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Frames und Argumentation

Zur diskurssemantischen Operationalisierung von Frame-Relationen

von Simon Varga (Autor:in)
©2020 Dissertation 408 Seiten
Reihe: Kontraste/Contrastes, Band 5

Zusammenfassung

Die Frame-Semantik gehört zu den bestetablierten Methoden der germanistischen Diskurslinguistik. Das Potenzial frame-semantischer Analysen wurde dort allerdings bislang nur bedingt ausgeschöpft. Um dieses Potenzial weiter zu entfalten, greift der Autor das Konzept der Frame-Relationen auf und macht dieses für argumentationsanalytische Zwecke nutzbar. Der Zusammenhang von semantischen Frames und argumentativen Strukturen wird auf theoretischer Ebene herausgearbeitet, u. a. unter Rückgriff auf Erkenntnisse aus kognitiver Psychologie und Verstehensforschung. Eine umfangreiche kontrastive Korpusstudie zum parlamentarischen Kernenergiediskurs im Deutschen Bundestag und der französischen Assemblée nationale illustriert die Anwendung der entworfenen Methodik.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Einleitung
  • I. Forschungsstand und Problemstellung
  • 1 Frame-semantische Strukturkonstituenten I: Slots, Filler, Default values
  • 1.1 Slots
  • 1.2 Filler
  • 1.3 Default values
  • 2 Frame-semantische Strukturkonstituenten II: Frame-Relationen
  • 2.1 Relationen in prädikativen Frames am Beispiel von Fillmore-/FrameNet-Frames
  • 2.1.1 Relationen zwischen Frames unterschiedlichen Abstraktionsgrads
  • 2.1.2 Relationen zwischen Bestandteilen von Ereignisframes
  • 2.1.3 Systematische Relationen
  • 2.1.4 Zusammenfassung: Relationen in Fillmore-/FrameNet-Frames
  • 2.2 Relationen in Konzeptframes am Beispiel von Barsalou-Frames
  • 2.2.1 Structural invariants
  • 2.2.2 Constraints
  • 2.2.3 Zusammenfassung: Relationen in Barsalou-Frames
  • 3 Diskurslinguistische Operationalisierung der Frame-Semantik: theoretische Annahmen und methodische Umsetzung
  • 3.1 Die diskurssemantische Frame-Analyse nach Ziem (2008a)
  • 3.1.1 Propositionen als grundlegende frame-analytische Einheiten
  • 3.1.2 Explizite und quasi-explizite Prädikationen
  • 3.1.3 Hyperonymtypenreduktion und Matrixframes
  • 3.2 Deduktive vs. induktive Bestimmung von Prädikationsklassen
  • 4 Frame-Relationen in der Diskurslinguistik
  • 4.1 Diskurssemantische Frames vs. Merkmallisten
  • 4.2 Instanziierungsrelationen vs. konzeptuelle Relationen
  • 4.2.1 Die Darstellung von Instanziierungsrelationen als Frames
  • 4.2.2 Die Darstellung konzeptueller Relationen als Frames
  • 5 Frames und Topoi in der Diskurslinguistik
  • 5.1 Das komplexe topische Muster politischer Argumentation bei Klein (2002a)
  • 5.2 Die integrierte Frame- und Topos-Analyse bei Ziem (2014b, 2016)
  • 5.3 Frames und Topoi als Schemata unterschiedlicher Diskursebenen
  • II. Argumentative Frame-Relationen
  • 6 Theoretische Aspekte
  • 6.1. Schlussfolgern und Argumentieren
  • 6.2. Frames und Inferenz
  • 6.3. Argumentation und Inferenz
  • 6.4. Argumentative Relationen und kausale Relationen
  • 7 Die Argumentationstypologie von McGuigan/Black (1986)
  • 7.1. Kategoriebasierte Argumente
  • 7.1.1. Kategorisierung als kognitiver Prozess
