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Ist der Tod schlecht oder gut für den Menschen, der stirbt?

Ein philosophischer Versuch der Todesbewertung

von Sebastian Christ (Autor:in)
©2021 Dissertation 232 Seiten

Zusammenfassung

Die Frage nach der Bewertung des Todes und die Einordnung seiner Bedeutung für das Leben eines Menschen gehört zu den ältesten existentiellen Fragen der Philosophie. In diesem philosophischen Versuch der Todesbewertung werden ausgehend von den Überzeugungen von Epikur und Aristoteles verschiedene schlechte und gute Facetten des Todes analysiert. Es zeigt sich, dass der Tod weder einseitig schlecht noch gut ist. Auch eine Mitbegutachtung des Werts des Lebens anhand verschiedener Bewertungstheorien vermag nicht zu einer eindeutigen Antwort auf die Frage nach dem Wert des Todes zu führen. Daher stellt sich die Frage, ob es sich beim Tod nicht um ein für den Menschen unverständliches Paradoxon handeln könnte. Die Auseinandersetzung mit diesen metaphysischen Fragen aus dem Bereich der Thanatologie erfolgt in der Tradition der analytischen Philosophie.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1 Ist der Tod schlecht für den Menschen, der stirbt?
  • 1.1 Der leidvolle Tod
  • 1.2 Der einsame Tod
  • 1.3 Der würdelose Tod
  • 1.4 Der vorzeitige Tod
  • 1.5 Der eintretende Tod
  • 1.6 Der eingetretene Tod
  • 1.7 Der vereitelnde Tod
  • 1.8 Der entwertende Tod
  • 1.9 Der verweigernde Tod
  • 1.10 Zwischenfazit
  • 2 Ist der Tod gut für den Menschen, der stirbt?
  • 2.1 Der erlösende Tod
  • 2.2 Der ermahnende Tod
  • 2.3 Der herausfordernde Tod
  • 2.4 Der relativierende Tod
  • 2.5 Der sinnstiftende Tod
  • 2.6 Der moralstiftende Tod
  • 2.7 Der befreiende Tod
  • 2.8 Der vollendende Tod
  • 2.9 Zwischenfazit
  • 3 Spiegelt sich der Wert des Todes im Wert des Lebens wider?
  • 3.1 Motivation der Fragestellung
  • 3.2 Zum Begriff „Wert des Lebens“
  • 3.3 Die Bewertung des Lebens
  • 3.4 Der Eigenwert des Lebens
  • 3.5 Die Lustbefriedigung als Lebensinhalt
  • 3.6 Die Wunscherfüllung als Lebensinhalt
  • 3.7 Der richtige Güterkorb als Lebensinhalt
  • 3.8 Der Sinn des Lebens als Lebenswertsteigerung
  • 3.9 Das Leben als Spiegel des Todes
  • 3.10 Zwischenfazit
  • 4 Kann der Tod ein Paradox sein?
  • 4.1 Die vielen Facetten des Todes
  • 4.2 Zur Natur des Paradoxes
  • 4.3 Die Antinomie des Todes
  • 4.4 Der Wert des Todes für den Einzelnen
  • Fazit
  • Anmerkung
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Als ich vor vielen Jahren meine allererste Philosophie-Vorlesung besuchte, war ich verblüfft, dass es um das Thema Tod ging. Meine Verwunderung rührte nicht nur daher, dass man junge Studenten mit dieser Thematik in einem Studium der Philosophie begrüßt, sondern lag auch an der konkreten Fragestellung, die mir damals sehr eigen schien: „Ist der Tod schlecht oder gut für die Person, die stirbt?“1 Gründe für Ersteres konnte ich durchaus schnell ausmachen: Man wollte Studenten für eines der ältesten und spannendsten Themen der Philosophie sensibilisieren, die ganze Dramatik existentieller Fragen gleich am Anfang aufbieten oder aber man hatte das Curriculum ohne größere Hintergedanken zusammengestellt. Letzteres wiederum ist mir lange Zeit ein Rätsel geblieben: Kann es wirklich gut gehen, den Tod bewerten zu wollen? Lassen sich Bewertungskategorien – gut, schlecht – auf etwas so Natürliches wie den Tod überhaupt anwenden? Und wenn ja, warum sollte er schlecht, also ein Übel sein? Warum nicht gut? Warum nicht beides oder aber keines von beiden? Als ein paar Studenten den Professor nach der Vorlesung fragten, was denn seine Antwort auf die Frage sei, sagte er, er wisse es nicht – der Tod sei einfach ein Paradox.

