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Die Flucht in der Verfolgung – eine legitime Alternative zu Martyrium oder Apostasie?

Tertullians Traktat "de fuga in persecutione" im historischen und theologischen Kontext seiner Zeit

von Daniel Greb (Autor:in)
©2021 Dissertation 626 Seiten

Zusammenfassung

In seinem Traktat de fuga in persecutione bezieht der frühchristliche Theologe Tertullian v. Karthago (ca. 160–220 n. Chr.) Stellung zur Frage, ob es für Christen erlaubt sei, in der Verfolgung zu fliehen. Seine ebenso von der klassischen Rhetorik wie der stoischen Philosophie und dem Kontakt zum Montanismus beeinflusste Argumentation kommt zu einem klaren Ergebnis: Einzig Standhaftigkeit und Martyriumsbereitschaft können die rechte Antwort auf die Verfolgung sein. Die vorliegende Publikation bietet eine Einleitung, Übersetzung und umfassende Kommentierung dieser Schrift und versucht, sie mittels eines multiperspektivischen Ansatzes im historischen und theologischen Kontext ihrer Zeit auszulegen.

Inhaltsverzeichnis


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Prolog

Als „der erste lateinischsprachige christliche Schriftsteller, den wir kennen“1 hat der Karthager Q. Septimius Florens Tertullianus (Tertullian; ca. 160–220 n. Chr.) bereits große Beachtung erfahren.2 Neben seinen antihäretischen bzw. dogmatischen Traktaten, wie adversus Praxean und adversus Marcionem, standen vor allem seine praktisch-theologischen Schriften im Fokus der Forschung, wobei der Karthager nicht selten als Autor „herben und düsteren Sinnes und stets zu Extremen geneigt“3 charakterisiert wurde.

Unter diesen praktischen Schriften findet sich auch der Traktat de fuga in persecutione („Über die Flucht in der Verfolgung“). Darin werden zentrale Themen wie die Frage nach der Herkunft der Christenverfolgungen, der Pflicht zum Martyrium und dem ganz praktischen Umgang früher Christen mit Verfolgungssituationen betrachtet. Hierbei wesentlich ist die Frage, ob die Flucht eine legitime Alternative zum Martyrium oder der Apostasie sei.

Bisher hat der Traktat über die Frage der Flucht in der Verfolgung jedoch nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Er scheint hinter den großen Schriften (etwa apologeticum, ad nationes, adversus Praxean, adversus Marcionem) und denjenigen mit gleichsam ‚bedeutsamerer‘ Thematik (etwa de baptismo, de oratione, de paenitentia, de spectaculis) zurückstehen zu müssen. Für diese Vernachlässigung sind vielleicht auch die Urteile früherer Patrologen mitverantwortlich: Bardenhewer reiht den Traktat unter die „antikatholische[n]‌ Streit- oder vielmehr Schmähschriften“4 ein und misst ihm daher eher untergeordnete Bedeutung zu. Schumann von Mannsegg nennt Tertullians Argumente in de fuga „seicht und oberflächlich“5, charakterisiert sie als unangemessen und unverständig.6 Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Schrift vermisst man indes bei beiden Wissenschaftlern. Möglicherweise ist es auch Tertullians rigorose und kompromisslose Härte, die dieser und ähnlichen Schriften zur Leidens- und Martyriumsthematik (ad martyras, de corona, scorpiace) die Attraktivität nimmt und eine moderne Rezeption erschwert. So fand der Fluchttraktat in den einschlägigen Reihen „Fontes Christiani“ (FC), „Sources ←13 | 14→Chrétiennes“ (SC) und „Bibliothek der Kirchenväter“ (BKV) bisher keine Berücksichtigung.7

Neben einer modernen deutschen Übersetzung auf der Grundlage der neuesten kritischen Editionen – die bisher jüngste Übertragung stammt von 18828 – fehlt auch die ausführliche Würdigung in Form eines Kommentars, obgleich Thierry 1941 eine philologische Dissertation veröffentlichte, in welcher er neben einer umfangreicheren Einführung und niederländischen Übersetzung die Schrift in der Hauptsache philologisch auslegt, dabei aber theologische, philosophische und biographische Fragen innerhalb seiner Wort für Wort erfolgenden Kommentierung nur punktuell, ohne Gesamtzusammenhang und keinesfalls ausführlich beleuchtet.9 Zudem fehlen dieser Analyse naturgemäß die Erkenntnisse der Tertullianforschung der letzten Jahrzehnte – namentlich sind hier Braun, Fredouille, Barnes, Rankin und Tabbernee anzuführen10 –, weshalb sie schon allein deshalb in vielen Bereichen einer Aktualisierung bedarf.11 Gleichwohl werden die Verdienste Thierrys gerade in den Bereichen Sprache und Stilistik für die hier in Angriff zu nehmende Untersuchung wertvoll und unverzichtbar sein, ist die Sprache doch an vielen Stellen auch Schlüssel zur Interpretation eines Textes.

Auch die Anmerkungen, welche Azzali Bernardelli ihrer Edition und Übertragung ins Italienische12 (2004) beigibt, verstehen sich allein ihres Umfangs wegen eher als erklärende Hilfen zur Übersetzung denn als erschöpfender Kommentar und vermögen den Traktat in seiner Bedeutung und seiner inneren Logik kaum in Gänze zu würdigen.13

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Zudem bieten, der Natur ihrer Gattung gemäß, auch die einschlägigen Patrologien und Literaturgeschichten lediglich knappe Inhaltszusammenfassungen sowie Hinweise zur Datierung.14

Einzelne Abschnitte des Fluchttraktats wurden bislang in wenigen Untersuchungen zur Martyriumstheologie oder zum Montanismus herangezogen, aber kaum in einen größeren und das gesamte Werk würdigenden Zusammenhang gestellt. Vielmehr beleuchten sie Einzelaspekte.15 Damit bilden sie für die umfassende Kommentierung der Fluchtschrift jedoch eine gute Grundlage und ermöglichen es, die auszuführenden Gedanken zu ihnen in Beziehung zu setzen und sie für die hier zu leistende Interpretation fruchtbar zu machen.

Das Ziel der vorliegenden Dissertation soll es daher sein, Tertullians Traktat über die Flucht vor dem historisch-theologischen Hintergrund seiner Zeit möglichst multiperspektivisch16 zu untersuchen und auszudeuten. In besonderer Weise ist danach zu fragen, vor welchem Hintergrund und wie der Karthager seine radikale Ablehnung jeglicher Flucht begründet, „obwohl [er] hierin die Hl. Schrift, die kirchliche Überlieferung und das Beispiel großer Bischöfe (vgl. Polykarp) gegen sich hatte“17. Gerade diese heute nur schwer nachvollziehbare Extremposition bedarf der vertieften und breit angelegten Aufarbeitung, um nicht mit allzu voreiligen Pauschalurteilen, wie den oben angeführten, bei der Hand zu sein und die Schrift als Ausdruck eines – aus heutiger Sicht – fanatischen Rigorismus abzutun.

In einem einleitenden Kapitel ist zunächst nach dem historisch-biographischen Kontext zu fragen, damit die Schrift mittels Einordnung in ihre Entstehungszeit und ihre jeweiligen Umstände sowie in Beziehung zu Hintergrund, Leben und Werk ihres Verfassers in rechter Weise beurteilt werden kann. So ist die Situation der Christen im Römischen Reich, im Besonderen in der Provinz Africa Proconsularis, bis in die Zeit Tertullians in den Blick zu nehmen. Sodann gilt es, den Autor ←15 | 16→selbst zu betrachten und sein Leben, seine Ausbildung sowie seine persönliche Entwicklung grundlegend nachzuzeichnen. Insbesondere soll dabei sein (immer wieder in der Literatur thematisiertes und kontrovers diskutiertes) Verhältnis zur Bewegung des Montanismus beleuchtet und auf der Basis neuester Untersuchungen grundlegend bestimmt werden, um im Verlauf der Untersuchung den Einfluss dieses Verhältnisses auf Tertullians Position zur Frage der Flucht zu klären: De fuga nämlich wird in der Regel in die ‚montanistische‘ Periode Tertullians eingeordnet, während der sich nach Meinung etlicher Forscher ein radikaler Bruch mit der (katholischen) Kirche, ja gar ein Abfall von ihr vollzogen hätte.18 Da diese Verhältnisbestimmung für die rechte Auslegung des Fluchttraktats wesentlich ist, wird sie notwendigerweise vertiefter erfolgen (Teil A).

Anschließend wird der Traktat auf Grundlage der aktuellsten textkritischen Edition aus dem Jahr 1957 (V. Bulhart, CSEL 76) ins Deutsche übersetzt, wobei beim Erstellen der Übersetzung das Bestreben leitend war, den nicht immer leichten Spagat zwischen Nähe zum Originaltext einerseits und Verständlichkeit andererseits in bestmöglicher Weise zu lösen, um mittels der Übersetzung einen Grundzugang nicht nur zum Inhalt des Fluchttraktats, sondern auch zu Tertullians Sprache und Stil zu eröffnen.

Auf der Grundlage der in Teil A gewonnenen Ergebnisse wird die Schrift de fuga sodann unter historisch-theologischen, sprachlich-philologischen, rhetorischen wie auch philosophischen Gesichtspunkten umfassend kommentiert. Hier wird vor allem von Bedeutung sein, den Schriftsteller Tertullian als ‚Kind seiner Zeit‘ zu verstehen, der aus heidnischer Familie stammend und klassisch-rhetorisch gebildet den Weg zum Christentum fand und in besonderer Weise seine rhetorischen Fertigkeiten und juristischen Kenntnisse in vollem Umfang einsetzte, um seinen theologischen Positionen Nachdruck zu verleihen, sich aber auch aus dem reichen Schatz der Militärmetaphorik sowie der Topoi und Begründungsmuster der klassischen (vor allem stoischen) Philosophie bediente, um seine Positionen verständlicher und drastischer zu vermitteln. Die gewonnenen Erkenntnisse über das Verhältnis Tertullians zum Montanismus sollen einen weiteren Zugang zum Text eröffnen und die Frage beantworten helfen, inwiefern die Begegnung mit dem Montanismus Tertullians Haltung zur Flucht beeinflusste und sich im Text niederschlug. Eine Abhandlung klassischer Einleitungsfragen geht der Übersetzung und Kommentierung voraus. Hierbei stehen, neben der Betrachtung zweier früherer Aussagen des Autors zur Bewertung der Flucht, die besonders hinsichtlich der Frage nach einer Entwicklung seiner Position bedeutsam sind, vor allem die zeitliche Einordnung und die bisher nicht untersuchte rhetorische Disposition des Traktats im Mittelpunkt (Teil B).

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Abschließend soll eine Einordnung in den Kontext der theologischen Debatte des 2. bzw. 3. Jahrhunderts n. Chr. über die Erlaubtheit einer Flucht vor Verfolgung vorgenommen und mittels dieser Horizonterweiterung gezeigt werden, dass Tertullian keinesfalls der erste und letzte Theologe war, den die Fluchtproblematik beschäftigte. Hierzu gilt es zu untersuchen, welche Positionen zur Frage nach der Flucht als legitimer Alternative zu Martyrium oder Apostasie unmittelbar vor Tertullian und in der zeitgenössischen Theologie bezogen wurden und wie jeweils deren Begründung erfolgte (Teil C).

