Gegen- und Opferseite überliefert. Das ganze sich über Monate hinziehende Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, für welches der weniger verniedlichende und verharmlosende Begriff ‚organisierte Menschenjagd‘ vielleicht sachangemessener ist, soll hier nicht mit seinem Detailreichtum und seiner bisweilen aufleuchtenden Situationskomik nacherzählt werden, da es dort nachgelesen werden kann; nur auf einige wesentliche Punkte soll aufmerksam gemacht werden: Zunächst bedeutete eine Ausweisung einen tiefen persönlichen Lebenseinschnitt für den Betroffenen, brachte sie doch den Verlust der Heimat und zwischenmenschlicher Bande mit sich, vor allem wenn durch eine Ausweisung nicht nur der Besuch der zugewiesenen Pfarrei, sondern auch des Geburtsorts mit den dort eventuell noch lebenden Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten verboten war. Pfarrer Maringer fasste den Entschluss, der Ausweisung so lange wie möglich durch wiederholte Rückkehr mit Gottesdienstabhaltung in seiner früheren Pfarrei zu trotzen und dabei die staatliche Machtressourcenüberlegenheit möglichst durch List und Schlauheit ←499 | 500→zu kompensieren und zu neutralisieren, da er sich als katholischer Priester und Pfarrer, seinem zentralen Identitätsmerkmal, nicht einfach von seinem ihm vom Bischof zugewiesenen Posten per behördliches Dekret vertreiben lassen wollte. Diese wiederholten heimlichen Besuche der angestammten Pfarrei waren für ihn – was gewiss verallgemeinerbar ist – überdies eine Form des Protestes gegen seine gewaltsame Vertreibung, vielleicht auch ein wenig der rachegetriebenen Lust an der Überlistung und Übertölpelung der ihn von seinem Posten verjagenden und ihn seines Lebensunterhalts beraubenden Staatsmacht geschuldet. Gleichzeitig war ihm aber auch bewusst, dass dieses Spiel zwischen Jägern und Gejagtem nur vorübergehend sein würde und dass er auf Dauer der übermächtigen Staatsgewalt würde weichen müssen.47 Weiterhin bestätigt der Erlebnisbericht die auch behördlicherseits konstatierte breite Rückendeckung und Hilfeleistung durch die Amtsbrüder und die katholische Bevölkerung, die ihn versteckten, beherbergten und beköstigten.48 Insbesondere zeigt der Bericht die Richtigkeit der polizeilichen ←500 | 501→Beobachtungen, dass sich die Dorfbewohner, unter denen sich die Schuljugend hervortat, bereitwillig als Wachposten und Aufpasser betätigten.49 Die Schilderung, wie es dem mittlerweile auch aus dem Regierungsbezirk Koblenz ausgewiesenen ←501 | 502→Pfarrer, von seiner Gemeinde begeistert empfangen und getragen, trotz intensiver polizeilicher Aufspürversuche gelang, am Weihnachtsfest des Jahres 1874 an drei Tagen mehrere Gottesdienste zu halten, gibt einen exemplarischen Einblick in die Fahndungs- und Ergreifungsprobleme, vor welche die Opferbereitschaft, die Widerstandsentschlossenheit und die bis zur Gerissenheit reichende Raffiniertheit eines Geistlichen in Verbindung mit dessen vorbehaltlosen Unterstützung und Beschützung durch eine unbedingt klerustreue Gemeinde die staatliche Exekutive stellte.50 Allerdings verlangte das ständige Verfolgtwerden, Unterwegssein und ←502 | 503→Auf-der-Hut-sein-müssen auch vom Priester einen hohen Tribut, denn man muß gut marschiren, ein zähes Nervenkostüm haben und vor Mühen und Strapazen nicht zurückschrecken, sonst ist man dem Kulturkampfe nicht recht gewachsen. Schließlich verrät der Bericht, dass der vom Landrat von Daun im Einverständnis mit der Regierung Trier verfolgte Plan, dem Pfarrer nochmalige Besuche seiner früheren Pfarrei Niederbettingen dadurch zu verleiden, dass in ihr Polizisten stationiert werden und die Gemeinde mit den Kosten dafür belastet wird, zum Ziel führte, ←503 | 504→denn Pfarrer Maringer verzichtete auf weitere Stippvisiten, weil das Wohnen des Gendarmen im Pfarrhaus die arme Gemeinde monatlich 30 Taler kostete und im Fall der Rückkehr die Stationierung eines Polizisten in jeder Ortschaft der Pfarrei drohte.51 Pfarrer Maringer hatte vor dem staatlichen Sanktionsdruck schließlich doch kapituliert.

Um der Vollständigkeit des Bildes willen müssen abschließend freilich auch die Frustrationen, Mühseligkeiten, Beschwernisse, Entbehrungen und Opfer bedacht werden, welche die trotz Ausweisung an ihren Amtierungsort zurückkehrenden Priester den nach ihnen fahndenden Polizisten bereiteten. Der aus dem Regierungsbezirk Trier ausgewiesene Vikar Esch zu Schüller, der die Taktik des plötzlichen Auftauchens und spurlosen Verschwindens souverän beherrschte,52 entwischte beispielsweise auch einem Gendarmen, welcher, um desselben habhaft zu werden, ihm 14 Tage hindurch förmlich aufgelauert [hatte] und sogar Nächte hindurch bei wüstem Wetter im Walde kampiren musste.53 Die Meldungen des Fußgendarmen Brockhoff lassen erahnen, welche Arbeitsbelastungen und Arbeitsvergeblichkeitserfahrungen ein Gendarm zu erdulden hatte, der einen ausgewiesenen Geistlichen an seinem früheren Amtierungsort aufzuspüren suchte, ohne zu wissen, ob er sich überhaupt dort befand.54

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In einzelnen Fällen freilich gelang es trotz aller beschriebenen Widrigkeiten und Schwierigkeiten den Behörden durchaus, ausgewiesene Geistliche in der ihnen verbotenen Region zu fassen, was dann im folgenden Kapitel näher thematisiert werden soll. Außerdem verfügten sie über Mittel der nachgelagerten Sanktionierung, die den Priestern und ihren Gemeinden auf die Dauer diese Kurzbesuche verleideten. Deren weitgehende Einstellung ab 1876, die durch das Verstummen von behördlichen Klagen darüber nahegelegt wird, lag hauptsächlich aber wohl darin begründet, dass nervenstarken, vielleicht auch den Nervenkitzel etwas suchenden, opferwilligen, rüstigen und geschickt agierenden Priestern mit etwas Glück zwar eine kurzfristige sporadische Kultverrichtung, aber keine kontinuierliche kultisch-pastorale Versorgung einer Gemeinde und die Aufrechterhaltung eines geregelten gottesdienstlichen Lebens möglich war. Ein ausgewiesener Priester musste spätestens nach einigen Tagen der Amtierung schnell wieder verschwinden und tat es in der Regel auch. Diese Stippvisiten waren für die Priester wie für die Gemeinden ein erlebnisreiches Abenteuer, aber kein Ersatz für einen vor Ort offen lebenden und fungierenden Seelsorger.