  • 7.1.2. Kategorisierung und Frames
  • 7.1.3. Kategorisierung als argumentative Strategie
  • 7.2. Analogiebasierte Argumente
  • 7.2.1. Analogiebildung als kognitiver Prozess
  • 7.2.2. Analogien und Frames
  • 7.2.3. Analogiebildung als argumentative Strategie
  • 7.3. Kausale Argumente
  • 7.3.1. Kategorisierung, Analogiebildung und Kausalität: Abgrenzung(sprobleme)
  • 7.3.2. Kausalrelationen als Grundlage von Argumentation(en)
  • III. Empirische Analyse
  • 8 Das Korpus in der kontrastiven Diskurslinguistik
  • 8.1 Korpuserstellung
  • 8.1.1 Ermittlung relevanter Suchbegriffe
  • 8.1.2 Textauswahl und -aufbereitung
  • 8.2 Wer spricht?
  • 8.2.1 Die Akteure des parlamentarischen Diskurses
  • 8.2.2 Akteursspezifische Kernkraftkonzepte
  • 8.3 Der KERNENERGIE-Frame
  • 8.3.1 Die generische Referenz KERNENERGIE
  • 8.3.2 Iterative Kategorienbildung mithilfe der Grounded Theory
  • 8.3.3 Prädikatorenschema der untersuchten Frames
  • 8.4 Korpusannotation
  • 8.4.1 Offenes Kodieren
  • 8.4.2 Axiales Kodieren
  • 8.4.3 Selektives Kodieren
  • 9 1946/1950–1973: von der Utopie zur Realität
  • 9.1 Der Aufbruch ins Atomzeitalter
  • 9.1.1 Der lange Weg zur Wirtschaftlichkeit
  • 9.1.2 Die Förderung der Kernenergie als Investition in die Zukunft
  • 9.1.3 Voraussetzungen der Kernenergienutzung
  • 9.1.4 Kernenergie als Garantin der französischen Unabhängigkeit
  • 9.2 Von der neuen zur konventionellen Technologie
  • 9.2.1 Von neuer Energie und neuen Möglichkeiten
  • 9.2.2 Von neuer Energie und neuen Gefahren
  • 9.2.3 Die Angst vor der Kernenergie als Angst vor dem Unbekannten
  • 9.3 Exkurs: Kernkraft und Kartoffeln – zum Verhältnis von Analogie und Kategorisierung
  • 10 1974–1982/1988: Kernenergie im Kontext von Ölkrise und Anti-AKW-Bewegung
  • 10.1 Kapazitätsausbau im Rahmen der nationalen Atomprogramme
  • 10.1.1 Von der Notwendigkeit des Kernenergieausbaus
  • 10.1.2 Sicherheit geht (für manche) vor!
  • 10.2 Das Verhältnis zu anderen Energieträgern im deutschen Diskurs
  • 10.2.1 Kernenergie als Ersatz für fossile Energieträger
  • 10.2.2 Kernenergie als Ergänzung für fossile Energieträger
  • 10.3 Die Kernenergie in der öffentlichen Wahrnehmung
  • 10.3.1 Die Wahrnehmung der Kernenergie: zwischen Angst und Kritik
  • 10.3.2 Die Angst vor der Kernenergie als Angst vor der Bombe
  • 10.3.3 Die Angst vor der Kernenergie – irrational oder berechtigt?
  • 10.3.4 Wie den Menschen die Angst nehmen?
  • 10.4 Exkurs: Diskursive Reaktionen auf Tschernobyl 
  • 11 1983/1989–2012: Kernenergie und Klima
  • 11.1 Kernenergie und Umwelt: vom Waldsterben zur Klimadebatte
  • 11.1.1 Kernenergie als saubere Energie
  • 11.1.2 Kernenergie und Erneuerbare als CO2-freie Energien
  • 11.1.3 Kernenergie als Übergangsenergie
  • 11.2 Günstiger Strom oder Kostenfalle?
  • 11.2.1 Kernenergie als billige Energie
  • 11.2.2 Kernenergie als teure Energie
  • 11.3 Ausbauen oder abschalten?
  • 11.3.1 Klimaschutz durch Kernenergieausbau?
  • 11.3.2 Kernenergie als quantitativ bedeutsam(st)er Energieträger
  • 12 Zusammenfassung: 70 Jahre „Reden über Kernenergie“ in Bundestag und Assemblée nationale
  • Fazit und Ausblick
  • Bibliographie
  • Serires Index