Vor dem Hintergrund derselben und auf der Grundlage der in Teil B geführten Untersuchung ist es zuletzt möglich, das Proprium der tertullianischen Position, wie es in de fuga in persecutione zum Tragen kommt, herauszustellen. Dadurch soll noch einmal komprimiert ein Beitrag zum nachhaltigen Verständnis der Position des karthagischen Theologen geleistet und diese hinsichtlich ihrer inneren Logik und ihres Alleinstellungsmerkmals profiliert und gewürdigt werden (Epilog).


1Drobner, Lehrbuch der Patrologie, 183.

2Umfassende Studien bieten u.a. Barnes, Tertullian; Fredouille, Tertullien et la Conversion de la Culture antique; Rankin, Tertullian and the Church; Zilling, Tertullian.

3Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 2, 379.

4Ebd., 421.

5Schumann von Mannsegg, Über die Verfolgungen der ersten christlichen Kirche, 224.

6Vgl. ebd., 227. Auch Barbel, Geschichte der frühchristlichen griechischen und lateinischen Literatur 1, 85 nennt de fuga in unmittelbarem Zusammenhang mit der „häßliche[n]‌ Schmähschrift“ de ieiunio.

7Vgl. Keller/Hartley-Lutz, Translationes Patristicae, 722; siehe hierzu auch unten, Kapitel B. 5. Auch de corona und scorpiace sind – obwohl in die BKV2 aufgenommen – nicht in den Quellenreihen FC bzw. SC erschienen und bisher nicht umfassend kommentiert worden (vgl. Keller/Hartley-Lutz, Translationes Patristicae, 721.724). Für coron. und fug. ist eine Veröffentlichung in der Reihe FC in Bearbeitung.

8Kellner, Über das Fliehen in der Verfolgung. Vgl. zu den bisher entstandenen (auch fremdsprachigen) Übersetzungen ausführlich unten, Kapitel B. 5. innerhalb der Einleitungsfragen. Ebenfalls eine Bemerkung wert ist die Tatsache, dass Keller/Hartley-Lutz, Translationes Patristicae, 722 neben der deutschen Übersetzung Kellners lediglich zwei englische, eine italienische und eine spanische anführen, womit der Abschnitt zu de fuga im Rahmen der Werke Tertullians einer der kürzesten ist.

9Vgl. Thierry, de fuga.

10Vgl. zu Tertullians Leben und Werk und vor allem seinem Verhältnis zum Montanismus ausführlich unten, Kapitel A. 2.2.

11Zu hinterfragen ist ebenso die umfangreichere, jedoch nicht sehr wertneutrale Zusammenfassung des Inhalts bei Neander, Antignostikus (1825), 121–137; zweite, erweiterte Auflage derselben Schrift: Neander, Antignostikus (1849), 111–122.

12Vgl. auch unten, Kapitel B. 5.

13Vgl. Azzali Bernardelli, de fuga (Anmerkungen), 272–325, Anm. 1–157.

14Vgl. etwa Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 2, 421f.; Altaner/Stuiber, Patrologie, 159; Harnack, Geschichte der altchristlichen Literatur 2, 279–281; Quasten, Patrology 2, 309f.; Tränkle, Tertullianus, 492.

15Vgl. etwa Bähnk, Von der Notwendigkeit des Leidens, passim (eine Inhaltsangabe von de fuga findet sich ebd., 178–184); vor allem die sogenannten Martyriumssprüche aus de fuga (hierzu vgl. unten, Kapitel B. 7.4.7.) untersuchen Butterweck, „Martyriumssucht“ in der Alten Kirche?, 57–62; Baumeister, Die montanistischen Martyriumssprüche bei Tertullian; Robeck, Prophecy in Carthage, 110–117.

16Unter „multiperspektivisch“ werden verschiedene Zugänge zum Text verstanden. Diese ergeben sich neben historischen und sprachlich-stilistischen Gesichtspunkten aus den unterschiedlichen Prägungen, welche auf Tertullian einwirkten und sich demgemäß in seinen Schriften niederschlugen: Neben der christlichen Theologie und der Begegnung mit dem Montanismus sind die klassische Rhetorik bzw. Forensik, die (stoische) Philosophie und die familiäre Herkunft (insbesondere der Vater als römischer Offizier) zu nennen (vgl. auch unten, Kapitel A. 2.1.). So soll ein möglichst umfassender Zugang zum Text gewonnen werden.

17Kihn, Patrologie, 251.

18Vgl. für diese klassische Position exemplarisch Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 2, 421–423; Kihn, Patrologie, 235; Schanz/Hosius/Krüger, Geschichte der Römischen Literatur 3, 273; Harnack, Die Geschichte der altchristlichen Literatur 2, 280.

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A. Historisch-biographischer Kontext

1. Die nordafrikanischen Christen im Römischen Reich – eine Einordnung in den Kontext von Geschichte und Politik

Wer sich mit der Problematik der Flucht in der Verfolgung und ihrer theologischen Bewertung in der frühen Kirche beschäftigen will, kommt nicht umhin, nach den Ursachen zu fragen, die der theologischen Reflexion zugrunde liegen und die Christen erst dazu veranlasst haben, diese Option in Erwägung zu ziehen – namentlich also mit den Verfolgungen durch die heidnische Umwelt bzw. den Römischen Staat, welche bis zum Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr. regional begrenzt, dann auch reichsweit und staatlich organisiert stattfanden.

Zu diesem Thema existiert eine breite Fülle an wissenschaftlichen Publikationen, sodass hier eine Darstellung lediglich in Grundzügen mit Verweis auf weiterführende Literatur gegeben werden soll. Beschränken wird sich die folgende Ausführung, die zur Kommentierung des Traktats de fuga in persecutione hinführen will, auf die Zeit bis zum Tode Tertullians etwa um 220 n. Chr.1, um die spezifische Situation der Christen im Römischen Reich und insbesondere in Nordafrika zur Abfassungszeit zu konkretisieren.

1.1. Die Situation der Christen im Römischen Reich bis zum Tode Tertullians

Das junge Christentum konnte sich als religiöse Bewegung im Römischen Reich schnell ausbreiten und Fuß fassen.2 Ursächlich hierfür war sicher ein gewisser Drang zur Ausbreitung angesichts der Dialektik zwischen dem Missionsbefehl Jesu (vgl. Mt 28,19f.) einerseits und der unmittelbaren Naherwartung im Hinblick auf die Vollendung der Welt (vgl. z.B. Mt 10,23b) andererseits. Somit musste die Ausführung dieses Auftrages in Anbetracht des scheinbar nahenden Endes, von dem auch Jesus wohl überzeugt war3, schnell umgesetzt ←19 | 20→werden.4 Auf diesen Hintergrund ist auch der Missionseifer der frühen Christen und insbesondere des Paulus, Philippus und Barnabas zurückzuführen.5

Es kann an dieser Stelle nur in aller Kürze auf die Ausbreitungs- und Missionsgeschichte des frühen Christentums eingegangen werden.6 Die Schriften des Neuen Testaments bezeugen schon für das 1. Jahrhundert n. Chr. eine Ausbreitung bis in zahlreiche Regionen Syriens, Griechenlands und Kleinasiens sowie das Ausgreifen nach Westen bis Rom und eventuell Spanien.7 Im 2. Jahrhundert n. Chr. gab es bereits in allen Teilen des Reiches christliche Gemeinden. Wie Dünzl festhält, waren hierbei jedoch „Paulus und seine Mitarbeiter/innen […] sowie die Wanderprediger, die im palästinensisch-syrischen Raum in einem radikalen Sinn Jesus ‚nachfolgten‘ […], aufs Ganze gesehen nicht typisch für den missionarischen Erfolg des frühen Christentums.“8 In weit größerem Maße war es das Zeugnis der einzelnen Christen, die mit ihrem Leben eine Attraktivität auf ihr Umfeld ausübten9 und gleichsam eine „individuelle Propaganda“10 für die christliche Gemeinschaft betrieben. Das Christentum konnte eine solch große Anziehungskraft entfalten, weil seine Botschaft nicht exklusiv war und sich an alle gesellschaftlichen Schichten, besonders auch an die Ausgegrenzten und Verlierer der römisch-hellenistischen Welt, richtete. Unter die Gründe für den Erfolg des frühen Christentums11 fallen beispielsweise die Zugänglichkeit der christlichen Botschaft durch den Gebrauch der damaligen Weltsprache Griechisch, aber auch die religiöse Attraktivität des Monotheismus oder die zunächst erfolgte Anlehnung an das hellenistische Judentum und seine Infrastruktur.12 Hinzu trat auch eine gewisse ökonomische Attraktivität des frühen Christentums, bot es doch für die Ärmsten der Gesellschaft eine geregelte Versorgung mit Lebensnotwendigem und eine soziale Aufwertung innerhalb der Gemeinschaft christlicher Brüder und Schwestern.13 Sodann breitete sich die Bewegung vor allem über Händler, Seefahrer, Sklaven und Militärs im gesamten ←20 | 21→Reich aus, also über mobile Bevölkerungsgruppen entlang der gut ausgebauten Fernstraßen. Auch Gemeindegründungen erfolgten wie die Missionsarbeit oft ‚von unten‘ her. Reinbold führt in diesem Zusammenhang die römische Gemeinde als Beispiel an. Ihre Anfänge liegen im Dunkeln der Geschichte, aber bereits in den 40er und 50er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. muss es eine Gemeinde gegeben haben, die durch das Claudius-Edikt14 und den Römerbrief des Paulus fassbar wird. Aber „sie ist nicht von einem der Zwölf oder einem Apostel gegründet worden, und es ist zweifelhaft, ob es überhaupt (eine) Person(en) gegeben hat, die mit Recht als Gründer(innen) gelten können.“15 Für viele andere Gemeindegründungen des 1. Jahrhunderts n. Chr. lässt sich Ähnliches feststellen.16 Es handelte sich also um ein Hineinwirken der christlichen Ideen und des christlichen Lebenszeugnisses in die Mitte der römisch-griechischen Gesellschaft aus ihr selbst heraus. Das bedeutete aber gerade kein Aufgehen der Christen in den vorgefundenen traditionellen gesellschaftlichen Konventionen. „In einer durch einen griechisch-römischen Ethnozentrismus geprägten Gesellschaft praktizierten die Christen ein exklusives Modell der geschwisterlichen Offenheit und Gleichheit, das utopische Elemente enthält und grundlegende Wertvorstellungen hinter sich lässt. So entwickelte sich das frühe Christentum schnell zu einem neuen kulturellen System.“17

Die Geschichte des frühen Christentums ist vor allem deshalb eine Geschichte von Abgrenzungen: Während Christen sich, wie es auch die biblische Apostelgeschichte belegt, in frühester Zeit innerhalb der jüdischen Gemeinden organisierten und die jüdische Infrastruktur zu ihren Gunsten nutzten, kam es im Laufe des 1. Jahrhunderts n. Chr., vor allem durch die Heidenmission des Paulus und seiner Begleiter18 sowie die Ermöglichung der beschneidungsfreien Konversion zum Christentum in Folge des Jerusalemer Apostelkonvents (vgl. Apg 15/Gal 2,1–10)19, zur Lösung der Kirche von der Synagoge, also einer Entfremdung und gegenseitigen Abgrenzung von (traditionellem) Judentum und dem sich selbst findenden und konstituierenden Christentum.20 So gelang es, „neue, übergreifende Identitäten über das Judentum hinaus zu bilden und neue Anschlussfähigkeiten bewusst herzustellen“21. In Antiochia am Orontes, der drittgrößten Stadt des Reiches, begegnet erstmals der Name Χριστιανοί für die Anhänger der Jesus-Bewegung, sodass man davon ausgehen kann, dass Christen „Anfang der 40er Jahre erstmals als eigene ←21 | 22→Gruppe neben Juden und Heiden wahrgenommen“ wurden und „ein erkennbares theologisches Profil und eine organisatorische Eigenstruktur gewonnen haben“22 mussten.