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3. Die Verhaftung und Ab- bzw. Wegführung

In diesem Kapitel soll beschrieben werden, wie der Staat sich Priester körperlich bemächtigte, um sie anschließend zwangsweise unter Polizeibedeckung an einen bestimmten Ort zu verbringen. Im Kulturkampf wurde nämlich, wie dies schon von den Zeitgenossen teils sarkastisch kommentiert wurde, das sich durch die Ort- und Landschaften auf Straßen und Wegen bewegende Duo von Polizist und Priester zum gängigen Erscheinungsbild. In Coblenz war man in diesen Wochen an solchen Geistlichen-Gefangenentransport schon gewöhnt, so daß nur die Frage gehört wurde: „Welcher Kaplan wird denn da wieder gebracht?“55 Da sich die Umstände der Verhaftung und der Bestimmungsort, zu dem ein festgenommener Priester hingebracht wurde, zwischen einem rechtskräftig verurteilten Priester, der ins Gefängnis zwecks Strafverbüßung abgeführt wurde, und einem ausgewiesenen oder gar ausgebürgerten Priester, der nach einer eventuell vorher noch zu verbüßenden Haftstrafe letztlich über die Grenze des ihm verbotenen Territoriums zwangsweise weggeführt wurde, deutlich unterschieden, soll zwischen diesen beiden Kategorien von Pfarrgeistlichen differenziert werden.

a) Die Verhaftung und Abführung von verurteilten Geistlichen

Dieses Unterkapitel thematisiert die Verhaftung von rechtskräftig verurteilten, aber (noch) nicht ausgewiesenen oder ausgebürgerten Geistlichen, um sie anschließend ins Gefängnis abzuführen. Wie oben schon kurz angedeutet wurde, ging der allein einer Strafverbüßungszuführung dienenden Verhaftung in der Regel keine längere Personenfahndung voraus, da die tatsächlich verhafteten Priester meist vorher keine ernst- und dauerhaften Verdunkelungs- und Versteckversuche gemacht hatten. Wer sich einer Strafabbüßung im Gefängnis auf Dauer entziehen wollte, emigrierte in einen nichtpreußischen Bundesstaat oder ins Ausland, wo er meist für die Behörden unauffindbar verschollen blieb, wenn nicht die Behörden der neuen Heimat eine rheinische Bezirksregierung um Auskünfte über das Vorleben des Betreffenden ersuchten56. Die Quellen berichten von keinem Fall, in welchem ←506 | 507→ein Priester des Bistums Trier dort aufgespürt, verhaftet und nach Preußen ausgeliefert wurde, um ihn in einem rheinischen Gefängnis seine Strafe ‚absitzen‘ zu lassen; lediglich von (befolgten) diskreten Winken, schnell zu verschwinden, um einer drohenden Verhaftung und Auslieferung zu entgehen, erzählen die Pfarrer J. Imandt und C. Müller in ihren Erlebnisberichten. Im Folgenden sollen nun die einzelfallübergreifenden Charakteristika der Verhaftungen und Abführungen von verurteilten Pfarrgeistlichen herauspräpariert und mit einigen Beispielen illustriert werden, um die Exekutivpraxis zu beleuchten.57

Bei der Exekution der Verhaftung und Abführung verfolgten die verhaftenden Exekutivbeamten und verhafteten Kleriker gegensätzliche Interessen, insofern der staatliche Wunsch nach Unauffälligkeit bis Heimlichkeit ihres Vollzugs mit dem klerikalen Wunsch nach ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit kollidierte. Die Polizeibehörden suchten nämlich bei einer Verhaftung und Abführung alles Aufsehen tunlichst zu vermeiden, um diese reibungslos und zügig durchführen zu können und insbesondere den gefürchteten Tumulten und Volksaufläufen, den vielbeschworenen ‚Exzessen‘, vorzubeugen. Zu diesem Zweck wurde eine Verhaftung oft sorgfältig geplant, an einer wenig frequentierten Stelle vorgenommen, erforderlichenfalls auch auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben und für die Abführung, insbesondere für einen Transport durch eine Stadt ins Gefängnis, eine geschlossene Kutsche organisiert. So wurde Kaplan Boever zu Wiesbach auf seinem Weg zur Filiale Humes hinter einem Hügel von einem Polizisten abgepasst und vom Bürgermeister, der unter einem Vorwand eine Kutsche besorgt hatte, in diese geschoben und fortgebracht. Der Kaplan war daher schon auf dem Weg nach ←507 | 508→Saarbrücken, bevor die Wiesbacher von der Verhaftung überhaupt erfuhren, und die herbeigeeilten Bewohner von Humes wurden mit der Falschinformation beruhigt, der Kaplan werde lediglich dem Untersuchungsrichter vorgeführt.58

Dieses Bemühen um Unauffälligkeit gelang freilich nur selten;59 zum großen Unmut der verhaftenden Polizisten gestaltete sich vielmehr die Verhaftung und Abführung eines Priesters meist zu einem Aufsehen erregenden und Menschen anlockenden Spektakel. Ein Grund dafür war das fehlende Überraschungsmoment und die Erwartbarkeit einer bevorstehenden Verhaftung, denn nachdem eine Pfändung zwecks Eintreibung der Geldstrafe ergebnislos verlaufen war, war mit der zeitnahen Verhaftung, um den Delinquenten die ersatzweise verhängte Gefängnisstrafe abbüßen zu lassen, zu rechnen, zumal es erklärtes Ziel der Behörden war, die Zeit zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung und dem Haftantritt möglichst kurz zu halten, um der gefürchteten ‚Agitation‘ und ‚Gemeindeaufwiegelung‘ seitens des Verurteilten zuvorzukommen. Weiterhin sprach sich in einem Dorf die Ankunft von Polizei zur Verhaftung und Abführung eines Pfarrgeistlichen in Windeseile herum, was ein sofortiges Zusammenströmen der Einwohnerschaft zum ‚Tatort‘ zur Folge hatte. Eine solche von den meisten noch nie erlebte Sensation ließ sich nun einmal in einer überschaubaren Lebenswelt naturgemäß schwer verheimlichen und ein Eklat kaum vermeiden. So erinnerte sich Pfarrer J. Thielen, damals Kaplan in Schweich, in seinem Erlebnisbericht: Am Nachmittag erscheint der Gensdarm im Pfarrhause, um mich zu verhaften. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde in Schweich verbreitet. Bald war das Pfarrhaus von einer gewaltigen Menschenmasse umringt. In Polch war es nicht anders: Sofort beim Erscheinen der bewaffneten Macht lief ein Nachbar durchs Dorf und schrie immerfort: „Der Kaplan wird geholt.“ Rasch sammelten sich einige hunderte Zuschauer.60