←14 | 15→

Einleitung

25 Jahre nachdem Busse/Teubert (1994) die programmatische Frage „Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?“ mit einem klaren Ja beantworteten, hat sich die Diskurslinguistik im deutschsprachigen Raum als eigenständige Disziplin fest etabliert. Als Linguistik jenseits einzeltextueller Grenzen setzte sie an die Stelle der „klassischen“ Objekte sprachwissenschaftlicher Analysen die Frage „Womit will ich mich als Linguist noch beschäftigen?“ (Busse 1997, S. 14, Hervorhebung SV) und machte damit prinzipiell jeden Untersuchungsgegenstand auch einem linguistischen Zugriff zugänglich. Von Anfang an waren es dabei insbesondere politisch bzw. gesellschaftlich kontroverse Themen, die im Rahmen einschlägiger Arbeiten behandelt wurden, wie etwa der Migrationsdiskurs (Jung/Wengeler/Böke 1997; Niehr 2004; Wengeler 2003), die Rüstungsdebatte (Wengeler 1992), die Wirtschafts- und Finanzkrise (Li 2016; Wengeler 2013; Wengeler/Ziem 2014) und der Kölner Moscheebaudiskurs (Kalwa 2013). Auch der im Rahmen dieser Arbeit betrachtete Kernenergiediskurs war bereits Gegenstand diskurslinguistischer Untersuchungen (Jung 1994a).

Mit dieser radikalen Ausweitung des Gegenstandsbereichs linguistischer Analysen ging gleichzeitig eine stärkere Ausrichtung des Untersuchungsinteresses auf die Strukturen des (gesellschaftlichen) Wissens einher, das mithilfe von Sprache – d. h. in Diskursen – ausgehandelt und transportiert wird. Im Spannungsfeld zwischen Sprach-, Kultur-, Kognitions- und Medienwissenschaft entstand so eine ganze Reihe diskurslinguistischer Theorien und Konzepte, „die nichts weniger zu erklären versuchen als menschliche Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit“, mit dem Ziel, „das Verhältnis von Sprache, Gesellschaft und ‚Wirklichkeit‘ […] neu zu denken“ (Spitzmüller/Warnke 2011, S. 1).

Grundlegende Einheit dieses linguistischen Zugriffs auf gesellschaftliches Wissen ist – in Anlehnung an Foucaults énoncé – die Aussage. Diskurse im Foucaultschen Sinne fungieren als Formationssysteme (systèmes de formation) dieser grundlegenden Einheiten; sie steuern die Bedingungen der Möglichkeit, bestimmte Aussagen vorzubringen, und weisen diesen gleichzeitig einen Platz im epistemischen Gesamtgefüge zu. Foucault (1971, S. 56) fasst diese reziproken Prozesse der Wissenskonstitution und-verortung in die Begrifflichkeiten des diskursiven Ereignisses (événement), der Serienbildung (série), der Regelmäßigkeit (régularité) und der Möglichkeitsbedingung (conditions de possibilité): Das einzelne diskursive Ereignis, d. h. die einzelne Aussage, bildet potenziell den Ausgangspunkt einer Serie gleichartiger Aussageereignisse, die sich im Zuge ihrer ←15 | 16→diskursiven Stabilisierung als Regelmäßigkeiten im Diskurs etablieren und so selbst wieder zu Möglichkeitsbedingungen neuer diskursiver Ereignisse werden. Diskurse sind in diesem Sinne zu verstehen „als geregelte und diskrete Serien von diskursiven Ereignissen“ (Busse 2008a, S. 80), deren Analyse auf die Herausarbeitung wiederkehrender Muster und Routinen abzielt. Diese Analyse ist dabei stets in erster Linie Wissens- und erst in zweiter Linie Sprachanalyse, sind die untersuchten Begriffe, Texte und Diskurse schließlich „vorrangig in ihrer Funktion, (gesellschaftliches) Wissen zu bündeln und zum Ausdruck zu bringen, von Interesse“ (Busse 2018a, S. 5). Der Zugriff auf dieses Wissen erfolgt indes an der sprachlichen Oberfläche von Diskursen, wo es „durch Iteration, Intertextualität und Routineformeln, also durch serielle Praxis“ (Warnke 2009, S. 135) manifest wird.