Durch die rasche Ausbreitung, die sich die Infrastruktur des Römischen Reiches zu Nutze machen konnte, etablierte sich das Christentum nach und nach stärker im Reich, ohne aber wirklich, wie die paganen Kulte und Religionen, in selbigem aufzugehen. Die neue Religion musste sich nun in einem weiteren Schritt gegenüber den älteren, paganen Kulten und auch gegenüber der pagan geprägten Gesellschaft positionieren.23 Und dies geschah nicht ohne Widerstände.

1.1.1. Christentum und römische Gesellschaft

Zunächst war das Christentum eine von zahlreichen neuen religiösen Bewegungen, die zu Beginn oder im Laufe des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden oder eine neue Blüte erlebten. Zu ihnen gehören vor allem Mysterienkulte wie der des Mithras oder der Isis.24 Entscheidend für die reibungslose Eingliederung der letztgenannten neuen Kulte war, dass „sie ihrerseits die bereits existierenden Kulte in ihrer grundsätzlichen Berechtigung nicht bestritten“25. Anders verhielt es sich mit dem Christentum.

1.1.1.1. Die grundsätzliche Loyalität der Christen gegenüber dem Staat

Das Verhältnis zwischen Christen bzw. dem Christentum als religiösem System und der römischen Gesellschaft gestaltete sich dialektisch. So erkannten die frühen Christen den römischen Staat sehr wohl als Autorität an26, die von Gott eingesetzt war. Grundlegend war hier neben Jesu Wort, das verlangt, „dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Mk 12,17) zu geben, die theologisch grundlegende Aussage des Paulus im Römerbrief.27 Theologen der frühen Kirche entfalteten diese Gedanken und ←22 | 23→betonten, dass sie für das Wohl des Kaisers und den Erhalt des Imperiums beteten, von dessen Wohlfahrt sie ja auch selbst profitierten. Tertullian schreibt hierzu in seiner um 197 n. Chr. entstandenen Verteidigungsrede für das Christentum: Nos enim pro salute imperatorum deum invocamus aeternum, deum verum, deum vivum, quem et ipsi imperatores propitium sibi praeter ceteros malunt. […] precantes sumus semper pro omnibus imperatoribus vitam illis prolixam, imperium securum, domum tutam, exercitus fortes, senatum fidelem, populum probum, orbem quietum, quaecumque hominis et Caesaris vota sunt28 (Tert. apol. 30,1.4 [Becker 164.166]).

Dieses Gebetsgedenken galt auch und insbesondere den heidnischen Verfolgern der Christen. So schreibt Bischof Polykarp von Smyrna an die Philipper: Orate etiam pro regibus et potestatibus et principibus atque pro persequentibus et odientibus vos et pro inimicis crucis29 (Polyc. ep. 12,3 [Hartog 92]). Justin der Märtyrer erinnert den regierenden Kaiser Marc Aurel in seiner ersten Apologie sogar daran, dass er als Kaiser eine Verantwortung gegenüber Gott habe, da dieser noch über ihm stehe.30 Auch den vor Gericht stehenden ‚einfachen‘ Christen ging es stets darum, ihre Loyalität zum Kaiser zu bekunden und zu versichern, dass die Verweigerung des Kaiseropfers rein religiöse Gründe habe.31 Es lässt sich feststellen, dass „die ←23 | 24→meisten Christen der Obrigkeit loyal gegenüber [standen] und sich auch in Zeiten der Verfolgung [bemühten], die staatliche Ordnung und die geltenden Gesetze einzuhalten und gute Staatsbürger zu sein.“32

1.1.1.2. Die Distanz der Christen zum Staat und zur paganen Gesellschaft

Trotz dieses zunächst positiven Verhältnisses zur staatlichen Obrigkeit waren Christen dennoch aufgrund ihrer Distanz zur römisch-paganen Gesellschaft33 derselben schon von Beginn an suspekt.34 Die Gründe für diese Selbstisolation waren verschiedener Natur: Christen lebten zwar ‚in der Welt‘, waren aber nach gängigem theologischem Verständnis, wie es etwa der Diognetbrief auf der Basis biblischer Aussagen35 formuliert, nicht ‚von der Welt‘.36 Sie verstanden sich als „Bürger im Himmel“37. Der Autor des Ersten Petrusbriefes betont noch einen weiteren Aspekt: „Ihr wisst doch, dass ihr nicht mit Vergänglichem, mit Gold oder Silber, freigekauft wurdet aus einem Leben ohne Inhalt, wie es euch von den Vätern vorgelebt wurde, sondern mit dem teuren Blut eines makellosen, unbefleckten Lammes, mit dem Blut Christi“ (1 Petr 1,18f.).38 Auf der Basis dieses Selbstverständnisses konnten, ja mussten sich die Christen der ersten vier Jahrhunderte n. Chr. von ihrer heidnischen Umwelt abgrenzen, von deren Konventionen sie doch durch Christi Tod befreit worden waren.39 Die Folge war eine Distanz zum öffentlichen Leben und zum öffentlichen Kult, der in der paganen Gesellschaft seit jeher als von den Vätern überliefert und damit konstitutiv galt (mos maiorum). Denn die gesamte römische Gesellschaft war vom Kult geprägt, der für die Christen, da er nicht dem einen wahren Gott, sondern vielen verschiedenen Göttern galt, Götzendienst war. Das betraf nicht nur Feste, Schauspiele und öffentliche Veranstaltungen, sondern auch den privaten Bereich von Gastmählern, verschiedene Berufsfelder, Ämter oder das Militär. Den Christen war eine Teilnahme an solchen Veranstaltungen oder die Ausübung bestimmter Berufe aus Glaubensgründen eigentlich nicht ←24 | 25→möglich. Vor allem aus Tertullians Zeugnissen können solche Interaktionsfelder zwischen Christen und heidnischer Gesellschaft, die gleichzeitig auch Konfliktfelder waren, bestimmt werden.40 Wenn auch der Rigorismus, mit dem Tertullian den Christen eine radikale Trennung von allem, was mit heidnischem Kult in Zusammenhang stand, ja von der ganzen heidnisch geprägten Mehrheitsgesellschaft, anempfahl41, nicht immer durchsetzbar gewesen sein wird und die generelle Linie eher zum Ziel hatte, die „Erfüllung der christlichen disciplina in Balance zu bringen mit dem Gut der Erfüllung der necessitates des Alltagslebens inmitten der heidnischen Gesellschaft und im sozialen Kontakt mit ihr“42, so war die generelle Tendenz jedoch die Distanz und Isolation vom durch und durch religiös geprägten pagan-gesellschaftlichen Umfeld, vor allem dort, wo explizit der Kult im Vordergrund stand.43

Die Distanz einer ganzen Bevölkerungsgruppe, gerade zum öffentlich-kultischen Leben, hatte für die heidnischen Römer, deren ganzes Leben durch Religion und Kult bestimmt war, gefährliche, ja staatsfeindliche Züge. Diese angeblich staatsgefährdende Haltung der Christen wurde an verschiedenen Phänomenen festgemacht, die für sich betrachtet schon ausreichten, um die Aufmerksamkeit paganer Mitbürger und Behörden auf sich zu ziehen, aber in cumulo ein explosives Gemisch ausmachten, das zum Ausbruch regionaler, oft auch pogromartiger, und später ebenso reichsweiter Verfolgungen gegen die Christen führen sollte. Die Verehrung der Christen galt einzig und allein dem einen, allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, von dem es freilich kein Bild, noch einen Tempel gab und dessen Verehrung nicht öffentlich stattfand44 – auch dies war den paganen Römern, wie auch den Griechen, suspekt, wie etwa der Sammlung heidnischer Vorwürfe gegen die Christen beim Apologeten Minucius Felix (3. Jahrhundert n. Chr.) entnommen werden kann.45 Daher zogen die Christen sich auch den Vorwurf des Atheismus zu.

Der Kult und seine rechte Ausübung gemäß der Überlieferung der Väter (mos maiorum) aber waren bei den Römern von enormer Wichtigkeit, garantierten sie doch das Wohlwollen der Götter und damit das Wohl des Staates, die salus publica, für welche die Götter aufgrund der ihnen zuteilwerdenden Verehrung Sorge trugen.46 Verweigerten sich nun bestimmte Teile der Bevölkerung diesem Kult, so rief das die Gefahr des göttlichen Zornes hervor. Denn die Einrichtungen der Väter waren aufgrund ihres Alters gut und unabänderlich.47 „Aus der Perspektive ←25 | 26→der nichtchristlichen Umwelt kann eine solche Distanzierung im Denken und im Handeln – wie weit sie auch konkret gegangen sein mag – nur als gesellschaftsfeindliches Verhalten gewertet werden.“48 Nicht zuletzt der Kaiserkult49, bisweilen schon zu Lebzeiten der Regenten, war für Christen inakzeptabel.50 Dies brachte die Christen gerade im Römischen Reich, in dem der Kaiserkult einen enorm integrativen Charakter besaß51, in Bedrängnis: Verweigerten sie sich der kultischen Verehrung des Herrschers (oder seines genius) zu seinen Lebzeiten52, wurde dies als Illoyalität betrachtet – die Christen waren damit einmal mehr als Staatsfeinde gebrandmarkt.53

Darüber hinaus standen Gruppen, die sich von der Öffentlichkeit absonderten, sich heimlich und bei Dunkelheit trafen und sonderbare, nach außen kaum bekannte Rituale pflegten, ebenso im Verdacht, umstürzlerische Absichten zu verfolgen. Eine hierfür einschlägige historische Parallele bildet der rituelle Beginn der Verschwörung des L. Sergius Catilina gegen die Spitze des römischen Staates, ←26 | 27→namentlich gegen den amtierenden Konsul M. Tullius Cicero, im Jahre 63 v. Chr., wie er später vom Historiker Sallust in schaurigen Bildern charakterisiert wird.54 Er beschreibt insbesondere die nächtliche Versammlung der Verschwörer als Kulminationspunkt der staatsfeindlichen Aktionen.55 Auch den Christen, die sich in Privathäusern trafen und kultische Handlungen vollzogen, von denen ihre Umwelt nichts Genaues wusste, wurde Ähnliches zum Vorwurf gemacht, wie den Berichten bei Minucius Felix zu entnehmen ist.56 Der Tod Jesu Christi am Kreuz, also in ←27 | 28→römischen Augen der Tod eines Verbrechers, machte eine Gruppe, die sich auf ihn berief, nur umso verdächtiger und suspekter.57 Die Christen waren demnach scheinbar gleich auf mehrfache Art gefährlich, was sicher einer der Hauptgründe für die schon sehr früh aufkeimenden Anfeindungen war.58 Damit in Zusammenhang steht die Herkunft des Christentums aus dem Osten des Reiches, von wo oftmals den gebildeten Römern suspekte Kulte und Mysterien mit sonderbaren Ritualen stammten.59 Außerdem galt das Christentum als neu aufgetretene Bewegung60; die Römer hatten aber in erster Linie Respekt vor der Altehrwürdigkeit (antiquitas) einer Religion, was die Ehrfurcht vor dem Judentum erklärt. Daher versuchten die christlichen Apologeten auch, das nachweisbare Alter des Judentums durch den sogenannten Altersbeweis für sich einzunehmen.61