Vor allem jedoch konterkarierten die betroffenen Priester selbst die staatlicherseits erstrebte Unauffälligkeit ihrer Verhaftung und Abführung, denn sie suchten und fanden sowohl die lokale Öffentlichkeit wie dank der Berichterstattung in der ‚ultramontanen‘ Presse auch eine breitere mediale Öffentlichkeit. Zu diesem Zweck verweigerten sie mehrheitlich die freiwillige Gestellung61 und häufig auch ←508 | 509→die freiwillige Begleitung eines sie abholenden Polizisten und bestanden auf einer förmlichen Verhaftung mit symbolischer Gewaltanwendung in Gestalt einer körperlichen Berührung am Arm oder an der Schulter. Die Priester wollten die Verhaftung als staatlichen Gewaltakt erscheinen lassen und zum Ausdruck des Protestes deutlich machen, dass man nur der Gewalt weiche. So lehnte Kaplan H. Schmitz zu Andernach die Bitte eines an einem Samstagmorgen bei ihm vorsprechenden Gendarmen, sich um zwei Uhr nachmittags am Bahnhof einzufinden, um gemeinsam mit dem Zug nach Koblenz zwecks Haftantritt zu fahren, entrüstet ab und erklärte, nur der äußersten Gewalt weichen zu wollen. Daher kam der Gendarm wie angekündigt um halb zwei Uhr wieder und nach weiteren vergeblichen Versuchen, ihn zum freiwilligen Mitkommen zu überreden, fasste er den Kaplan an, woraufhin dieser ihm zum Bahnhof folgte.62 Kaplan H. Volk blieb sogar trotz wiederholter Aufforderung zum Mitkommen auf seinem Stuhl sitzen und ließ sich vom Bürgermeister an den Armen zur Kutsche ziehen.63

Die Priester schämten sich keineswegs der polizeilichen Abführung, sondern empfanden sie als eine ihnen den Nimbus couragierter Standhaftigkeit, wenn nicht die Gloriole aufopferungsvollen Märtyrertums verschaffende Auszeichnung, zumindest aber als Leiden für eine gerechte Sache, und waren sich – wohl zu Recht – sicher und bewusst, dass die meisten Katholiken dies ebenso sahen. Zwar suchten sie im Wissen um die schlimmen Folgen einen Aufruhr und tätliche Angriffe auf die verhaftenden Beamten durch Ermahnungen und Beruhigungen zu verhindern, aber einen Menschenauflauf und eine Aufsehenerregung erstrebten und begrüßten sie durchaus.64 So hatte Kaplan Imandt in Dillingen von seiner bevorstehenden Verhaftung erfahren, weil ihm ein Kutschenbesitzer trotz der ihm auferlegten Schweigepflicht verraten hatte, dass der Bürgermeister von Fraulautern bei ihm einen Wagen bestellt hatte. Da er nur am hellen Tage verhaftet werden wollte, übernachtete er bei einem Amtsbruder in Roden, hielt dort die Frühmesse und ging dann mitten am Vormittag zurück nach Dillingen, wo der Bürgermeister schon gegen drei Uhr in der Frühe eingetroffen war, um ihn im Schutze der ←509 | 510→Dunkelheit festnehmen und wegbringen zu können. So aber musste der vor Angst zitternde Bürgermeister seinen Schutzbefohlenen durch die tobende und schreiende Volksmasse abtransportieren, die inzwischen zusammengeströmt war. Der Kaplan hatte seine Absicht, nicht wie ein Dieb in der Nacht abgeführt zu werden, vollständig erreicht.65 Der Wunsch, ungeachtet aller Sorge vor Tätlichkeiten die behördlichen Bemühungen um ‚Geräuschlosigkeit‘ der Gefangennahme zu durchkreuzen und diese stattdessen öffentlich vor den Augen der Gemeinde zu inszenieren, veranlasste Kaplan H. Volk zu Polch zu folgender Überlegung und Reaktion: Ich mußte bei Zeiten [dafür] sorgen, daß das Volk sich nicht zu ungesetzlichen Schritten verleiten ließ, die etwa das Einschreiten mit staatlichen Waffen, Pulver und Blei herbeigeführt hätten. Denn wäre der Staat Sieger geworden. Gleichwohl sollten die Leute auch Zeugen der Verhaftung sein. Als daher der Bürgermeister um den 18. März [1874] mir zumuthete, ich solle alle unnöthige Aufregung bei meiner Abführung verhüten, erklärte ich ihm: „Die Leute sollen Zeugen meiner Verhaftung sein. Ich brauch‘ mich derselben nicht zu schämen.“66

Der Verhaftete selbst sowie die zusammenströmenden und zuschauenden Menschen reagierten auf die Verhaftung mit herzerweichenden, tränenreichen Szenen, aber auch mit ihre Empörung artikulierenden Äußerungen und Aktionen; die Wendungen ‚Weinen und Wehklagen‘67 und ‚lautes Wehklagen, Zähneknirschen und Schimpfworte‘68 umschrieben die üblichen Reaktionen der herbeigeeilten Zuschauer. So hatten sich anlässlich der Verhaftung des Pfarrers C. Müller zu Schöneberg sämmtliche Pfarrkinder, Männer und Weiber, Jünglinge und Jungfrauen, Alt und Jung am Pfarrhause versammelt. Alle wollten – so Pfarrer Müller – mich begleiten, soweit sie nur gehen konnten. Kein Auge blieb trocken; alle waren in der größten Aufregung […]. Meine Schwester Christina fiel in Ohnmacht und mußte zu Bett gebracht werden; meine jüngste Schwester, damals 12 Jahre alt […] stand in Thränen gebadet am Bette der älteren Schwester. Um gegen die Verhaftung eines dekorierten Kriegsteilnehmers zu protestieren, heftete sich der Pfarrer demonstrativ das im Krieg 1870/71 verdiente Eiserne Kreuz und einen weiteren Orden an die Brust und nahm dann unter Thränen von seinen Geschwistern Abschied. Als er in Begleitung des Gendarmen an der Schule vorbeidefilierte, kamen die Kinder die Treppe heruntergestürmt (der Lehrer konnte sie nicht mehr zurückhalten), weinten und schrieen und ein jedes wollte mir noch die Hand drücken.69 Beliebt waren bei der Verabschiedung lautstarke Ovationen in Gestalt von Hochrufen.70 So hatte sich ←510 | 511→zur Verabschiedung des Kaplans Büsch zu Treis, der mit dem Schiff nach Koblenz ins Gefängnis gebracht werden sollte, eine große Menschenmenge an der Mosel versammelt. Als er das Schiff betrat, wurde ihm ein kräftiges Hoch gebracht, welches weithin durch das Moselthal widerhallte.71 Kaplan J. Kirsch zu Vallendar erzählte von seiner Abreise: Jeder wollte zum Abschied einen Händedruck. Auch mein Herr Pastor Feit war nach vollendeter hl. Messe zum Bahnhof gekommen und hatte mir 50 Mark geschenkt mit dem Bemerken, mir im Gefängnisse es an nichts mangeln zu lassen. Der Zug setzte sich in Bewegung, ein gewaltiges Hoch der versammelten Menschenmasse mit Erhebung der Hüte und Schwenken der Taschentücher versicherte den Gefangenen der innigen Theilnahme des Volkes.72