Beschreibt Foucaults Rede von diskursiven Ereignissen, Serien, Regelmäßigkeiten und Möglichkeitsbedingungen die verschiedenen Auftretensformen von Aussagen in Diskursen, so lassen sich diese auch aus funktionaler Perspektive in den Blick nehmen: Hier dienen Aussagen bzw. Diskurse der Konstruktion, Argumentation und Distribution von Wissen (vgl. ebd., S. 116–122), d. h. der „Herstellung von Faktizität in regelgeleiteten sozialen Prozessen“, der „Rechtfertigung von Faktizität durch Begründung oder Widerlegung von konstruiertem Wissen“ und der „Streuung von Geltungsansprüchen auf Wahrheit“ (ebd., S. 121). Diskurse sind damit der Ort, an dem Wissen durch Aussagen generiert, argumentativ ausgehandelt und verbreitet wird, bis es potenziell den Status gesellschaftlich geteilten Wissens erlangt. Mit ihrer wissens- und damit auch wirklichkeitskon­stitutiven Funktion bringen Diskurse jedoch nicht nur neues Wissen hervor, sondern strukturieren und arrangieren auch bereits bestehendes Wissen (vgl. Busse 2008b, S. 82), sodass sie gleich auf doppelte Weise dazu beitragen, „Ordnungen und Strukturen in Weltmodellen […] anzulegen“ (Busse 2000, S. 47). Erst innerhalb dieser diskursiv strukturierten Weltmodelle – oder anders ausgedrückt: erst vor dem Hintergrund dessen, was als kollektiv gültig eingeschätzt wird (vgl. Felder 2009a, S. 13) – kann Einzelaussagen eine Position im diskursiven Gefüge zugeschrieben, können sie in das jeweils relevante Wissenssystem eingeordnet werden (vgl. Warnke 2007, S. 15). Bedeutung ist damit „nicht eine vorrangige Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke, sondern eine Folge ihrer Stellung im diskursiven Feld“ (vgl. ebd., S. 12).

Dieser Umstand verdeutlicht den besonderen Status der Aussage als zentraler Größe des Zugriffs auf diskursiv vermitteltes Wissen: Sie verweist über die konkrete Form ihres Auftretens an der sprachlichen Oberfläche von Diskursen hinaus auf „Einheiten im menschlichen Konzeptsystem“ (Warnke 2009, S. 125), die durch regelhafte Prozesse der diskursiven Aushandlung konstituiert und ←16 | 17→durch ebensolche Prozesse wieder versprachlicht werden; sie ist damit im Sinne Foucaults von der Äußerung (énonciation) zu unterscheiden, die stets nur eine mögliche Form ihrer Versprachlichung darstellt. Dem trägt Busse Rechnung, indem er nicht von Aussagen, sondern schlicht von Wissenselementen bzw. epistemischen Elementen spricht (siehe etwa Busse 2008a).1

Diese Unterscheidung zwischen epistemischen Elementen (Aussagen) einerseits und den ihrer diskursiven Realisierung dienenden sprachlichen Elementen (Äußerungen) andererseits ist für die auf die Analyse gesellschaftlichen Wissens ausgerichtete Diskurslinguistik insofern zentral, als diese nicht an der sprachlichen Oberfläche haltmacht, sondern vielmehr dort erst ansetzt. Aus dieser Schwerpunktlegung auf das zum Verständnis einer Äußerung erforderliche Wissen anstatt auf ihre sprachliche Form ergeben sich systematische Anknüpfungspunkte an die Theorien und Methoden der Kognitiven Linguistik und insbesondere der Kognitiven Semantik (siehe Spitzmüller/Warnke 2011, S. 91–95). Wie die Diskurslinguistik

macht es sich [auch diese] zur Aufgabe, semantische Strukturen zugleich als Resultate des kommunikativen Gebrauchs von sprachlichen Ausdrücken und als sedimentierten Wissensbestand, über den SprachbenutzerInnen verfügen, zu erfassen und zu beschreiben. (Ziem 2013, S. 219)