Daneben warf man Christen auch die Störung des familiären Friedens durch Bekehrung einzelner, meist auch in der heidnisch-paganen Gesellschaft niedriger stehender Glieder der familia, wie Frauen oder Sklaven62, und Schädigung der Wirtschaft vor.63 Denn Tempel und Kult waren immer auch Ort von Geschäften, wie ←28 | 29→dem Verkauf von Opfertieren und Devotionalien oder dem Angebot des Fleisches der geschlachteten Opfertiere für den privaten Verzehr. Solches „Götzenopferfleisch“ bewusst zu kaufen oder – besonders bei heidnischen Götzenmählern – zu essen, war den Christen untersagt.64 Obwohl Paulus im Ersten Korintherbrief hierzu eine liberale Haltung einnimmt, „hat sich überhaupt in der Alten Kirche […] das Götzenopferfleischverbot durchgesetzt“65. Dadurch dass Christen dieses Fleisch nun auch nicht mehr auf dem Markt kauften, brach der Absatz ein und ein ganzer Wirtschaftszweig wurde gefährdet, denn „das meiste Fleisch, das man vom Metzger auf dem Markt kaufen konnte, [stammte] von Tieren […], die in irgendeiner Weise unter heidnischen Opferzeremonien geschlachtet worden waren.“66 Ähnliche Probleme betrafen, wie Plinius schreibt, auch das Kunsthandwerk.67

Diese Gemengelage aus Selbst- und Fremdisolation führte zu einem zunehmenden Rückzug der Christen aus der heidnisch-römischen Gesellschaft und war ursächlich für die Verfolgungen, die die christlichen Gemeinden in den ersten vier Jahrhunderten n. Chr. zu erleiden hatten.

1.1.2. Verfolgungen bis ins erste Drittel des 3. Jahrhunderts n. Chr. – ein Überblick

Die Zeit der Verfolgungen lässt sich, will man die eher symbolisch zu verstehende Einteilung des Orosius und anderer68 in zehn Verfolgungen als Parallele zu den zehn Plagen Ägyptens69 beiseitelassen, grob in zwei Phasen gliedern: Eine erste Phase der unsystematischen, regional begrenzten, oft pogromartigen Ausschreitungen und Prozesse gegen Christen, die meist durch konkrete Einzelereignisse hervorgerufen wurden (bis 249/50 n. Chr.), und eine zweite Phase der nun hinzutretenden und dominierenden systematischen, staatlich organisierten und gelenkten, reichsweiten Verfolgungen gegen eine christliche Kirche, die sich mehr und mehr als Staat im Staate etabliert hatte und wegen ihrer schieren Zahl an Gläubigen den Herrschern ein Dorn im Auge war (ab 250/51 n. Chr.).70

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Erste Nachrichten über Auseinandersetzungen um und mit Christen bietet die Apostelgeschichte, in der von zwei Juden, die aus Rom nach Korinth gekommen seien, berichtet wird. Claudius habe nämlich angeordnet, dass alle Juden Rom zu verlassen hätten.71 Dieses Vorgehen des Kaisers lässt sich auch außerbiblisch belegen: Um das Jahr 49 n. Chr. erließ, wie Sueton berichtet, Claudius ein Edikt zur Ausweisung der Juden aus Rom, da diese auf Veranlassung eines gewissen Chrestos Unruhen hervorriefen.72 Hier wurde staatlicherseits offenbar noch nicht zwischen Christen, die sich auf Jesus Christus, den Sueton mit „e“ schreibt73, beriefen, und Juden unterschieden.74 Christliche Missionstätigkeit führte wohl innerhalb der jüdischen Gemeinde Roms zu Unruhen und dies nahmen die Behörden zur Kenntnis.75

Diese Wahrnehmung änderte sich nur wenige Jahre später unter Kaiser Nero, welcher nun erstmals gezielt gegen die Christen als solche in der Stadt Rom vorging. Christen müssen also als eine eigenständige religiöse Gruppierung wahrgenommen worden sein.76 Nero wollte gemäß der Überlieferung bei Tacitus77 den aufkommenden Gerüchten, er selbst sei für den großen Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. verantwortlich78, entgegenwirken, indem er dem Volk Roms einen Sündenbock präsentierte: die ohnehin suspekten Christen.79 Ihnen unterstellte man, so ←30 | 31→berichtet Tacitus, „Hass auf das Menschengeschlecht“ (odium humani generis).80 Durch diesen und die daraus resultierenden Schandtaten81 veranlasst hätten sie den Brand gelegt. Die Strafe an den Christen vollzog sich als grausames Schauspiel.82 Das Vorgehen Neros „schuf zugleich einen Präzedenzfall: Wann immer die Wut der Bevölkerung sich gegen die Christen wandte, konnten die Behörden sie als Menschenverächter und Staatsfeinde behandeln.“83 Mit der Bezeichnung „Christ“ waren also automatisch gewisse Verbrechen und Schandtaten verbunden, aufgrund derer man dann verurteilt werden konnte. Insofern ist der Meinung zuzustimmen, dass in dieser Zeit die religiös-psychologischen Grundlagen für ein späteres Vorgehen gegen Christen gelegt wurden. Ein in der Forschung früher mit Bezug auf Tertullian84 angenommenes institutum Neronianum, ein neronisches Christengesetz85, und damit eine rechtlich fundierte Praxis des Vorgehens gegen Christen86, hat es aber wohl nicht gegeben.87

Eine Standardisierung dieses Vorgehens, die über Jahre gültig bleiben sollte, hat dann um 112 n. Chr. Kaiser Trajan in einem Reskript an den Statthalter der Provinz Bithynia et Pontus, C. Plinius Secundus, vorgegeben. Mit diesem Text liegt ←31 | 32→„das älteste erhaltene Dokument, in dem staatlicherseits eine Stellungnahme zum Christenproblem erfolgt“88, vor. Plinius wandte sich im Rahmen der Maßnahmen zur politischen wie religiösen Ordnung der Provinz89 aufgrund seiner Unsicherheit im Vorgehen gegen ihm angezeigte Christen an seinen Kaiser.90 Hierin schilderte er seine Maßnahmen in einem auf zwei Säulen beruhenden Ansatz91: Strafbarkeit des Christseins an sich und Nachsicht für solche Christen, die ihren Glauben verleugnen, Christus verfluchen und ein paganes Opfer darbringen. Wer sich beharrlich jedem Ausweg verweigerte, wurde hingerichtet.92 Trajan antwortete in Form eines Reskripts: Zunächst wurde das Vorgehen des Plinius bestätigt. Nach Christen dürfe außerdem nicht gefahndet werden. Wenn man sie aber angezeigt habe und sie als Christen überführt worden seien, dann sollten sie bestraft werden.93 Außerdem sollten anonym eingehende Anzeigen nicht mehr berücksichtigt werden.94 Der Staat mit seinen Autoritäten hatte also dezidiert nur auf Anzeigen zu reagieren, nicht offensiv zu agieren, wie das etwa bei späteren reichsweiten Verfolgungen der Fall war.95 Ebenso wurde den vor Gericht stehenden Christen die Möglichkeit eröffnet, durch ein Opfer für die Götter begnadigt zu werden.96 Wichtig ist hierbei, dass Plinius, wie auch Sueton und Tacitus, das Christentum als verderblichen Aberglauben (superstitio) betrachtete, den es zu bekämpfen galt.97 Insofern ist Plinius’ Anfrage an Trajan durchaus als „durchdachtes und originelles Konzept zur Zurückdrängung des Christentums“98 zu verstehen. Entscheidend für das juristische Vorgehen gegen Christen in den folgenden Jahrzehnten war die Tatsache, dass ein Beweis für eventuelle Verbrechen nicht erbracht werden musste. Das Christsein alleine (nomen Christianum) reichte zur Verurteilung aus.99 Denn man nahm an, dass mit dem Bekenntnis zu diesem ‚Namen‘ an sich (nomen ipsum) das Geständnis der den Christen vorgeworfenen Verbrechen verbunden war.100

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Kaiser Hadrian modifizierte diesen Erlass noch insofern, als dass er in einem Reskript an Minucius Fundanus (um 125 n. Chr.)101 forderte, wer einen Christen anklage, müsse persönlich für seine Anzeige einstehen und Beweise erbringen. Ansonsten könne er selbst wegen falscher Beschuldigung belangt werden.102

Christenprozesse fanden zumeist öffentlich und vor magistratischen Gerichten der Statthalter bzw. des römischen Stadtpräfekten und Prätorianerpräfekten statt.103 Die vordringliche Aufgabe des juristischen Vorgehens der Statthalter gegen die Christen war, „die vor ihrem Tribunal Stehenden gerade von deren fataler Verblendung durch ‚Belehrung und Zurechtweisung‘ abzubringen, ja sie gleichsam geistig zu kurieren“104. Angezielt war die Reintegration der Angeklagten, das Zurückführen von der superstitio des christlichen Glaubens ad bonam mentem.105 Prozess und Verurteilung zogen dabei nicht immer das Todesurteil nach sich. Vielmehr besaßen die römischen Statthalter einen gewissen Ermessensspielraum106: Aburteilungen zur Arbeit in Steinbrüchen und Minen oder die Verbannung auf eine Insel sind etwa bei Tertullian überliefert.107

Für die Zeit nach Hadrian fehlen Nachrichten, bis unter der Regierung des Marc Aurel (reg. 161–180 n. Chr.) und des Commodus (reg. 180–189 n. Chr.) regional Verfolgungen aufflammten. Ein Pogrom brach etwa über die Christen von Lyon und Vienne im Jahre 177 n. Chr. herein.108 Die Ursachen für die zunehmend christenfeindliche Stimmung waren in dieser Zeit Hungersnöte, Seuchen und Einfälle ‚barbarischer‘ Völker an den Reichsgrenzen, die das Imperium nach der Phase seiner weitesten Ausdehnung unter Trajan erschütterten. Gebiete wurden verwüstet oder gingen gänzlich verloren. Schuld waren in der öffentlichen Wahrnehmung vermehrt die Christen, die durch ihr Fernbleiben vom Kult und von öffentlichen Opfern die Katastrophen als Ausdruck des göttlichen Zornes gleichsam heraufbeschworen hätten.109

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Unter den Kaisern der severischen Dynastie (193–235 n. Chr.)110, in deren Regierung auch das Leben Tertullians in seiner Hauptphase fällt, kam es zunächst zu einer einigermaßen friedlichen Koexistenz von Christen und Paganen, deren Ursache wohl in der politisch stabilen Lage zu suchen ist.111 Einige Christen besetzten gar Stellen im Beamtenapparat und bei Hofe.112 Im Jahre 202/3 n. Chr. soll Septimius Severus dennoch den Übertritt zum Juden- und Christentum verboten haben.113 Diese Maßnahme wird hinsichtlich des Christentums114 in neuerer Forschung allerdings bestritten.115 Denn die unter den Severern aufkommenden Verfolgungen, so etwa auch in Nordafrika, sind durch den impulsiven Charakter des ‚Volkszorns‘, der vielfach Übergriffe auf die Christen provozierte, zu erklären und bedurften keines eigenen antichristlichen Gesetzes.116 Auch findet sich für ein etwaiges Christengesetz des Severus keine weitere Überlieferung117 außer ←34 | 35→dem Bericht der Historia Augusta, einer historisch oft wenig exakten Quelle.118 Zudem ist bekannt, dass Severus „in seinem engeren Lebensumfeld […] einigen hochgestellten Christen freie Religionsausübung“119 gewährte und insgesamt eine „polytheistisch-tolerante Religiosität“120 pflegte.121 Tertullian lobt jedenfalls den Kaiser als Wohltäter gegenüber den Christen.122 Die Verfolgung war erst ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. wirklich staatlich und damit kaiserlich (über Edikte) gelenkt.123 „Als Zeitzeuge bestätigt Tertullian die bleibende Gültigkeit des von Trajan eingeführten Verfahrens“124, für das die Statthalter vor Ort zuständig waren.