In vielen Fällen begleiteten die Einwohner, insbesondere die Schulkinder, bisweilen auch Nachbargeistliche, den Verhafteten zumindest ein Stück des Weges, teilweise sogar bis zur Endstation, dem Gefängnis. Unterwegs und in der Zielstadt mit dem Sitz des Gefängnisses (Koblenz, Neuwied, Simmern, Trier, Saarbrücken) konnten sich dann weitere Menschen, von dem Spektakel angezogen, spontan der Gruppe um den Priester und den Polizisten anschließen, sodass sich oft ein regelrechter prozessionsartiger Zug herausbildete, der dem Verhafteten das Ehrengeleit bis zum Gefängnistor gab, wo sich nochmals tränenreiche Abschiedsszenen abspielen konnten. Durch den Lärm aufmerksam gemacht, konnten die Anwohner zu beiden Seiten der Straße die Türen und Fenster öffnen und das sich ihnen darbietende Schauspiel kommentierend verfolgen. Auf diese Weise konnte sich der Abtransport eines Geistlichen ins Gefängnis öfters zu einem wahren Triumphzug auswachsen. Kaplan Alt zu Prüm traf beispielsweise mit seinem Begleitgendarmen ←511 | 512→in Trier ein, als die Schulen eben geschlossen wurden. Die ganze liebe Jugend zog ihnen daraufhin durch alle Straßen nach; der Gendarm wußte sich nicht mehr zu helfen. Durch den Lärm, welchen die Schuljugend machte, wurden die Leute in den Häusern erst aufmerksam und überall öffneten sie die Fenster und Thüren und streckten vorwitzig die Köpfe heraus.73 Kaplan J. Büsch zu Treis schilderte den Zug durch Koblenz nach seiner zweiten Verhaftung folgendermaßen: Dieselbe erfolgte am 1. August 1874 und wiederum begleiteten mich neben bewaffneter Macht eine große Anzahl von Freunden bis nach Coblenz, durch Coblenz an das Arrestlokal. Auf dem weiten Wege durch die Stadt hatten sich Hunderte wieder angeschlossen und als die Thore des Gefängnisses sich öffneten und mein Pfarrherr mir um den Hals fiel, da erscholl ein tausendfaches Hoch aus der Menge, in welchem sich aber auch das Knirschen des innern Menschen durch unzweideutige Worte und Geberden gegen den Gensdarmen kundgab.74 Der Erlebnisbericht des Pfarrers C. Müller, damals Pastor in Schöneberg, vermittelt einen besonders plastischen Eindruck von einem solchen teilnehmer-, aktions- und emotionsreichen Zug in Richtung Gefängnis: An der Spitze des Zuges marschierten die beiden Gendarmen, mich in ihrer Mitte habend. Hinter uns einige benachbarte Pfarrer und dann meine Pfarrkinder, den Rosenkranz betend. Ihnen schlossen sich unterwegs viele aus den umliegenden Ortschaften an. Arbeiter der am Wegesrand liegenden Hüttenwerke jubelten mit blitzenden Augen laut dem Martyrer der Kulturkampfgesetze zu und auch die hohen Herrschaften auf dem Balkon und am Fenster ihrer Wohnhäuser winkten ihm zu. Der Massenauflauf veranlasste den einen Aufruhr fürchtenden Bürgermeister von Stromberg sogar, aus Simmern telegraphisch Militär anzufordern.75 Die einer solchen ‚Kulturwanderung‘ innewohnende Situationskomik, die aus der Diskrepanz zwischen der martialischen staatsmachtdemonstrativen Polizeibedeckung einerseits und der völligen Ungefährlichkeit und Wehrlosigkeit eines jungen Kaplans andererseits herrührte, machte sich Kaplan J. Kirsch zu Vallendar bewusst, als er von vier Gendarmen durch Ehrenbreitstein über die Rheinbrücke ins Koblenzer Gefängnis geführt wurde, wobei das Volk stille stand und sich das Bild ansah: ein junger Kaplan mit 4 Gendarmen mit Gewehren, einer zu Rosse, da kam mir die ganze Geschichte bei allem Ernste doch im hohen Grade lächerlich vor.76