Aus diesem gemeinsamen Anspruch lässt sich gleichzeitig eine Reihe von Prämissen ableiten, die beide Disziplinen miteinander verbinden (vgl. ebd., S. 219–223), nämlich die Annahmen:

1) dass die Bedeutung sprachlicher Zeichen das Resultat ihres kommunikativen Gebrauchs ist (vgl. Wittgenstein 2003, § 43);

2) dass die Betrachtung der Konstitution sprachlicher Zeichen nicht ohne die Betrachtung der ihr zugrunde liegenden kognitiven Prozesse auskommen kann;

3) dass die Betrachtung sprachlicher Bedeutung/sprachlichen Wissens zwingend auch die Betrachtung nicht im engeren Sinne sprachlichen Wissens (also etwa enzyklopädischen und interaktionellen Wissens) erfordert;

←17 | 18→

4) dass die Bedeutung sprachlicher Zeichen außerhalb des Kontexts ihrer konkreten Verwendung nicht angemessen beschreibbar ist.

Als gebrauchsbasierter Ansatz stützt sich die Diskurslinguistik dabei typischerweise auf Textkorpora, die als Zugriffspunkte auf die untersuchten epistemischen Wissensbestände fungieren. Die theoretisch-methodischen Konzepte, die zu deren Analyse herangezogen werden, sind zahlreich, gleichen sich jedoch in ihrer grundlegenden Funktion als „Ordnungs- und Strukturierungsinstrumente“ diskursiven Wissens (Busse 1997, S. 32), die eingesetzt werden, um aus einer Vielzahl disparater Aussageereignisse das Musterhafte herauszuarbeiten und als Schemata unterschiedlicher Art und Abstraktion greifbar zu machen. Als „klassische“ Instrumente der Diskurslinguistik können dabei lexikalische Analysen sowie Argumentations- und Metaphernanalysen gelten. Haben sich in jedem dieser drei Bereiche unterschiedliche Ansätze mit jeweils spezifischen theoretisch-methodischen Prämissen und Herangehensweisen herausgebildet, so ist für viele im Rahmen der Diskurslinguistik entstandene Arbeiten die Kombination mehrerer dieser Analyseebenen charakteristisch, wird die Festlegung auf ein einzelnes Phänomen schließlich der Komplexität diskursiver Prozesse mitunter nur bedingt gerecht (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 14).2

Zentral ist in diesem Zusammenhang v. a. die Frage, wie diese unterschiedlichen Methoden sinnvoll miteinander kombinierbar sind: So besteht zum einen die Möglichkeit der Methodentriangulation, d. h. einer Betrachtung des Forschungsgegenstands von (mindestens) zwei Punkten aus, die typischerweise verschiedenen methodischen Zugängen entsprechen (vgl. Flick 2011, S. 11); denkbar ist hier etwa eine Kombination qualitativer und quantitativer Ansätze oder auch die Kombination verschiedener qualitativer oder quantitativer Ansätze miteinander.3 Zum anderen besteht die Möglichkeit einer methodischen ←18 | 19→Integration, bei der die Betrachtung unterschiedlicher Analyseebenen in einem theoretisch wie methodisch einheitlichen Rahmen erfolgt.

Im Rahmen dieser Arbeit wird letzterer Weg gewählt: Ziel ist es hier, zwei zentrale diskurslinguistische Analyseebenen, nämlich die der Lexik und die der Argumentation, dergestalt miteinander in Beziehung zu setzen, dass sie mithilfe ein und desselben methodischen Apparats beschreibbar werden. Als Rahmen für diese Integration fungiert eines der heute bestetablierten diskurslinguistischen Analyseformate: die Frame-Semantik. Deren besondere Eignung für die Zwecke einer epistemisch orientierten Diskurslinguistik ergibt sich aus der Doppelrolle von Frames, in der sich die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen Äußerung und Aussage widerspiegelt in der Annahme, dass es sich bei Frames um Formate der sprachlichen Explizierung wie auch der kognitiven Organisation von Wissen handelt. Sie sind damit mehr als

ein Analyseformat, mit dem sich epistemologisch und linguistisch das verstehensrelevante Wissen deskriptiv erfassen und darstellen lässt; sie sind […] auch Kernelemente für die Organisation des Wissens schlechthin. (Busse 2008a, S. 80–81)

Diese Parallelität sprachlicher und kognitiver Strukturen sei an dieser Stelle nur kurz anhand des folgenden – ebenso simplen wie eingängigen – Beispiels von Fillmore (1976, S. 29) erläutert:

If I tell you that I bought a new pair of shoes, you do not know where I bought them or how much they cost, but you know, by virtue of the frame I have introduced into our discourse, that there have got to be answers to those questions.