Etwas mehr als 20 Jahre nach dem Tode Tertullians, der gemeinhin um 220 n. Chr. angesetzt wird125, änderte sich die Situation für die Christen radikal. Zu den regional begrenzten Übergriffen traten nun die reichsweiten, staatlich organisierten Verfolgungen, die begannen, als sich im Jahr 249 n. Chr. der Senator Decius im Bürgerkrieg gegen Philippus Arabs, der als christenfreundlich galt126, durchsetzen konnte.127 Decius bemühte sich aufgrund der immer prekärer werdenden Lage an den Grenzen und innerer Unruhen um eine Restauration des alten Kultes, welcher die salus publica garantieren sollte. Um dies zu gewährleisten, ordnete er im Herbst 249 n. Chr.128 eine Bittsupplikation, ein Opfer für die Götter mit Bitte um die Wiederherstellung des inneren und äußeren Friedens, an.129 Zum Vollzug dieses Opfers, das anschließend schriftlich bestätigt wurde, waren alle Reichsbewohner angehalten. In Ägypten fand man entsprechende Opferbescheinigungen (libelli).130 Das Edikt nahm also, im Gegensatz zu denen späterer Kaiser, nicht direkt die Christen in den Blick.131 Dennoch waren sie gerade besonders betroffen, da sie durch das verpflichtende Opfer in Gewissensnöte gerieten: Zu opfern bedeutete ←35 | 36→Apostasie, eine bis dahin eigentlich nicht zu vergebende Sünde. Nicht zu opfern bedeutete schließlich Repression durch die Behörden bis hin zu Gefangenschaft und Tod.132

Für die christlichen Gemeinden begann mit der Verfolgung in Folge des decischen Edikts eine Zeit großer Erschütterungen, die sich mit den dann gezielt antichristlichen Edikten des Valerian und der Tetrarchen Bahn brach und bis zur sogenannten Konstantinischen Wende fortsetzte133, in deren Verlauf das Christentum bis zum Tod Kaiser Konstantins 337 n. Chr. dem paganen Kult gleichgestellt werden sollte.134

1.2. Die Entwicklung des Christentums in Nordafrika bis in die Zeit Tertullians

1.2.1. Kurze Geschichte der römischen Provinz Africa Proconsularis

Wenn vom „römischen Afrika“ die Rede ist, geht es hauptsächlich um die Provinz Africa (proconsularis). Diese entstand, nachdem die Römer im Anschluss an den Dritten und letzten Punischen Krieg, der in der Belagerung und Zerstörung Karthagos im Jahre 146 v. Chr. gipfelte, sich das Territorium ihres ehemaligen Erzrivalen einverleibt hatten.135 Zuvor war die Region über Jahrhunderte lang Kernland des karthagischen Machtbereichs gewesen136, der sich hauptsächlich auf die von ←36 | 37→den Puniern ausgeübte Seeherrschaft und ihre Handelszentren stützte.137 Gerade in den Jahrzehnten vor der ersten Konfrontation mit Rom stieg der karthagische Lebensstandard und passte sich bezüglich des Luxus der griechischen Kultur an, was auch Folge der kontinuierlichen Aneignung des griechischen Kulturraums an der Mittelmeerküste war.138

Mit dem aufstrebenden Römischen Reich, das im Laufe des 3. Jahrhunderts v. Chr. die Vorherrschaft über die italischen Städte und Stämme gewonnen hatte, gerieten die Karthager erstmals ab 264 v. Chr. im Streit um Sizilien aneinander.139 Dieser Erste Punische Krieg, der mit der karthagischen Räumung Siziliens endete, dauerte mit einigen Rückschlägen für Rom140 bis 241 v. Chr. an. Letztlich siegten die Römer aufgrund ihrer höheren Ressourcen an Menschen und Material und der Opferbereitschaft von Privatleuten, die den Bau einer neuen Flotte finanzierten, nachdem die römische Flotte mehr als einmal nahezu vernichtet worden war.141 Karthago musste im Zuge des Lutatius-Vertrages und seiner Ergänzung durch den römischen Senat alle Inseln zwischen Italien und Sizilien sowie Sizilien selbst räumen und eine Kontribution zahlen.142

Die Karthager wandten sich daraufhin – aufgrund der unmöglichen Expansionsrichtung nach Nordosten – nach Spanien, eroberten es unter ihrem Feldherrn ←37 | 38→Hasdrubal bis zum Fluss Ebro und stießen auch dort wieder auf Interessen Roms, das ein mächtiges Karthago in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht dulden wollte.143 Ausschlaggebend für die Wiederaufnahme von Feindseligkeiten war der Konflikt um die Stadt Sagunt, die sich, obwohl südlich des Ebro gelegen, unter römischen Schutz gestellt hatte: Hannibal, der Nachfolger Hasdrubals, belagerte die Stadt und eroberte sie, obwohl er von einer römischen Gesandtschaft unter Hinweis auf das Bundesgenossenverhältnis davor gewarnt worden war.144 Der Zweite Punische Krieg (218–201 v. Chr.) hatte begonnen, in dem Hannibal mit seinem legendären Zug über die Alpen die Römer in ihrem italischen Kernland mehrfach vernichtend schlagen, sich aber letztlich gegen die enormen Ressourcen seiner Gegner nicht behaupten konnte. Hinzu kam, dass die erhoffte Unterstützung durch abgefallene römische Bundesgenossen ausblieb und auch die Karthager selbst Hannibal keinen Nachschub mehr senden wollten. Die Karthager mussten im Jahre 202/1 v. Chr. einem demütigenden Frieden zustimmen: Jede Kriegsführung außerhalb ihrer afrikanischen Grenzen war ihnen untersagt, innerhalb Afrikas durften sie nur mit römischer Zustimmung zu den Waffen greifen. Dazu mussten sie ihre Flotte größtenteils abgeben und die außerafrikanischen Gebiete räumen.145

Nachdem dieser Frieden immer wieder durch die unter römischer Protektion stehenden Numider gestört worden war, kam es nach einem karthagischen Feldzug gegen diese146 ab 149 v. Chr. zu erneuten Feindseligkeiten (Dritter Punischer Krieg), im Zuge derer das Reich der Punier mit seiner Hauptstadt im Jahr 146 v. Chr. endgültig unterging und großteils dem Römischen Reich angegliedert wurde.147 Die Hauptstadt der auf dem ehemals karthagischen Gebiet neu eingerichteten römischen Provinz Africa war zunächst Utica.148 Die benachbarten Reiche Numidien und Mauretanien waren Vasallen unter römischer Kontrolle. Unter dem Volkstribunat von C. Gracchus (123–121 v. Chr.) erlangte die Region erstmals gewisse Aufmerksamkeit149, da Gracchus im Rahmen eines Kolonisierungsprogrammes für Veteranen das zerstörte Karthago als römische Kolonie wieder aufbauen wollte.150 Die Versuche scheiterten, der Senat hatte nur geringes Interesse an Nordafrika.151 Dies änderte sich erst im Zuge des Bürgerkriegs zwischen C. Julius Caesar und Cn. Pompeius Magnus bzw. dessen Verbündeten, der in den Jahren 49–45 v. Chr. tobte.152 Afrika war nach Pompeius’ Ermordung Rückzugsbasis der Pompeianer, ←38 | 39→der Numiderkönig Juba war ihr Verbündeter.153 Dies hielt Caesar nicht davon ab, im Jahr 47 v. Chr. selbst mit seinem Heer nach Afrika überzusetzen, um die Pompeiusanhänger um den Senator M. Porcius Cato auszuschalten. Nach der Schlacht von Thapsus154 und Catos Selbstmord in Utica (46 v. Chr.) war Caesar Herr über die Provinz. Da die Numider unter ihrem König Juba auf Seiten der Pompeianer gekämpft hatten, annektierte der Feldherr und nunmehrige Diktator Caesar auch Numidien und wandelte es in die Provinz Africa Nova um, deren erster Statthalter sein Parteigänger, der Historiker C. Sallustius Crispus wurde155, während je ein kleinerer Teil an König Bocchus von Mauretanien und den Söldnerführer Sittius fiel.156 Ziel Caesars war nun die Kolonisierung Afrikas, hauptsächlich auch, um Städte und Land für seine Veteranen zu erhalten.157 Auch Karthago wurde nun, wie es schon C. Gracchus geplant hatte, wieder aufgebaut.158 Nach der Ermordung Caesars 44 v. Chr. und dem folgenden Bürgerkrieg, aus dem sein Adoptivsohn und Neffe C. Octavius, genannt Octavian, als Sieger hervorging, wurden abermals zahlreiche Veteranen und Umsiedler, die in Italien ihr Land verloren hatten, in Nordafrika angesiedelt.159 Die Kolonie Karthago wurde feierlich gegründet und das einst verfluchte Land zeremoniell entsühnt.160 Als besonderes Privileg wurde Karthago unter anderem von Steuern befreit und erhielt ein Kontingent von 3000 Siedlern.161 Zusätzlich wurden weitere acht bis neun Kolonien von Augustus als coloniae Iuliae gegründet.162 Die Romanisierung und Urbanisierung Afrikas schritt in augusteischer Zeit voran: Zahlreiche Orte wurden als municipia, andere als freie, das heißt nichtrömische, Städte anerkannt.163 Zu ihrem Schutz und zur Verteidigung der Provinz, die seit dem Jahr 27 v. Chr. eine einzige, aus den beiden alten Provinzen Africa vetus und Africa nova verschmolzene Provinz war164, gegen barbarische Stämme jenseits der Grenzen etablierte Augustus die legio III Augusta.165 Kommandeur dieser Legion mit Lager in Haidra und gleichzeitig Statthalter der Provinz war ab ←39 | 40→27 v. Chr. ein senatorischer Prokonsul166, unter Caligula dann ein kaiserlicher Legat.167 Zur Hauptstadt dieser neu umschriebenen Provinz Africa proconsularis wurde Karthago bestimmt.168