Im Rückblick auf meine erste Philosophie-Vorlesung sind zwei Dinge bemerkenswert: (1) So seltsam die Frage vielleicht zu Beginn auf einen ←17 | 18→wirkt, so gewöhnlich ist sie für einen Philosophen. Dies mag daran liegen, dass sich Menschen schon immer über den Tod Gedanken gemacht haben. (2) Dass es sich beim Tod um ein Paradox handelt, wurde nur von wenigen Philosophen offen behauptet. Die meisten haben ihn entweder für ein Übel oder für ein Gut gehalten. Vielleicht liegt das daran, dass eine Entscheidungsfrage bei einem so fesselnden Thema dazu einlädt, sich klar auf eine Seite zu schlagen. Die Liste derer, die den Tod für ein Übel gehalten haben, ist in etwa so lang wie diejenige, die den Tod für ein Gut gehalten haben, wobei in der jüngeren analytischen Tradition die Position, dass der Tod ein Übel für den Menschen darstellt, zu einiger Beliebtheit gefunden hat.

Es ist nicht möglich, hier eine vollständige Liste aller Beiträge zum Thema zusammenzustellen, doch die Antworten einiger bedeutender Persönlichkeiten lauten in meinen eigenen Worten wie folgt: Sokrates hat bekanntermaßen seelenruhig den Schierlingsbecher getrunken und seine Anhänger gelehrt, dass der Tod kein Übel sei. Platon hat den Tod als die Erlösung der Seele von den Lasten des Körpers verstanden. Für Aristoteles war der Tod ein großes Übel, das ein mutiger und nobler Mensch jedoch nicht zu fürchten habe. Laut Epikur und Lukrez kann der Tod dem Menschen nichts anhaben. Seneca hat das Leben für lang genug gehalten, um nicht über den Tod lamentieren zu müssen. Cicero hat von sich behauptet, dass ihn die Philosophie dazu animiert habe, das Sterben zu erlernen. Jesus hat geraten, die Toten ihre Toten begraben zu lassen. Montaigne hat für einen gelassenen Umgang mit dem Tod plädiert, auch wenn es ihm selbst nicht so leichtgefallen sei, diesen Ratschlag zu beherzigen. Laut Hume hat noch kein Mensch sein Leben weggegeben, sofern es wert war, gelebt zu werden. Shakespeare hat Julius Caesar sagen lassen, dass der Tod kommen werde, wenn er komme, und wir nichts daran ändern könnten. Heidegger hat den Menschen vor dem Hintergrund seiner Bestimmung zum Tod verstanden. Laut Sartre hat sowohl unsere Geburt als auch unser Tod etwas Absurdes an sich. Auch Camus sah Absurdes am Leben und suchte zu erkunden, ob hieraus der Suizid begründbar sei. In der heutigen Philosophie haben Williams und Nagel die Auffassung vertreten, dass der Tod ein Übel sei, weil er den Menschen um viele weitere Möglichkeiten und Güter bringe.2

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Der widersprüchliche Charakter des Todes ist auch greifbar, wenn ich mit Freunden spreche, Zeitung oder Romane lese oder auch in die medizinische sowie psychologische Fachpresse schaue. So zeigt sich auf der einen Seite, dass Menschen den Tod durchaus als etwas Schlechtes, Unsicheres oder gar tief Befremdliches auffassen. Viele junge Menschen in meinem Umfeld zum Beispiel sind froh, sich noch nie richtig mit dem eigenen Tod konfrontiert gesehen zu haben – ein Tod in der erweiterten Bekannt- oder Verwandtschaft führt ja häufig nur zu einem kurzen Innehalten und Reflektieren über das eigene Dasein. Nicht zuletzt verstärkt die mediale Berichterstattung über gewaltsame Oper von Verbrechen, Krieg oder Naturkatastrophen die allgemeine Haltung, dass der Tod als etwas Schlechtes oder Schreckliches angesehen wird. Auf der anderen Seite wird dem Tod auch etwas Befreiendes und Erlösendes zugeschrieben – häufig vor dem Hintergrund religiöser Überzeugungen, aber auch im Kontext hochmoderner Apparatemedizin oder schwerer Leidenszustände. So ist im Krankenhaus zum Beispiel des Öfteren zu hören, dass der Tod einen Menschen von unerträglich gewordenen Schmerzen oder aus einem nicht mehr tragbar empfundenen Leidenszustand befreit habe. In diesen Fällen wurde der Tod am Ende des Lebens willkommen geheißen, ja als ein Gut betrachtet.