Den Unterschied zwischen den beiden hier beschriebenen Wissensquellen – den konkret in einer sprachlichen Äußerung enthaltenen Wissenselementen und den auf deren Grundlage aus dem (enzyklopädischen) Wissen des Rezipienten rekonstruierten – fasst Fillmore (1982, S. 124) in die für ihn zentralen Begriffe des Evozierens und Invozierens von Frames:

On the one hand, we have cases in which the lexical and grammatical material observable in the text ‘evokes’ the relevant frames in the mind of the interpreter by virtue of the fact that these lexical forms or these grammatical structures or categories exist as indices of these frames; on the other hand, we have cases in which the interpreter assigns coherence to a text by ‘invoking’ a particular interpretive frame.

Der Umstand, dass mit der Aktivierung von Frames verstehensrelevantes Wissen verfügbar wird, ohne dass es hierzu einer expliziten Versprachlichung sämtlicher unmittelbar wichtiger Informationen bedürfte, verweist direkt auf einen der Aspekte, die das Frame-Konzept für die Diskurslinguistik so attraktiv machen: Es handelt sich hierbei um Repräsentationen konventionellen Wissens, ←19 | 20→das von den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft geteilt wird – ebenjenen Wissens also, das im Zentrum des diskurslinguistischen Erkenntnisinteresses steht (vgl. Taylor 2003, S. 93). Die einzelne Äußerung mag zwar ein individueller und potenziell idiosynkratischer Akt sein, sie ist aber immer auch unauflösbar an kollektive Gültigkeitsvorstellungen geknüpft:

Was Menschen in ihren Köpfen haben, mag privat sein. Der Weg, auf dem es hineingekommen ist […], ist aber ein sozialer, kulturell vermittelter Weg. Verstehensrelevantes Wissen ist in beschreibbarer Weise sozial konstituiert und aufgrund gesellschaftlich organisierter, kulturell determinierter Bewegungen und Prinzipien strukturiert. Insofern mögen die das Verstehen vorbereitenden Schlussfolgerungsprozesse (Inferenzleistungen) einzelner Subjekte durchaus individuell sein; das epistemische Material und die Schlussmuster, die dabei benutzt werden, sind unhintergehbar sozial. (Busse 2008a, S. 78)

Aufgrund ihres Status als „Grundformen der Kognition“ und „Grundlagen der Konventionalität“ (ebd., S. 75–76) werden Frames in einschlägigen Arbeiten regelmäßig zur Beschreibung diskursiv vermittelten Wissens herangezogen. Diese Betrachtung jedoch beschränkt sich meist auf die von Warnke angeführten Aspekte der Wissenskonstruktion und -distribution, während die argumentative Dimension, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt: Untersucht werden typischerweise nur das Auftreten und die Verteilung epistemischer Elemente an der sprachlichen Oberfläche, nicht aber die argumentativen Prozesse, die sich dahinter verbergen. Frame-semantische Analysen sind also im Sinne der eingangs getroffenen Unterscheidung typischerweise auf die Beschreibung lexikalischer Phänomene beschränkt. Nun ist aber, um die Formulierung von Busse aufzugreifen, nicht nur das „epistemische Material“ als Gegenstand und Ergebnis argumentativer Aushandlungsprozesse unhintergehbar sozial; die Schlussfolgerungsprozesse bzw. Schlussmuster, die dieser Aushandlung zugrunde liegen, sind es ebenso.