Infolge kriegerischer Auseinandersetzungen kam es zu weiteren Eroberungen und der Ausdehnung des römischen Machtbereichs: In den Jahren 17–23 n. Chr. brach der Aufstand des Numiders Tacferinus in Africa proconsularis und in Mauretania aus, der erst unter enormen militärischen Anstrengungen niedergeschlagen werden konnte. Mauretanien wurde später unter Kaiser Claudius annektiert und in zwei Provinzen aufgeteilt.169

Bis in die flavische Zeit hinein hatten die Römer den Süden Numidiens besetzt und um das Jahr 81 n. Chr. den Ort Lambaesis erreicht.170 Die Erschließung Nordafrikas wurde durch weitere Gründungen von Kolonien und den Bau einer Küstenstraße in Tripolitanien ausgeweitet.171 Unter Trajan konnte die Eroberung des gesamten Gebietes zwischen Mittelmeer und Wüste Sahara abgeschlossen werden.172 Zeichen dafür war die um 115–117 n. Chr. erfolgte Stationierung der legio III Augusta im numidischen Lambaesis.173 Die Grenze wie auch die Siedlungen waren relativ schwach befestigt, es scheint kaum Unruhen gegeben zu haben.174

In den hundert Jahren zwischen der Regierung Hadrians und der Caracallas (117–217 n. Chr.) erlebte die Provinz Africa eine Blüte.175 Besonders unter den severischen Kaisern, deren Familie aus dem afrikanischen Leptis Magna stammte, erfuhr Nordafrika einen ungeheuren Aufschwung. Zunächst erfolgte unter Septimius Severus eine weitere militärische Sicherung der Provinzen mit Errichtung neuer Grenzbefestigungen und Lager in Tripolitanien und Numidien.176 Auf der Grundlage der hadrianischen Eroberungen nahm Septimius Severus das Gebiet weiter südlich in den Blick: „Severus took the process further by extending Roman control southwards over a much larger area, earning for himself the title of propagator imperii, known from several inscriptions in Africa.“177

Einen Aufschwung erlebte Nordafrika besonders in wirtschaftlicher Hinsicht: Es war die Kornkammer des Reichs, die auf dem Seeweg Unmengen an Getreide vor allem an die Stadtbevölkerung Roms lieferte und „sich im Laufe des ←40 | 41→dritten Jahrhunderts zur dominierenden Exportregion im Westen des Reiches“178 entwickelte, deren bedeutendstes Handelszentrum Karthago war. Die unter Vespasian erlassene lex Manciana bildete hierfür die Grundlage.179 Dieses Gesetz ermöglichte, dass Bauern Flächen, die nicht katastriert worden waren, bewirtschaften durften unter der Bedingung, dass sie ein Drittel des Ertrages an den Besitzer oder Pächter des Landes abzuführen hatten, während ihnen zwei Drittel selbst blieben. Die gepflanzten Weinstöcke oder Ölbäume durften von den Bauern vererbt werden. Ein Gesetz aus der Zeit Hadrians bestätigte diese Einrichtung und erlaubte es, dass „Olivenbäume, Weinstöcke und andere Fruchtbäume […] auf Land gepflanzt werden, das bis dahin Wald, Buschwerk oder Sumpf gewesen war. Der Besitz auf Lebenszeit war garantiert, ebenso die erbliche Weitergabe, aber wiederum unter der Bedingung, daß ein Drittel der Ernte abgegeben wurde“180.

Die Städte nahmen ebenso im Laufe des 2. und frühen 3. Jahrhunderts n. Chr. einen Aufschwung, was etwa an der baulichen Entwicklung Karthagos abzulesen ist, welches eine Bevölkerungszahl um die 100.000 Einwohner erreichte.181 Septimius Severus verlieh der Stadt auf seiner Afrikareise (202/03 n. Chr.) ebenso wie Utica und Leptis Magna das ius Italicum, welches mit diversen Steuerprivilegien und dem Recht, den Landbesitz der Stadt verkaufen zu dürfen, verbunden war.182 Zahlreiche weitere Städte erhielten den Status eines Munizipiums.183 Ein Ziel des Kaisers war wohl, „die ehemals peregrinen Gemeinden so schnell wie möglich in breiter Linie an die römische Zivilisation anzubinden, vielleicht auch aus der Einsicht heraus, dass […] Nordafrika ein stärkeres Fundament benötigte, um sich reichspolitisch einbringen zu können.“184 Bis in die severische Zeit konnte Africa zu einer führenden Provinz des Westens aufsteigen. Ein Grund dafür mag auch die Herkunft des Septimius Severus aus der Provinz sein. Der Kaiser ließ etwa seine Geburtsstadt mit repräsentativen Gebäuden ausstatten, unter anderem einem großen Triumphbogen, einem Forum und verschiedenen Tempeln.185 Nicht nur Getreide, sondern auch Öl und Töpferwaren waren seit dieser Zeit beliebtes Exportgut in alle Regionen des Reiches.186 Karthago wuchs zur zweitbedeutendsten Stadt nach Rom heran, und zwar in Bezug auf Größe, Bevölkerung und Wohlstand.187 Tertullian, der in severischer Zeit in Karthago lebte und diesen Aufschwung persönlich verspüren konnte, beschrieb das Resultat dieser Entwicklungen: Certe ←41 | 42→quidem ipse orbis in promptu est cultior de die et instructior pristino. Omnia iam pervia, omnia nota, omnia negotiosa, solitudines famosas retro fundi amoenissimi oblitteraverunt, silvas arva domuerunt, feras pecora fugaverunt, harenae seruntur, saxa panguntur, paludes eliquantur, tantae urbes quantae non casae quondam. Iam nec insulae horrent nec scopuli terrent; ubique domus, ubique populus, ubique respublica [sic!], ubique vita188 (Tert. anim. 30,3 [Waszink 42]).

1.2.2. Das Christentum in Nordafrika

Über die Anfänge der christlichen Mission und die erste Ausbreitung des Christentums im römischen Nordafrika ist kaum etwas bekannt.189 Rankin konstatiert pointiert: „The origins of the Christian Church in North Africa are shrouded in obscurity.“190 Eine Verbindung zur apostolischen Zeit oder ein spezieller Missionar für diese Region sind nicht bekannt.191 Die nordafrikanischen Theologen – allen voran Tertullian, Cyprian und Augustinus – hätten solch eine Verbindung sicher nicht verschwiegen.192 Die Frage der Ursprünge des nordafrikanischen Christentums kann daher aufgrund fehlender Zeugnisse kaum hinreichend beantwortet werden.

„Eine enge Beziehung des Christentums zum Judentum oder gar ein Herauswachsen aus ihm ist nicht anzunehmen.“193 Die Verbindung mit Rom, die sich auch auf politischer wie ökonomischer Ebene manifestierte194, lässt einen von dort ausgehenden Einfluss auf die Entwicklung des Christentums in Nordafrika plausibel scheinen.195 „Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, das Christentum ←42 | 43→sei im Gefolge Roms nach Afrika gelangt, und erst die Romanisierung des Landes habe seine Christianisierung ermöglicht“196. Hierbei spielt auch die Sprache der vornehmlich lateinischsprachigen Beamten und Siedler eine Rolle: Denn das Christentum in Nordafrika „bediente sich von Anfang an der lateinischen Sprache, während sich die wenigen christlichen Gemeinden andernorts im Westen lange Zeit fast ausschließlich aus orientalischen Zuwanderern griechischer Sprache rekrutierten.“197 Auch die Tatsache, dass aus den Akten der Märtyrer von Scilli (180 n. Chr.) hervorgeht, dass die hingerichteten Christen lateinische Übersetzungen der Paulusbriefe bei sich hatten und drei von ihnen, Nartzalus, Cittinus und Donata, typisch afrikanische Namen trugen198, spricht für ein gewisses Alter des Christentums in dieser Region – es hatte bereits die einheimische Berberbevölkerung erfasst – und eine Entstehung in einem vornehmlich lateinisch geprägten Milieu.199

Vor einer Verabsolutierung sollte man sich jedoch hüten: Dass es neben lateinisch sprechenden Christen in der Metropole Karthago auch griechischsprachige Gemeindemitglieder gab, bezeugen Tertullians (verlorene) auf Griechisch abgefasste Schriften.200 Zudem sprechen gewisse Indizien gegen eine Übernahme aus dem Westen.201

Daneben wird auch ein nicht unwesentlicher Einfluss aus dem Osten des Reiches, besonders aus Syrien und Kleinasien, vermutet.202 Denn einen weiteren Zugang fand das Christentum sicher auch über die zahlreichen Häfen und Handelsmetropolen wie Utica, Hippo oder eben Karthago, wo Händler und Kaufleute aus dem ganzen Reich verkehrten.203

So lässt sich wohl angesichts der unübersichtlichen Informationslage und der in verschiedene Richtungen weisenden wenigen Zeugnisse vermuten, dass ←43 | 44→„[v]‌erschiedene Einflüsse, zuerst wohl stärker aus Syrien/Kleinasien, später mehr von Rom her, […] einen von Anfang an eigenständigen Typus des Christentums“204 hervorbrachten.

Die Provinz Africa tritt in die Kirchengeschichte mit den Märtyrern von Scilli ein205, deren Akten wohl einen der ältesten christlichen Texte in lateinischer Sprache darstellen.206 Überhaupt gilt die Geschichte der nordafrikanischen Christenheit als die Geschichte einer „church of martyrs“207. Aus diesen Akten geht hervor, dass unter dem Konsulat von Praesens und Claudianus wohl am 17. Juli 180 n. Chr.208 13 Christinnen und Christen aufgrund ihres Bekenntnisses hingerichtet wurden.209 Der Bericht über das Verhör vor dem Prokonsul Saturninus210 bietet einen interessanten Blick auf die Vorgehensweise in Christenprozessen, die dem Plinius-Trajan-Briefwechsel folgt. Der Prozess fand kurz nach Regierungsantritt des Commodus statt, in dessen Regierungszeit sich unter Einfluss seiner christenfreundlichen Konkubine Marcia die Lage der Christen zwar grundsätzlich besserte211, aber weiterhin regional antichristliche Stimmung hervorbrach. Was konkret zur Ergreifung der Scillitaner geführt hat, ist nicht bekannt, ebenso ist auch die Lage des Ortes Scilli unsicher. Er lag wohl auf dem Land nahe der Hauptstadt.212 Das Christentum muss also in der Zeit um 180 n. Chr. bereits ländliche Regionen erreicht haben.213

Für den Zeitraum zwischen 180 und 197 n. Chr. sind keine Nachrichten über christliche Gemeinden oder einzelne Christen bekannt. Tertullian beschreibt in der Schrift ad Scapulam (212 n. Chr.) die amtierenden Prokonsuln dieser Zeit im Rückblick als vorbildliche Statthalter.214 Dennoch zeugt die Schrift auch davon, dass es ←44 | 45→Christenprozesse gab, in welchen sich die genannten Statthalter durch Milde und Nachsicht hervorgetan hätten.215

Die Nachrichtenlage ändert sich mit dem literarischen Schaffen Tertullians, das vermutlich im Jahre 197 n. Chr. einsetzt.216 Seinen Werken sind zahlreiche Hinweise auf die Situation und die religiöse Praxis der christlichen Gemeinde in Karthago, bzw. auch darüber hinaus, zu entnehmen.217 Bezeichnenderweise schweigt der große Theologe und Rhetor jedoch über die Ursprünge seiner Gemeinde. Die über Tertullian für seine Zeit auf uns gekommenen Informationen betreffen zunächst die soziologische Zusammensetzung der Gemeinde von Karthago. Ihre Mitglieder stammten aus allen Teilen der Gesellschaft und reichten in ihrer Mehrzahl „von hochbezahlten handwerklichen Spezialisten und den domini mehrerer Sklaven bis hinunter zu den Bewohnern der karthagischen Elendsquartiere und den Empfängern der kirchlichen Armenunterstützung.“218 Dabei gilt jedoch, dass „das Interesse, das Tertullian den Empfängern der kirchlichen Armenfürsorge, vor allem Witwen u. Waisen, entgegenbringt“219, eher gering ausfällt.