Den diensttuenden Gendarmen dagegen war ihre undankbare Rolle als sich an einem geweihten Priester vergreifende ‚Bösewichte‘ meist erkennbar unangenehm bis schambesetzt. Pfarrer ‚M. Renitentus‘ erzählt in seinem Erlebnisbericht folgenden Wortwechsel zwischen ihm und dem Gendarmen, der ihn ins Trierer Gefängnis abführte: „Das macht Einem das Amt schwer“, sagte er unterwegs zu mir, „ich will lieber hundert Mörder als einen Geistlichen transportiren.“ „Folgen wir denn nicht willig?“, fragte ich. „Gewiß, aber ich komme mir eher als Schuldiger vor als ←512 | 513→Sie. Ich möchte lieber Steine klopfen, als dies Handwerk lange betreiben.“ „Sie thun nur, was Ihres Amtes ist; die Verantwortung trifft Ihre Vorgesetzten.“ „Freilich, aber angenehm ist dies Amt nicht; sogar meine Familie leidet darunter. Meine Frau kann im ganzen Dorfe keinen Tropfen Milch erhalten; die Leute geben sie ihr nicht, weil sie meine Frau ist.“77 Wenn die Gendarmen mit ihrem Delinquenten auf dem Weg ins Gefängnis durch die Straßen gingen, schlug mancher von ihnen die Augen nieder und suchte mittels Distanzeinhaltung den Anschein zu erwecken, als gebe es keine Verbindung zwischen ihm und dem Priester.78 So erzählte Kaplan J. Büsch zu Treis, wie er zusammen mit seinem ihn begleitenden Pfarrer durch Koblenz ins dortige Gefängnis spazierte: Von natürlichem Ehr- und Schamgefühl ergriffen, ging der Gensdarm aufs Trottoir und drückte sich an den Häusern vorbei, während wir zwei mitten auf der Straße gingen, so stolz, wie wir noch nie gegangen waren. Ich ersuchte aber den Gensdarmen zu mir zu kommen: „Wir beiden gehören zusammen“, rief ich ihm zu. Eine ungeheure Menge folgte.79 Andere Gendarmen reagierten mit Ängstlichkeit und Beklemmung, wenn sie sich einer großen, ihnen feindselig gesonnenen Menschenmenge gegenübersahen. In Spiesen hatte ein Gendarm den dortigen Kaplan, der gerade nach einer Messe aus der Kirche gekommen war, im Pfarrhaus festgenommen und ließ ihn, da dieser zelebrationsbedingt noch nüchtern war, erst noch frühstücken, während seine beiden Kollegen draußen warteten. Als er ihn dann nach dem Frühstück aus dem Pfarrhaus, vor dem sich mittlerweile ←513 | 514→eine tausendköpfige Menge versammelt hatte, abführen wollte, sagte er, angesichts des Menschenauflaufs bang geworden, zu dem Kaplan: Wir sind zu dreien […]; wir haben gelost, wer Sie gefangen nehmen soll; das Loos traf mich; wir haben jeder 60 scharfe Patronen bei uns und doch sind wir verloren bei der Wuth des Volkes; ich bitte Sie, reden sie einige Worte an‘s Volk, daß es sich ruhig verhält; wir können ja nichts dafür, daß wir Sie gefangen nehmen müssen.80 Auch den Gendarm, der den Kaplan H. Schmitz von Andernach mit dem Zug nach Koblenz ins Gefängnis bringen sollte, übermannte tränenauslösend die Furcht, ein Opfer der Volkswut zu werden, als er sah, daß unterdessen die Straße zum Bahnhof mit Menschen ganz besetzt war. So schwer hatte er sich die Abführung eines katholischen Geistlichen nicht vorgestellt.81 Andere Gendarmen flüchteten sich angesichts der ihnen entgegenschlagenden offenen Feindseligkeit und Abneigung, vielleicht auch aus Angst vor der Volksmenge in ein drohendes Einschüchterungs- und Machtdemonstrationsverhalten. So wurde bei der Verhaftung und Abführung des Kaplans J. Kirsch, zu welcher eine ungeheure Menschenmasse vor das Pfarrhaus zusammengeströmt war, Murren gehört, es flog ein Stein nach einem Diener der Gerechtigkeit, es lachte das Volk laut auf, als der Ortsgendarm ein- und zweimal vergeblich versuchte, sein Pferd zu besteigen, bis ihm dies beim 3. Versuche gelang. Da drehte er sein Pferd um, sprang ins Volk und feuerte einen Schuß, wohl einen blinden, in das Volk ab.82

Allseits gefürchtet waren offene Gewalttätigkeiten gegen die Vollzugsbeamten durch eine aufgebrachte Menge sowie deren gewaltsame Versuche, den Abtransport des Geistlichen zu verhindern, beispielsweise durch eine Wegversperrung oder die Festhaltung oder gar Zerstörung des für den Abtransport vorgesehenen Wagens. Zwar hätten die Beamten, da hoffnungslos in der Unterzahl, einer solchen Gewaltanwendung gegen Personen oder Sachen kaum etwas entgegensetzen können, aber die nachgelagerte Ahndung in Form von langen Gefängnisstrafen war drakonisch. So eint die Berichte über die Verhaftung und Abführung von Geistlichen deren Versuch, trotz aller gern gesehenen Sensationserregung die Gemeindemitglieder mit unterschiedlichen Methoden zu besänftigen und von Handgreiflichkeiten abzuhalten. Als beispielsweise beim schon erwähnten Zug des Pfarrers Müller zum Gefängnis in Simmern die Situation zu eskalieren drohte, stimmte einer der anwesenden Pfarrer laut die Litanei an „Herr, erbarme dich unser!“ […], bis endlich Ruhe eintrat. Zum Glück für den vorlauten Gendarmen, den selbst die anwesenden Geistlichen kaum vor Mißhandlung hätten schützen können.83 Kaplan J. Imandt zu Dillingen brachte die Arbeiter, welche Anstalten machten, die zum Abtransport bereitstehende Kusche zu zertrümmern, von ihrem Plan ab, indem er ihnen klarmachte, daß, falls sie ihr Vorhaben ausführten, er den weiten Weg zum Gefängniß nach Saarbrücken zu Fuß zurücklegen müsse. Die Ruhe war für einen ←514 | 515→Augenblick hergestellt.84 Nach der Verhaftung des Kaplans T. Kerpen zu Dieblich hatte sich fast die ganze Gemeinde eingefunden, um ihn nach Koblenz ins Gefängnis zu begleiten. Um größeres Übel zu vermeiden, bat der Kaplan den Gendarmen, die Leute ruhig bis vor das Dorf mitgehen zu lassen; dort wollte er sie dann auffordern, sich ruhig zurückzuziehen, was denn auch geschah.85 Kaplan F. Schmitz zu Cues sah sich zu seinem Entsetzen sogar mit dem Angebot von Ortsbewohnern konfrontiert, seine eventuelle nächste Verhaftung mit Waffengewalt zu verhindern und damit gewissermaßen einen dörflichen Aufstand gegen die preußische Staatsmacht zu inszenieren, dessen desaströse Folgen für die gesamte Einwohnerschaft nicht zweifelhaft sein konnten, weshalb er vehement ablehnte und dagegen anpredigte: Nach meiner 2. Rückkehr aus dem Gefängnisse kamen in einer Nacht 2 Männer zu mir und erklärten: „Wir sind an die 90 bewaffnete Männer. Wenn Sie es zugeben, lassen wir Sie nicht mehr fortführen.“ Den Charakter der Cueser kennend, ihre kühne Entschlossenheit bedenkend, wußte ich, was geschehen würde und welches Unglück über Cues kommen würde, und ich sagte zu dem Vorhaben entschieden nein. Da die Männer nicht zufrieden [waren], so hielt ich am kommenden Sonntag danach einen Vortrag über das richtige Verhalten der Priester und Gläubigen gegenüber den Maigesetzen.86