Unter den Philosophen stechen einige heraus, die einerseits eindrücklich verdeutlichen, dass die Frage nach der Bewertung des Todes eine sehr alte ist, und andererseits klar machen, dass die Meinungen von Philosophen bei diesem Thema schon immer sehr auseinandergingen. Zwei dieser Philosophen sind Aristoteles und Epikur.3 Diese beiden Klassiker werden ←19 | 20→heutzutage wohl deshalb immer mal wieder mit der Frage nach der Bewertung des Todes verknüpft, weil sie ihrer jeweiligen Position mit besonderer Eleganz Ausdruck verliehen haben und das Spektrum möglicher Antworten verdeutlichen. Ich möchte hier daher beide Positionen auszugsweise darstellen, weil sie einen Eindruck von der Breite des Widerspruchs zwischen dem Tod als Übel und dem Tod als Gut vermitteln. Aristoteles steht hier stellvertretend für die Befürworter der These, dass der Tod ein Übel für den Menschen darstellt. In Buch III der Nikomachischen Ethik ist zu lesen:

„Nun haben wir allerdings Angst vor jeglichem Übel, z.B. vor schlechtem Ruf […], vor Armut, Krankheit, Verlassenheit und Tod. […] Das Schwerste aber ist der Tod: er ist das Ende und nichts mehr kann, so glaubt man, dem Toten geschehen, weder Liebes noch Leides. […] Im echten Sinn also darf als tapfer bezeichnet werden, wer keine Furcht kennt vor dem Tod in Ehre und keine Furcht vor dem, was unmittelbar ans Leben geht […].“4

Aristoteles zufolge stellt demnach der Tod das größte aller Übel für den Menschen dar. Das sei deshalb der Fall, weil mit dem Tod alles ende, was uns als Menschen bekannt und vertraut sei. Weil der Tod etwas Schlechtes für den Menschen darstelle, scheint Aristoteles es für angemessen zu halten, ihn zu fürchten, wobei es als tugendhaft gelte, dieser Emotion zu widerstehen und ihm tapfer zu begegnen.5

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Der These, dass der Tod ein Übel für den Menschen darstellt, tritt Epikur entgegen und behauptet das genaue Gegenteil. In einem Brief an Menoikeus hat er folgende Ratschläge für seinen Freund parat:

„Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die Vernichtung der Empfindung.“6

Einige Zeilen weiter fährt Epikur fort:

„Das Schauererregendste aller Übel, der Tod, betrifft uns überhaupt nicht; wenn „wir“ sind, ist der nicht da; wenn der Tod da ist, sind „wir“ nicht. Er betrifft also weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da er ja für die einen nicht ist, die andern aber nicht mehr für ihn da sind. Doch die Masse flieht bisweilen den Tod als das allergrößte Übel […].“7

Laut Epikur halten Menschen den Tod fälschlicherweise für ein Übel, denn er ist gar keines. Dies könne man sich herleiten, wenn man sich zum Beispiel vergegenwärtige, dass der Mensch nur Dinge bewerten könne, die er erfahre, doch mit unserem Tod ginge auch jede Möglichkeit, weitere Erfahrungen zu machen, so Epikur.8 Alternativ müsse man sich lediglich klarmachen, dass man selbst und der eigene Tod nie gleichzeitig existieren würden, sodass der Tod uns nicht tangieren und somit auch kein Übel für uns sein könne, behauptet Epikur.9