Bezüglich der Christen aus der Oberschicht – bestehend aus den drei ordines (Ständen) der Senatoren, Ritter und Dekurionen – stellt Schöllgen aufgrund seiner Untersuchung fest, „daß […] Christen unter den Mitgliedern aller drei ordines bzw. deren Familien nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht werden konnten, obwohl es ihnen offensichtlich häufig Schwierigkeiten bereitete, die Erwartungen bzw. Pflichten, die sich aus ihrer Standeszugehörigkeit ergaben, mit der disciplina der Kirche in Übereinstimmung zu bringen. Über ihre Zahl lassen sich keinerlei sichere Angaben machen; man wird jedoch vermuten dürfen, daß es sich nur um wenige Personen handelte.“220 Eine weiter gefasste Oberschicht, der beispielsweise reiche Witwen oder Händler angehörten, machte möglicherweise einen nicht unbedeutenden Anteil der Gemeinde aus.221

Weiter ist es möglich, aus den Schriftzeugnissen Tertullians auf die liturgische und karitative Praxis der Gemeinde und deren Selbstverständnis zu schließen. Im apologeticum bietet er eine idealisierte Beschreibung der christlichen Gemeinde222, die aufgrund ihrer Adressierung an Heiden manches wie die Eucharistiefeier – Tertullian nennt als Zweck der gottesdienstlichen Versammlung lediglich Gebet, Ermahnung und Lektüre223 unter Anleitung von „Ältesten“224 – unerwähnt lässt ←45 | 46→oder ungenau schildert, aber in kritischer Lektüre dennoch eine bedeutsame Quelle darstellt.225 Er beschreibt so beispielsweise das christliche Agapemahl226 für bedürftige Mitglieder der Gemeinde, das aus einer monatlichen Sammlung finanziert wurde227, und kontrastiert es mit heidnischen Gastmählern.

Durch eine spezielle Kasse (arca) der Gemeinde, die durch regelmäßige Kollekten und Einzelspenden gefüllt wurde, wurden der Unterhalt für die Waisen und Alten, die Bestattung von Menschen ohne Angehörige und Hilfen für Opfer von Katastrophen finanziert.228 Schöllgen vermutet ebenso, dass die Gemeindekasse für den Bau oder Ankauf des Hauses aufkam, das Versammlungsort der Christen war.229 Dass die Gemeinde ein solches, von Tertullian ecclesia genanntes230 Gebäude besaß, gilt als wahrscheinlich. Janssen erweist diese Tatsache aufgrund verschiedener Stellen in Tertullians Schriften, in denen von der ecclesia als einem Gebäude die Rede sein muss.231 Dabei handelte es sich wohl um ein einfaches Haus, das im Inneren eine Vorhalle sowie einen Saal als Versammlungsraum besaß, welcher durch eine Schwelle, das limen ecclesiae, und eine Tür abgetrennt war.232 In der Vorhalle hatten sich Katechumenen und Büßer aufzuhalten. Denen, die ihre Buße verrichtet hatten, stand nach Anklopfen der große Saal erneut offen.233 Über die Größe des Gebäudes oder weitere bauliche Details lässt sich darüber hinaus wenig aussagen. Schöllgen führt eine Stelle aus dem apologeticum an, bei der Tertullian den heidnischen Kritikern der Christen ein Sprichwort in den Mund legt, das diese auf die Christen anwendeten: Megarenses obsonant quasi crastina die morituri, aedificant vero quasi numquam morituri234 (Tert. apol. 39,14 [Becker 186]). Der letzte Teil des Sprichwortes könnte sich demnach auf die üppige Bautätigkeit der Christen beziehen und darauf deuten, „daß sich die Gemeinde Karthagos zur Zeit Tertullians angesichts des sprunghaften Ansteigens ihrer Mitgliederzahlen eine neue, anscheinend sehr eindrucksvolle ‚ecclesia‘ gebaut hat.“235 Man wird allerdings für die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. keine besonders auffälligen christlichen Kultbauten vermuten dürfen236, sondern die Form der ‚Hauskirchen‘: umgestaltete ←46 | 47→oder umgebaute Privathäuser und Wirtschaftsgebäude, die den Bedürfnissen der Gemeinde angepasst wurden.237 Dazu gehörten neben Räumen für liturgische Handlungen auch solche für Katechese und Karitas, wie dies am Beispiel der ‚Hauskirche‘ von Dura Europos ersichtlich ist.238 Diese stammt aus dem Jahr 232/33 n. Chr. und ist damit die älteste archäologisch nachgewiesene christliche Kultstätte.239 Archäologische Belege für ähnliche Bauten aus Tertullians Zeit gibt es generell und speziell in Karthago nicht.240

Ebenso berichtet Tertullian von antichristlichen Maßnahmen im Nordafrika der Severerzeit, die meist in Folge historisch fassbarer Ereignisse erscheinen. Diese führten regional dazu, dass Verfolgungen ausbrechen konnten, obwohl die Regierungszeit der severischen Dynastie als für Christen generell eher friedlich gilt.241 In den Schriften ad martyras und apologeticum zeugen zahlreiche Anspielungen von solchen Verfolgungssituationen zur Abfassungszeit (197 n. Chr.). Erstere Schrift richtet sich gezielt an die im Gefängnis auf ihren Prozess wartenden Christen, die Tertullian bereits als Märtyrer (in spe) anredet und ihnen für den bevorstehenden Kampf Mut zuspricht. Aus dieser Schrift geht, wenigstens teilweise, auch hervor, dass die Christenprozesse gemäß dem Trajanreskript geführt worden sein müssen. So fanden die Prozesse vor dem Prokonsul statt.242 Anspielungen im gleichzeitig entstandenen apologeticum weisen ebenso in die Richtung aktuell stattfindender Verfolgungen: Im Schlusskapitel des als forensische Gerichtsrede inszenierten Werks fordert Tertullian die versammelten politischen Machthaber Karthagos auf: Sed hoc agite, boni praesides, meliores multo apud populum, si illis Christianos immolaveritis, cruciate, torquete, damnate, atterite nos243 (Tert. apol. 50,12 [Becker 222]). Möglicherweise stehen diese Verfolgungen in Zusammenhang ←47 | 48→mit den politischen Ereignissen um den Sieg des Septimius Severus über seinen Rivalen Pescennius Niger.244

Ein weiteres Dokument stellt die Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis dar.245 Die dort geschilderten Ereignisse fanden wohl im Jahr 203 n. Chr.246 in Karthago statt. Hauptfiguren sind die aus vornehmem Hause stammende Perpetua und die schwangere (Sklavin?) Felicitas247, die sich zusammen mit drei weiteren Männern, Revocatus, Saturninus und Secundulus, als Katechumenen auf die Taufe vorbereiteten.248 Die fünf wurden verhaftet, konnten aber im Gefängnis die Taufe empfangen.249 Ihr Lehrer Saturus folgte ihnen ins Gefängnis.250 Dort wurden Perpetua verschiedene Visionen zuteil, die sie auf das bevorstehende Martyrium hinwiesen.251 Auch Saturus erfuhr eine Vision.252 Am Geburtstag des Caesars Geta, des Sohnes des Kaisers253, wurden die Christen in der Arena den wilden Tieren vorgeworfen, nachdem jeder Versuch, auch seitens der Familie Perpetuas254, sie zum Abschwören zu bewegen, gescheitert war.255 Eine staatlich koordinierte, gezielte antichristliche Aktion ist trotz etwa gleichzeitig stattfindender Verfolgungen in Ägypten und Kappadokien256 unwahrscheinlich. Ein antichristliches Gesetz des Septimius Severus bzw. das Verbot des Übertritts zum Christentum hat es wohl, wie bereits gezeigt wurde, nicht gegeben.257 Es muss sich also um einen regional zu verortenden Anlass gehandelt haben, der zu einem Ausbruch von Gewalt gegen Christen geführt hat. Tertullian erwähnt den in der Passio genannten Statthalter Hilarianus258 in seiner Schrift an dessen Nachfolger im Amt, Scapula, und bietet einen weiteren Hinweis auf christenfeindliche Stimmung: Es wurden Rufe laut, dass Christen keine Begräbnisplätze haben sollten.259 Ein möglicher Hintergrund ←48 | 49→dafür könnte sein, dass man den Christen keinen Versammlungsort und vor allem keinen Ort für die Verehrung der Märtyrer bieten260, oder über die Verweigerung ordentlicher Begräbnisse auf die Auferstehungshoffnung zielen wollte.261 Durch sein Referat einer heidnischen Forderung, dass die Christen keine Gräberfelder haben dürften, könnte der Karthager indirekt deren Existenz bezeugen.

Einen weiteren Hinweis auf antichristliche Aktionen bietet die Schrift de corona militis, die in das Jahr 211 n. Chr. datiert wird.262 Die Zwischenzeit bezeichnet Tertullian selbst als bona et longa pax, also als eine für die christliche Gemeinde ruhige Zeit ohne Verfolgungen. Er berichtet, dass ein christlicher Soldat das Tragen des Lorbeerkranzes beim Empfang eines kaiserlichen Donativs verweigerte mit dem Hinweis, dass er Christ sei. Daraufhin habe er das Martyrium erlitten. In unmittelbarer zeitlicher Nähe dazu stehen die im Brief an den Statthalter Scapula (ad Scapulam; 212 n. Chr.) erwähnten christenfeindlichen Aktionen, die wohl, wenn Tertullians Aussagen zutreffen, auch über Karthago und die Proconsularis hinausgriffen und Numidia und Mauretania263 erfassten. „Möglicherweise löste dieser Fall von Insubordination jene Welle von Anklagen und Verurteilungen von Christen aus, die sich kurz darauf über die Provinzen Numidien, Mauretanien und vor allem Africa proconsularis ausbreitete. Hier begünstigte der Statthalter Scapula derartige Denunziationen und veranlaßte dadurch Tertullian, sich mit einer Eingabe an ihn zu wenden.“264 Weitere Hinweise auf eine Verfolgung im skizzierten zeitlichen Rahmen bietet die Schrift de fuga in persecutione, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen wird.265

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In der Zeit nach Tertullians Zeugnissen wird es, abgesehen vom Bericht über eine Synode zur Frage der Wiedertaufe von Häretikern im Falle einer Konversion zur Großkirche unter Bischof Agrippinus in Karthago (um 220 n. Chr.)266, bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. still um die nordafrikanischen Christen. Gerade diese Synode zeigt angesichts ihrer in der Überlieferung sehr hoch angesetzten Teilnehmerzahl von etwa 70 Bischöfen, wie schnell und breit sich das Christentum in Nordafrika bis in diese Zeit schon hatte ausbreiten können.267