Ziel der nun folgenden Überlegungen ist es daher, eine theoretisch wie methodisch belastbare Grundlage für die systematische Einbeziehung ebendieser argumentativen Prozesse in diskurssemantische Frame-Analysen zu schaffen. Die dabei angestrebte methodische Integration beider Analyseformate ist aus frame-semantischer Sicht einer Methodentriangulation vorzuziehen (wie sie bereits verschiedentlich durch die Kombination von Frame-Analysen mit dem Topos-Modell nach Wengeler (2003) vorgeschlagen wurde). Dies ergibt sich unmittelbar aus einer der grundlegenden Prämissen kognitiver Frame-Konzepte, für die typischerweise auch im Kontext diskurslinguistischer Theorien Gültigkeit beansprucht wird: dem Gedanken nämlich, dass es sich bei Frames um das „Format des gesamten Wissens“ (Busse 2013a, S. 59) handelt. Geht man dazu davon aus, ←20 | 21→dass Frames nicht nur Wissen repräsentieren, sondern auch geeignet sind, es zu beschreiben, so erscheint der Schritt, sie auch zur Darstellung argumentativen Wissens heranzuziehen, nur logisch.

Hierzu erfolgt im ersten Teil dieser Arbeit zunächst eine detaillierte Darstellung von Forschungsstand und Problemstellung. Darin wird ein Überblick über zentrale frame-theoretische Prämissen und Konzepte gegeben (Kap. 1), wobei insbesondere dem im Kontext der Diskurslinguistik bislang kaum beachteten Konzept der Frame-Relationen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird (Kap. 2). Im Anschluss daran steht die bisherige diskurslinguistische Operationalisierung des Frame-Konzepts im Zentrum des Interesses, deren theoretische Grundlagen und forschungspraktische Umsetzung vorgestellt und mit Blick auf die eingangs umrissene Problemstellung kritisch beleuchtet werden (Kap. 3). Ausgehend von der Frage, welche Anpassungen des bestehenden methodischen Instrumentariums erforderlich sind, um diskursive Wissenskonstitutionsprozesse auch aus argumentativer Perspektive beschreiben zu können, rücken dann Anwendbarkeit und Relevanz von Frame-Relationen für diskurslinguistische Zwecke in den Mittelpunkt (Kap. 4), bevor mit der kritischen Betrachtung bisheriger Ansätze zur Kombination von Frame- und Argumentationsanalyse der Bogen zum hier behandelten Rahmenthema gespannt wird (Kap. 5).

Aufbauend darauf erfolgt im zweiten Teil dieser Arbeit eine vertiefende Diskussion des Verhältnisses von Frames und Argumentation. Auch dort steht die Doppelrolle von Frames als epistemisches und analytisches Format im Vordergrund: Es wird erörtert, wie argumentative Phänomene a) aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive für frame-theoretische Überlegungen anschlussfähig gemacht und b) mit frame-semantischen Mitteln beschrieben werden können (Kap. 6). Aus dieser theoretisch-praktischen Doppelperspektive werden im Anschluss hieran auch die verschiedenen Arten von Schlussfolgerungs- bzw. Argumentationsprozessen betrachtet, die ebendiesem Anspruch auf kognitive Plausibilität und forschungspraktische Umsetzbarkeit genügen, nämlich Analogiebildungen, Kategorisierungen und Kausalrelationen (Kap. 7).

Das so entwickelte theoretisch-methodische Instrumentarium wird schließlich im dritten und letzten Teil dieser Arbeit im Rahmen einer umfassenden empirischen Analyse erprobt. Gegenstand dieser Analyse ist die frame-semantische Beschreibung der Konzepte Kernenergie und énergie nucléaire im parlamentarischen Diskurs des Deutschen Bundestags und der französischen Assemblée nationale. Die Analyse des mit diesen Konzepten verknüpften Wissens erfolgt im Sinne der eingangs getroffenen Unterscheidungen aus struktureller wie funktionaler Perspektive: Die für den untersuchten Diskurs konstitutiven Ereignisse, Serienbildungen, Regelmäßigkeiten und Möglichkeitsbedingungen sollen nicht, ←21 | 22→wie für diskurslinguistische Frame-Analysen noch weithin üblich, auf der Ebene isolierter epistemischer Elemente betrachtet werden, sondern auch mit Blick auf die Funktionen, die sie in argumentativen Kontexten übernehmen. Die einzelne Aussage interessiert im Rahmen dieser Analyse also v. a. in ihrer Eigenschaft als Bestandteil von als „Aussagenbündel“ (Spitzmüller/Warnke 2011, S. 33) verstandenen Argumentationen, enthalten diese schließlich notwendigerweise mehr Wissen als aus der alleinigen Betrachtung der in sie eingebundenen Einzelaussagen rekonstruierbar ist. Die „erkenntnisformende Kraft natürlichsprachlicher Zeichen und ihrer Verknüpfungsmöglichkeiten“ (Felder 2009a, S. 16) wird hier also v. a. auch auf argumentative diskursive Relationen bezogen verstanden, die „sich auf die Materialität von Text- und Aussagegeflechten zurückführen [lassen]“ (Busse 2000, S. 48).