Doch trotz aller Deeskalationsbemühungen der Geistlichen ließen sich bisweilen die erzürnten Menschen zu Ausschreitungen hinreißen. Bei der Abführung des Kaplans H. Volk zu Polch hielt ein Bursche die Zügel der die Kutsche ziehenden Pferde fest und viele hängten sich an den Wagen und zogen zurück. Mehrere kamen deswegen für Wochen und Monate ins Gefängniß wegen Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt.87 Die schwersten Tumulte anlässlich der Verhaftung und Abführung eines Pfarrgeistlichen sind als ‚Namborner Krawall‘ in die Geschichte eingegangen.88 Und zwar hatte Pfarrer J. Isbert in dem ihm maigesetzwidrig übertragenen Pfarramt von Namborn amtiert, was ihm bis Mai 1874 zehn ←515 | 516→rechtskräftige Verurteilungen zu zusammengenommen über zwei Jahren Gefängnis einbrachte.89 Er hatte sich lange seiner Festnahme entziehen können, indem er sich – wie bereits erwähnt – im benachbarten Fürstentum Birkenfeld, das zum Großherzogtum Oldenburg gehörte und damit nichtpreußisches Territorium war, aufhielt und von dort aus pastorierte, bis er sich dann doch am 6. Juli 1874 in Namborn vom Bürgermeister von Oberkirchen, dem ein Gendarm assistierte, in einem Gasthaus verhaften ließ. Im Augenblick war das ganze Dorf, Jung und Alt, Männer und Frauen um das Haus versammelt und die Kirchenglocken wurden Sturm geläutet. Während Bürgermeister Woytt den Verhafteten zum Bahnhof Türkismühle zwecks Weiterbeförderung ins Saarbrücker Gefängnis bringen wollte, erzwang die Menschenmenge den Gang zum Bahnhof St. Wendel, denn dem fanatisirten Haufen irgendwelchen Einhalt zu thun, war unter solchen Umständen nicht ausführbar. Verzweifelt, aber vergeblich suchte der Bürgermeister den heulenden und tobenden Volkshaufen, insbesondere die sich wie Furien benehmenden Frauenzimmer und die tobende Jugend, die ihnen folgten, von Gewalttätigkeiten abzuhalten. Ein Stein verfehlte ihn, aber ein anderer traf ihn am Unterarm. In Baltersweiler wurde der Märtyrer von den fanatischen Ortseinwohnern mit begeistertem Hochruf empfangen und sein Gefolge durch deren Anschluß bedeutend vermehrt. Von da an wähnte der Bürgermeister von Oberkirchen seine Position nahezu lebensgefährlich, doch nach zweistündigem Marsch inmitten eines aufgebrachten Volkshaufens erreichte man schließlich die Kreisstadt St. Wendel.90 Als der Bürgermeister von St. Wendel bemerkte, dass ein Haufen von mehreren hundert Landleuten aus den Gemeinden Namborn und Baltersweiler unvermuthet unter Tumult und Geschrei hier einzog und sich in einem dichten Knäuel, in dessen Mitte sich der p. Isbert mit dem Pfarrer von Furschweiler und den beiden Kaplänen von hier befanden, nach dem Bahnhof schob, eilte er in Begleitung eines Gendarmen und eines Polizeidieners dorthin. Als Bürgermeister Müller erkannte, daß vor der rohen Gewalt und dem Massenandrange der fanatisirten Menge die vorhandenen Kräfte nicht Stand halten konnten, forderte er Militär an. Bevor dieses eintreffen konnte, bahnte sich die Menschenmenge den Weg zum Bahnsteig. Dort ereigneten sich Scenen des aufgestachelten Fanatismus, die kaum zu beschreiben sind. Während die Männer schrien und tobten, keiften und heulten die Weiber und gebehrdeten sich wie Megären. Die Beamten dagegen waren förmlich von der Menschenmenge fest umschlossen und konnten nicht hin noch her. Als ein Angriff mit Stöcken auf einen den Exekutivbeamten behilflichen Bahnbediensteten die Menge ablenkte, konnte ein Gendarm Pfarrer Isbert in den gerade eingefahrenen Zug schieben, der daraufhin sofort abfuhr. Da traf auch schon das georderte Militärkommando ein, das schließlich mit der blanken Klinge die Menschen vom Bahnsteig und aus dem Bahnhof rasch, ←516 | 517→aber nicht widerstandslos vertrieb.91 Nach einer Verhandlung vor dem Assisenhof in Saarbrücken wurden am 11. November 1874 zwar Pfarrer Isbert und einige andere Angeklagten freigesprochen, aber vier Angeklagte zu drei Jahren, ein Angeklagter zu eineinhalb Jahren und ein weiterer zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.92 Freilich musste Pfarrer Isbert für seine unerlaubten Amtshandlungen über zwei Jahre im Saarbrücker Gefängnis verbringen, wo er eine besonders harsche Behandlung erfuhr, indem er in Einzelhaft gehalten und ihm das Messelesen und die Selbstbeköstigung, ein angesichts der Gefängniskost vielersehntes Privileg, lange Zeit verweigert wurden.93

Die Aufarbeitung des ‚Namborner Krawalls‘ in der Korrespondenz zwischen der Regierung Trier und dem Innenminister enthüllt die aufgeheizte, an einen Belagerungszustand gemahnende Atmosphäre, welche – in genauer Spiegelbildlichkeit zur hasserfüllten Empörung der Menschenmenge über das Staatshandeln – die Behörden dazu trieb, sich als inmitten von Feindesland zu empfinden und dessen Bevölkerung als potentielles Ziel von militärischen Operationen und Okkupationen zu betrachten. Die Regierung Trier bemängelte, dass der Bürgermeister von Oberkirchen lediglich einen einzigen Gendarmen bei der Verhaftung und Abführung des Pfarrers Isbert zur Verfügung hatte und dass auf die Anwendung von Waffengewalt zum Nachteil der staatlichen Autorität verzichtet worden sei. Deshalb instruierte die Bezirksregierung den Landrat von St. Wendel dahingehend, solche Verhaftungen, bei welchen Excesse zu befürchten stehen, entweder persönlich zu leiten oder dem beauftragten Bürgermeister eine genügende, sprich größere Anzahl von Gendarmen beizugeben. Die Bürgermeister des Kreises St. Wendel ließ sie darüber aufklären, dass nach dreimaliger fruchtloser Aufforderung zum Auseinandergehen von der Waffe energisch Gebrauch zu machen und erforderlichenfalls auch telegraphisch Militär anzufordern sei. Gleichzeitig ließ sie den ←517 | 518→Gemeindevertretern von Namborn und Baltersweiler eröffnen, dass bei ähnlichen Ausschreitungen die Gemeinden selbst unnachsichtlich die Belegung mit einem militairischen Executionscommando auf ihre Kosten zu gewärtigen hätten. Da die Regierung Trier die ländliche Polizei für die Niederschlagung von Zusammenrottungen, bei denen namentlich Frauen die Hauptrolle spielen, wegen der personellen Unterbesetzung nicht gerüstet und durchsetzungskräftig genug erachtete, bekundete sie ihre Absicht, künftig bei solchen Tumulten häufiger Militär zu mobilisieren und in die aufrührerischen Gemeinden auf deren Kosten Truppen einzuquartieren. Gegen die hauptschuldigen Laien wollte sie juristisch mit der allergrößten Strenge und gegen die widerrechtlich amtierenden Geistlichen, die ihre Pfarrangehörigen zu diesem aufrührerischen Treiben und zu solchen Excesse[n]; anstiften, konsequent mit den vom Reichsgesetz vom 4. Mai 1874 ermöglichten Zwangsmaßregeln der Ausweisung und Ausbürgerung vorgegangen wissen.94 Der Innenminister billigte in jeder Hinsicht die eingenommene Position und die vorgenommenen Instruktionen der Regierung Trier, insbesondere daß bei dreimaliger fruchtloser Aufforderung zum Auseinandergehen von der Waffe energischer Gebrauch zu machen sei, und daß nöthigenfalls von der nächsten Militärbehörde telegraphisch militairische Hülfe requirirt werden könne.95 Auf staatlich-behördlicher Seite herrschte gegenüber der katholischen Bevölkerung eine unbedingte, den rücksichtslosen Militäreinsatz ins Auge fassende Repressionsentschlossenheit, die schon einer Bürgerkriegsstimmung nahekam. Eine Verwaltung wähnte sich am Rande des Kriegszustandes mit ihren ‚Verwalteten‘, die sie in staatssubversiver Absicht vom Klerus mobilisiert, fanatisiert und kommandiert glaubte.