Epikur liefert also gleich zwei separate Argumente dafür, dass der Tod kein Übel für den Menschen darstellt und der Mensch sich nicht zu lange mit ihm aufhalten sollte. Hierbei handelt es sich nicht um triviale Wortspiele oder oberflächliche Behauptungen, sondern im Gegenteil um durchdachte und differenzierte Überlegungen, die die verbreitete Ansicht herausfordern, der Tod sei ein Übel.10 Stoecker hat sie in seinem Buch Der Hirntod deshalb ←21 | 22→als „Epikureische Herausforderungen“ bezeichnet.11 Beide epikureischen Herausforderungen basieren auf mindestens einer Prämisse, die im Zusammenhang mit der Philosophie des Todes einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.12 Bei der ersten epikureischen Herausforderung ist das die Erfahrungsbedingung, d.h. die Annahme, dass ein Mensch all das erfahren können müsse, was er als gut oder schlecht bewerte.13 Zum Beispiel: Wenn sich ein Mensch an einer heißen Herdplatte verbrennt, so ermöglicht ihm ausschließlich seine Erfahrung, dieses Ereignis als etwas Schlechtes für ihn zu begreifen. Die zweite epikureische Herausforderung bedient sich der sogenannten Existenz- oder Subjektbedingung: Damit etwas schlecht für jemanden sein könne, müsse dieser jemand existieren.14 Zum Beispiel: Wenn ich als russischer Spion einen vermeintlich schlafenden Hotelgast um Mitternacht aus dem Fenster werfe, so schadet ihm das nur, wenn der Gast nicht schon zuvor durch das vom Doppelagenten zum Abendessen verabreichte Gift gestorben ist. Wie bereits erwähnt, haben sich alle nachfolgenden Philosophen – vereinfacht gesprochen – entweder Aristoteles oder Epikur angeschlossen, sodass von zwei mehr oder weniger festen Lagern die Rede sein kann.

Ich möchte in dieser Dissertationsarbeit die alte und kontroverse Frage, ob der Tod gut oder schlecht für den Menschen ist, der stirbt, erneut aufgreifen und einen umfangreichen Versuch zur philosophischen Todesbewertung wagen.15 Wonach, so mag man direkt einwenden, fragt diese Frage ←22 | 23→überhaupt genau? Wie bereits durch die zahlreichen Beiträge angeklungen ist, geht es um nichts weniger als die Bewertung des Todes des Menschen, und zwar für denjenigen Menschen, der stirbt, d.h. es geht nicht um den Tod der anderen Menschen, sondern eben um den eigenen Tod: Wie schlecht oder gut der eigene Tod für den Menschen selbst ist. Ziel meiner Argumentation in Beantwortung dieser Frage ist es zu zeigen, dass der Tod sich durch eine Widersprüchlichkeit oder Ambivalenz auszeichnet, die ihn letztlich zu beidem macht, einem Übel und einem Gut. In meinen Augen ist der Tod insofern ambivalent, als er sowohl negative wie positive Facetten hat, die gleichzeitig Bestand haben können. Wie bereits erwähnt, wurde diese Antwort eher selten gegeben. Um diese These zu stützen, untersuche ich zunächst, welche negativen und positiven Facetten der Tod möglicherweise hat und ob sie ihn notwendigerweise schlecht oder gut machen können. Diese Analyse wird zum einen zeigen, dass der Tod sowohl negative als auch positive Facetten besitzt und zum anderen die Tatsache zutage fördern, dass der Tod nicht ohne Rekurs auf das Leben bewertet werden kann. Der Versuch, den Tod anhand des Lebens eindeutig zu bewerten, schlägt jedoch fehl, was mich letztlich dazu führt zu prüfen, ob die Bedingungen für das Vorliegen eines Paradoxons im Falle des Todes erfüllt sind.

Die Arbeit ist in vier Kapitel untergliedert. In den ersten beiden Kapiteln geht es um die Frage der Todesbewertung im engeren Sinne. Im dritten Kapitel liegt das Augenmerk auf der Rolle des Lebens, das bei der Bewertung des Todes entscheidenden Anteil hat. Das vierte Kapitel ist als Synthese gestaltet, in dem bisherige Erkenntnisse zusammengetragen werden und ich dafür argumentiere, dass gegensätzliche Eigenschaften des Todes es rechtfertigen, von einer gewissen Ambivalenz zu sprechen: Der Tod ist gut und schlecht für den Menschen, der stirbt.

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Jedes der vier Kapitel hat ein separates Thema zum Gegenstand. Die diskutierten Fragen lauten:

(1)Ist der Tod schlecht für den Menschen, der stirbt?

(2)Ist der Tod gut für den Menschen, der stirbt?

Details

Seiten
232
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631850220
ISBN (ePUB)
9783631850237
ISBN (MOBI)
9783631850244
ISBN (Hardcover)
9783631845080
DOI
10.3726/b18178
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Tod und Sterben Facetten des Todes Evaluation des Todes Der Tod als Gut Wert des Todes Der eigene Tod Leben und Tod Paradox des Todes Der Tod als Übel Thanatologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 232 S.

Biographische Angaben

Sebastian Christ (Autor:in)

Sebastian M. Christ hat Medizin, Volkswirtschaftslehre und Philosophie in Berlin, London und Freiburg studiert. Er promovierte im Fach Philosophie bei Prof. Dr. Ralf Stoecker.

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