Mit dieser Schwerpunktlegung auf argumentative Phänomene rückt gleichzeitig ein weiterer zentraler Aspekt in den Vordergrund, nämlich die Perspektivität der untersuchten Diskurse:

Wer auf die Welt mit Sprache zugreift und damit Sachverhalte schafft, deutet sie unvermeidlich durch die Auswahl spezifischer sprachlicher Mittel. Der Sprachgebrauch prägt also die Gestalt des Sachverhalts, der sprachlich erst konstituiert wird und nicht sprachunabhängig schon gegeben ist. Damit wird die Hoffnung auf eine objektive Wirklichkeit […] ad absurdum geführt, und Schlüsselwörter wie Perspektivenselektion und Faktizitätsherstellung beerben im Sprachgebrauch naiv und objektivistisch verwendete Lexeme wie Information und Faktum. Ansprüche wie Objektivität oder Neutralität werden dann überführt in Konzepte wie das der Multiperspektivität, das davon ausgeht, dass eine bestimmte Anzahl von Perspektiven in Form von sprachlichen Formulierungen, also Zugriffsweisen, explizierbar ist im Hinblick auf identisch oder ähnlich modellierte Referenzobjekte in der Welt. (Felder 2009a, S. 17, Hervorhebungen i. O.)

Statt von einer „sprachlichen Konstituierung der Wirklichkeit“ (Spitzmüller/Warnke 2011, S. 45, Hervorhebung i. O.) sollte im Kontext der Diskurslinguistik also sinnvollerweise von einer sprachlichen Konstituierung von Wirklichkeiten gesprochen werden, die dazu dient, „die Welt bzw. einen Weltausschnitt zentralperspektivisch als Systemraum von einem spezifischen Sehepunkt aus durchzustrukturieren“ (Felder 2006, S. 14). Die diskursive Konstruktion, Argumentation und Distribution von Wissen ist damit letztlich immer auch Konstruktion, Argumentation und Distribution von Perspektiven auf die Welt. Köller (2004, S. 22) spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von kommunikativen Perspektivierungen, die sich im Zuge ihrer diskursiven Stabilisierung als kognitive Perspektivierungen etablieren:

Der Übergang der kommunikativen Perspektivität zur kognitiven Perspektivität einer sprachlichen Form ist eine Erscheinungsweise der kulturellen Traditionsbildung. Spätere Sprecher können auf die Perspektivierungsanstrengungen früherer Sprecher zurückgreifen und diese für ihre aktuellen sprachlichen Objektivierungsanstrengungen übernehmen oder variieren. Das bedeutet, dass in allen sprachlichen Formen und Mustern schon konventionelle Sichtweisen auf die Welt eingelagert sind, die bei jedem Gebrauch dieser Formen ihre Wirksamkeit entfalten.

Details

Seiten
408
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783631830963
ISBN (ePUB)
9783631830970
ISBN (MOBI)
9783631830987
ISBN (Hardcover)
9783631801017
DOI
10.3726/b17561
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Frames kontrastive Diskurslinguistik Frame-Relationen Argumentation Politolinguistik Kernenergie Atomkraft Bundestag Assemblée nationale Diskurslinguistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 408 S., 45 s/w Abb., 34 Tab.

Biographische Angaben

Simon Varga (Autor:in)

Simon Varga ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Seine Forschungsinteressen umfassen die Bereiche kognitive Semantik, Korpus- und Diskurslinguistik sowie Sprach- und Übersetzungstechnologie.

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