b) Die Verhaftung und Wegführung von ausgewiesenen Geistlichen

Dieses Unterkapitel behandelt die Verhaftung von ausgewiesenen Geistlichen mit der letztlichen Intention, sie aus dem ihnen aufenthaltsversagten Gebiet, meist dem Regierungsbezirk, in welchem ihr Wirkungsort lag, zwangsweise wegzuführen. Wenn allerdings zwischenzeitlich neue rechtskräftige Verurteilungen zu Gefängnisstrafen vorlagen, mussten diese vor einer Wegbeförderung erst abgebüßt werden, sodass in diesen Fällen der Verhaftete zunächst ins Gefängnis abgeführt wurde, um nach seiner Entlassung deportiert zu werden.

Falls der Ausgewiesene sich nicht zu verstecken oder seine Identität zu verschleiern suchte, weist eine Verhaftung zwecks Wegführung aus dem Verbotsterritorium dieselben Merkmale auf wie eine Verhaftung behufs Abführung ←518 | 519→ins Gefängnis zur Strafverbüßung, so z.B. ihr von dem Verhafteten erstrebter Öffentlichkeitscharakter, die Mahnung zur Ruhebewahrung und die Begleitung durch Freunde und Pfarrangehörige zumindest ein Stück des Weges, wie die Verhaftungen der aus dem Regierungsbezirk Trier ausgewiesenen Pfarrgeistlichen Stölben zu Bernkastel und Maringer zu Niederbettingen zeigen.96 Abweichungen und Besonderheiten gab es dann, wenn der ausgewiesene Geistliche in das ihm verbotene Gebiet zwecks Kultverrichtung heimlich zurückgekehrt war und sich einer Verhaftung durch Tarnung und Verstecken zu entziehen suchte, was meist der Fall war. Dann war eine Festnahme das Ergebnis eines ‚dummen Zufalls‘, einer Denunziation oder einer gezielten Fahndung. Ersteres musste der aus dem Regierungsbezirk Trier ausgewiesene Pfarrer Maringer zu Niederbettingen erfahren, welcher, von Luxemburg kommend, auf seiner Reise zum Kirchweihfest in seiner früheren Gemeinde am Trierer Bahnhof von einem ihn persönlich kennenden Gendarmen aus Hillesheim, der mit dem Morgenzug aus der Eifel gekommen war, um einen Festgenommenen im Trierer Gefängnis abzuliefern, erspäht und natürlich prompt verhaftet wurde und noch am selben Tag nach Kirn in den Regierungsbezirk Koblenz zwangsverbracht wurde.97 Durch Verrat98 wurde der geheime Aufenthaltsort des aus den Regierungsbezirken Trier und Koblenz ausgewiesenen Kaplans J. Spanier zu Hönningen bekannt. Der in Klüsserath residierende Bürgermeister von Trittenheim hatte nämlich bei einem dienstlichen Besuch in Trittenheim in Erfahrung gebracht, dass der Kaplan sich bei seinen dort lebenden Eltern aufhielt und auch schon im Dorf gesichtet worden sei. Da er sich der regierungsloyalen und kulturkampfeifrigen Mitarbeit der Ortsbehörden nicht sicher war, schritt er nicht sofort zur Verhaftung, sondern rief den Gendarmen von Schweich zu Hilfe und begab sich mit diesem und einem Polizeidiener am nächsten Tag kurz nach sechs Uhr morgens zum Elternhaus des Kaplans. Dessen Mutter leugnete zwar den Aufenthalt ihres Sohnes in ihrem Haus ab, aber der Bürgermeister ließ sich nicht beirren, sperrte die beiden Haustüren ab und postierte einen Polizisten davor. Als er dann die Mutter aufforderte, ihm alle Zimmertüren zu öffnen, fügten sich die Hausbewohner ins Unvermeidliche und zeigten ihm das Schlafzimmer des Kaplans. Dieser öffnete und gab schließlich auf insistierendes Nachfragen seine Identität zu, woraufhin der Bürgermeister ihn ersuchte, sich fertig anzukleiden und ihm zu folgen, um über die Grenze der ihm verbotenen beiden Regierungsbezirke zwangsbefördert zu werden. Während der Kaplan sich abreisefertig machte, sammelten sich viele Leute vor dem Haus an. Als sie Aufforderungen des Bürgermeisters zum Auseinandergehen ignorierten, um dem Kaplan Lebewohl sagen zu können, beschränkte sich ←519 | 520→der Bürgermeister auf eine Warnung vor Ausschreitungen. Beim Verlassen des Hauses wurde der Kaplan mit donnernden Hochs begrüßt. Angesichts dieses Auflaufs suchte der Kaplan, nachdem er nun schon gefasst worden war, wenigstens diese Verhaftung aus Protest als staatliche Gewaltmaßnahme an einem geweihten Priester öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. Nachdem er bislang zur Tarnung bürgerliche Kleidung getragen hatte, hatte er sich einen geistlichen Rock übergezogen und verkündete nun dem Bürgermeister, er wolle nur in Begleitung eines uniformierten Gendarmen weitergehen. Als der Bürgermeister dies ablehnte, da der Gendarm gerade anderweitig beschäftigt war, bestand der Kaplan wenigstens auf einer symbolischen Gewaltanwendung als Bedingung zum Mitkommen. Diesen Gefallen tat ihm der Bürgermeister, indem er ihn am Arm faßte und ernstlich zum Weitergehen aufforderte, woraufhin der Kaplan verkündete, sich der Gewalt zu fügen, und beim Weitergehen rief: „Hah, das muß in die Zeitung, das giebt einen prachtvollen Artikel!“ Während des ganzen Auftrittes und während des Weiterganges dauerten die Ovationen für den Arrestanten fort. Die herbeigeströmte Menge gab erst nach dreimaliger Aufforderung zum Auseinandergehen und erst, nachdem die Exekutivbeamten sich drohend zum gewaltsamen Einschreiten bereitmachten, den Weg frei. Viele Menschen, insbesondere Schulkinder, gaben in einiger Entfernung dem weggeführten Kaplan das Geleit bis zur Gemeindegrenze, wo sie sich unter Absingung eines religiösen Liedes verabschiedeten.99 So waren zwar letztlich keine Gewalttätigkeiten vorgekommen, aber die Staatsdiener hatten sich einer feindseligen, ihre Sympathien und Antipathien deutlich artikulierenden Menge gegenüber gesehen und die Staatsgewalt hatte, nicht ohne Zutun des Verhafteten, sich wieder einmal vor und in den Augen der Gemeindeangehörigen öffentlich desavouiert.

Gegenüber einem zurückgekehrten Ausgewiesenen wurde die Verhaftung häufig besonders rabiat vorgenommen, zumal dann, wenn er sich schon wiederholt dem polizeilichen Zugriff durch geschicktes Taktieren entzogen hatte und die Behörden sich genarrt fühlten, wie es oben beschrieben wurde. Zwar suchten die Behörden eine Verhaftung in der Kirche und erst recht während eines Gottesdienstes möglichst zu vermeiden und zumindest das Ende eines Gottesdienstes abzuwarten, um den geistlichen ‚Delinquenten‘ dann beim Austritt aus der Kirche zu verhaften, aber in solchen Fällen hartnäckiger Rückkehr und permanenter ‚Entwischung‘ drohte manchmal der Wunsch nach einem Zugriff über die Achtung vor dem heiligen Ort zu siegen, was beim Klerus und in der katholischen Bevölkerung helle Empörung auslöste, weil nach deren Ansicht ein Sakralraum Immunität gewährte und eine polizeiliche Verhaftung eines Priesters in der Kirche diese in sakrilegischer Weise profanierte. Bereits eine Verhaftung in der Sakristei vor der Ankleidung oder nach der Auskleidung eines Messezelebranten galt als respektlose ←520 | 521→Entweihung einer Sakralstätte.100 Aus diesem Grund erregte die am Altar der Trierer Pfarrkirche St. Laurentius (heute: Liebfrauen), deren Pfarrer der später seines Amtes enthobene Pastor Classen war, am 1. November 1874 vorgenommene Verhaftung des aus dem Regierungsbezirk Trier ausgewiesenen Kaplans F. Schneiders ←521 | 522→große öffentliche Entrüstung und infolgedessen auch behördeninterne, bis zum Innenminister und zum Monarchen hinaufreichende Aufmerksamkeit.101 Kaplan Schneiders hatte freilich die Behörden schon dadurch provoziert, dass er nach seiner am 9. Oktober 1874 von der Regierung Trier verfügten Ausweisung ebendieser Bezirksregierung seine Rückkehr nach erfolgter Ausweisung schriftlich angekündigt hatte und am 18. Oktober in der Liebfrauenkirche öffentlich das Hochamt zelebriert hatte. Obwohl er daraufhin am 22. Oktober zwangsweise in den Regierungsbezirk Koblenz wegbefördert worden war,102 feierte er drei Tage später, seine Ankündigung wahrmachend, wieder Hochamt in der Liebfrauenkirche, entkam aber den Polizeibeamten durch eine hinter dem Altar befindliche Nebentür, die den Weg in den Kreuzgang freigab, von dem aus wieder Ausgänge in verschiedene ←522 | 523→Richtungen führten. Die Gesetzesautorität untergraben und die Staatsmacht verhöhnt wähnend befahl die Regierung Trier dem dortigen Oberbürgermeister, im Wiederholungsfall die Verhaftung auf jede Weise herbeizuführen103. Da der Kaplan sich versteckt hielt, wozu der weitläufige Gebäudekomplex um den Trierer Dom vielfältige Möglichkeiten bot, so blieb nach Ansicht der Behörden allein die Verhaftung in der Kirche übrig, sozusagen am ‚Tatort‘ und nach ‚frischer Tat‘. Die Gelegenheit dazu kam an Allerheiligen, als er, trotz polizeilicher Bewachung der Eingänge unbemerkt in die Liebfrauenkirche gekommen, unter Assistenz zweier anderer Priester wieder das Hochamt in der vollbesetzten Liebfrauenkirche zelebrierte. Als nach der Wandlung mehrere Polizisten, den Gottesdienst erheblich störend, in Richtung Chorraum vorschritten und davor Aufstellung nahmen, um den Kaplan sofort nach Beendigung des Gottesdienstes zu verhaften und dessen erneutes Entkommen durch die zum Kreuzgang führende Hintertür zu verhindern, strömte die Menge, im höchsten Grade erregt und die Arretirung des Priesters am Altare während des Gottesdienstes befürchtend, unter lauten Angst- und Weherufen, unter Weinen und Schluchzen vor die Communionbank zu einem schützenden Walle zusammen, um die gewaltthätige Entweihung der heiligen Stätte während der hohen Festfeier zu verhindern.104 Unmittelbar nach dem Schlusssegen suchten die postierten Polizisten die mauerartige Menschenphalanx, die sich vor der Kommunionbank zum Schutz des Altarraums vor Entweihung, aber auch zum Schutz des Kaplans vor Verhaftung aufgestellt hatte, gewaltsam zu durchbrechen, als die marmorne Kommunionbank, dem Druck und Andrang nicht mehr standhaltend, krachend zusammenbrach. Es war ein wildes Durcheinander und der ganze obere Raum der Kirche ein dichter, schreiender, weinender Menschknäuel.105 Die Polizisten erkämpften sich unter Gekeife, Getrete, Gedränge, Gestoße und Geschiebe den Weg zum Altar, nahmen dort den Kaplan fest, bahnten sich mit blanker Klinge den Weg durch die schimpfende und Steine werfende Menge zurück durch die Kirche zum Ausgang und führten unter weiteren Beschimpfungen und Steinwürfen den Kaplan in die Trierer Strafanstalt ab, wo dieser eine angedrohte vierwöchige Exekutivstrafe und dann weitere voraussichtlich noch anfallende Gefängnisstrafen zu verbüßen hatte. So die knappe Zusammenfassung der Ereignisse, deren Einzelheiten – die in Ohnmacht fallende Frau, der sich den Polizisten mit den Worten „hier kommt niemand durch“ entgegenstellende Bäckermeister – in den genannten Schilderungen nachgelesen werden können.

Details

Pages
X, 666
Year
2020
ISBN (PDF)
9783631825945
ISBN (ePUB)
9783631825952
ISBN (MOBI)
9783631825969
ISBN (Hardcover)
9783631824511
DOI
10.3726/b17116
Language
German
Publication date
2020 (September)
Keywords
Geistliche Amtshandlungen Bistum Trier Rheinland Internierung Ausbürgerung Verbannung
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. X, 666 S.

Biographical notes

Volker Speth (Author)

Volker Speth ist Bibliothekar und promovierter Historiker.

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Title: Der Kampf gegen den Klerus
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