Der karthagische Bischof Cyprian setzte sodann die christlich-literarische Produktion fort und verfasste zahlreiche Schriften, aus denen Informationen über die Situation der Gemeinde gerade in der Verfolgungszeit des 3. Jahrhunderts n. Chr. entnommen werden können.268 Im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. war Nordafrika Heimat des berühmten Theologen Augustinus von Hippo269 und Schauplatz des Donatistenstreits.270

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2. Der Autor Q. Septimius Florens Tertullianus und der Montanismus

2.1. Herkunft, Ausbildung und literarisches Schaffen bis zur Hinwendung zum Montanismus

Mit Q. Septimius Florens Tertullianus1 tritt an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. im römischen Nordafrika einer der ersten2 Autoren lateinischsprachiger christlicher Kunstprosa auf. Im übrigen Westen des Reiches, besonders in Gallien und Rom, „verwendete man in dieser Zeit bei der Abfassung von Texten noch die griechische Sprache, die als Sprache der christlichen Mission auch im Westen des römischen Reiches lange Zeit die Alltagssprache der großstädtischen Christen blieb“3. Trotz seines Ruhmes als apud Latinos […] princeps4 (Vincent. Ler. comm. 18,1 [Demeulenaere 172]) oder „gewiefter Verteidiger des Christentums, verbissener Dialektiker, brillanter Schriftsteller, hoch und umfassend gebildet“5 ist nur wenig Gesichertes über Tertullians Leben überliefert.6 Anspielungen und konkrete Äußerungen in seinem eigenen literarischen Werk bieten lediglich Anhaltspunkte für ←51 | 52→eine Rekonstruktion.7 Die Aussagen des Hieronymus8 und anderer frühchristlicher Theologen9 werden in jüngerer Forschung zunehmend kritisch hinterfragt, nachdem sie jahrzehntelang Grundlage für biographische Angaben über Tertullian waren.10 Barnes brachte mit seinem neuen Ansatz Schwung in die Debatte über die Frage, was über Tertullians Leben wirklich ausgesagt werden könne11, und legte eine, in vielen Teilen nicht unangefochten gebliebene, Chronologie des Lebens und der Werke Tertullians vor.12 Aus den Werken selbst lässt sich, neben autobiographischen Hinweisen, eine relative Chronologie ableiten, die verbunden mit Hinweisen auf zeitgeschichtliche Daten eine zumindest plausible Rekonstruktion ermöglichen.

Tertullians Geburtsjahr wird mit ca. 160 n. Chr.13, manchmal auch mit ca. 170 n. Chr.14 angegeben. Sein Sterbejahr liegt um 220 n. Chr.15 Er stammte ursprünglich aus heidnischer Familie, der Vater war wohl, so könnte Hieronymus16 und einer nicht unumstrittenen Lesart des apologeticum entnommen werden17, Zenturio der ←52 | 53→Römischen Armee. Damit einher geht die Annahme, Tertullian habe dem Ritterstand (ordo equester) angehört.18 Dass Tertullian aus Karthago stammte und dort auch lebte, ist durch Selbstaussagen verbürgt, so nennt er den Rhetoriklehrer Phosphorus als seinen Lehrer19 und de pallio beginnt mit der Anrede an die viri Carthaginienses.20 Die Szenerie des apologeticum und der an den in Karthago residierenden römischen Prokonsul gerichtete Brief ad Scapulam21 deuten ebenso auf die Provinzhauptstadt und ihr Umland als Lebens- und Wirkungsstätte hin. Tertullian genoss dort wohl eine grammatische wie rhetorische Ausbildung und erlernte die griechische Sprache, in der er auch (allerdings verlorengegangene) Schriften abfasste.22 Aufgrund seiner Ausbildung war er mit den Stoffen der klassischen paganen Literatur in Mythos, Rhetorik und Geschichte vertraut und machte sich dies in seinen Werken rege zunutze.23

Zudem zeigt sich eine vertiefte Kenntnis der stoischen Philosophie, wie sie in den Schriften Senecas begegnet. Diese Nähe zu Seneca ist einerseits formaler24, dann jedoch insbesondere inhaltlicher Art, wenngleich der christliche Autor nur fünfmal den Namen des Philosophen nennt: „Of course, Tertullian knows Seneca through Roman education he received and through his personal affinities with Stoicism, and he himself is aware of the proximity between his own thought and that of his Roman figure“25. Deutlich spricht Tertullian dies selbst aus, wenn er Seneca saepe noster nennt.26 Von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Seneca und der ←53 | 54→stoischen Philosophie zeugt die Kenntnis senecanischer Werke.27 Gerade im Bereich der praktischen Schriften lassen sich Übereinstimmungen hinsichtlich des Inhalts und der zu dessen Transport benutzten Gattungen finden: „First of all, Seneca and Tertullian are the same kind of authors: both write handbooks telling people how to behave in every circumstance and how to remain faithful to high ideals; both want to help people live properly.“28 Eben dieser Intention folgt beispielsweise die Schrift de fuga, die sich über den konkreten Adressaten Fabius hinaus an dessen gemeindliches Umfeld und alle Christen schlechthin richtet, da die in ihr diskutierte Frage alle betrifft.29 Die kaiserzeitliche Stoa war für Tertullian wohl auch deshalb interessant, weil sie moralische Fragen und die Tugendpredigt in den Mittelpunkt stellte und eine gewisse Härte in ihren Positionen – kombiniert mit der Forderung nach standhaftem Ertragen des unabänderlichen Schicksals – betonte.30 Abgesehen von der Tatsache, dass die Philosophie der kaiserzeitlichen Stoa bis zum Aufkommen des Platonismus eine Art Universal- oder Populärphilosophie darstellte, der es hauptsächlich um Moral und Lebenspraxis ging und weniger um ein komplexes Lehrsystem31 und die gerade deshalb weit verbreitet und auch bei christlichen Autoren omnipräsent war32, ist wohl Tertullians Vertrautheit speziell mit den Schriften Senecas als Grund dafür anzusehen, „daß viele seiner Gedankengänge vom Stoizismus beeinflusst sind“33. So ←54 | 55→habe Tertullian „in ‚de patientia‘ sogar eine christlich pointierte Abhandlung über die stoische Lehre von der Apathie verfaßt“34. Im Verlauf der Kommentierung des Fluchttraktats werden einige Stellen zutage treten, welche sich ebenso als deutlich stoisch bzw. senecanisch inspiriert erweisen.35

Tertullian besuchte eventuell Rom36 und schloss vielleicht dort seine Ausbildung ab.37 Aufgrund seiner rhetorisch profilierten Werke und zahlreicher juristischer Vokabeln und Vergleiche wird seit jeher vermutet, dass Tertullian nach der Rhetorenausbildung auch Jurist gewesen sei.38 Hier ist zu beachten, dass Jurist bzw. Rechtskundiger und Gerichtsredner (Rhetor) bzw. Anwalt im römischen Umfeld nicht identisch ←55 | 56→waren.39 Aufgrund der zunehmenden Spezialisierung hatte sich die eine Profession von der anderen bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. schon gelöst40 und das komplizierte kaiserzeitliche Recht machte „die Rechtskunde zu einer ausgesprochenen Spezialwissenschaft, die mit einer gewöhnlichen rhetorischen Ausbildung keineswegs mehr zu bewältigen war.“41 Dass Tertullian eine rhetorische Ausbildung genoss und sich souverän rhetorischer Strategien bediente, steht wohl außer Zweifel.42 Für eine Tätigkeit als Anwalt waren daneben selbstverständlich juristische Kenntnisse vonnöten, um im Prozess erfolgreich verteidigen zu können. So erklären sich zahlreiche juristische Bilder und Begriffe, die Tertullian in die Theologie einführt. Der Karthager „war bis zu einem gewissen Grad in beiden Disziplinen zu Hause. Er begann seine Laufbahn mit der Ausbildung zum Rhetor, vermutlich, weil er Anwalt werden wollte, und beschäftigte sich außerdem, den Ratschlag Quintilians befolgend, eingehend mit der Jurisprudenz. Aller Wahrscheinlichkeit nach arbeitete er eine zeitlang erfolgreich in Rom als Advokat, als lehrender und schreibender Privatmann ging der Bekehrte nach Karthago zurück und fasziniert bis heute als ‚orator Christianus‘ im Apologeticum“.43

Wann und wo Tertullian zum Christentum übertrat, ist nicht sicher bekannt. Er war verheiratet und lernte seine Ehefrau vielleicht während des Aufenthalts in Rom kennen.44 Über Kinder aus dieser Ehe ist nichts bekannt, wohl aber bekennt Tertullian, Ehebruch begangen zu haben, sofern die Stelle in de resurrectione autobiographisch gelesen werden darf.45 Aus der an seine Frau gerichteten Schrift (ad uxorem) geht hervor, dass sie zum Zeitpunkt der Abfassung Christin war.46 Spekuliert wird auch darüber, ob das Zeugnis christlicher Märtyrer ihn animiert habe, Christ zu werden.47 ←56 | 57→Auch die strenge christliche Ethik könnte anziehend gewirkt haben. Tertullian beschreibt sich in der Zeit vor seiner Konversion in de paenitentia als „blind ohne das Licht des Herrn“ (caeci sine domini lumine, Tert. patient. 1,1 [Fredouille 60]). Presbyter war Tertullian entgegen der Behauptung des Hieronymus wohl nicht.48

Der Karthager entwickelte nach seiner Konversion eine rege literarische Produktivität und verfasste ab dem Jahr 197 n. Chr.49 bis zum Jahr 206/07 n. Chr. bereits eine Vielzahl von Werken, die sich in drei Gruppen einteilen lassen: apologetische Werke, die sich mit der paganen Umwelt auseinandersetzen (apologeticum, ad nationes), ethisch-praktische Werke zu Fragen der christlichen Lebensführung (de idololatria, de spectaculis, de oratione, de paenitentia etc.) und dogmatisch-polemische Werke, vor allem in Frontstellung gegen Juden und häretische Gruppen (de praescriptione haereticorum, adversus Iudaeos etc.).50

2.2. Hinwendung zum Montanismus und die montanistisch inspirierte Phase

Tertullian gilt in seinen späten Schriften als Vertreter und Verfechter von Gedankengut der sogenannten ‚Montanisten‘. An zahlreichen Stellen nimmt er Bezug auf Aussprüche von Gründern und Propheten sowie auf die Praxis dieser prophetischen, ethisch radikalen Bewegung und vertritt dabei ein sehr rigoristisches Verständnis christlicher Ethik und Lebensführung. Dies führte lange Zeit dazu, Tertullian in seiner späten Lebensphase pauschal als ‚Montanisten‘ zu qualifizieren und als Quelle für Lehre und Praxis dieser Gemeinschaft zu nutzen.51 „Studies of Montanism have too often ended as studies primarily of Tertullian“52. In der Tat ist es verführerisch, aufgrund der Anspielungen des Karthagers in vielen seiner späten Werke gleichsam Exegese der Werke Tertullians zu betreiben, um Aussagen über den Montanismus in toto zu treffen. Dabei ist nicht vollends geklärt, wie sich Tertullians Verhältnis zum Montanismus gestaltete, wie der Karthager sich selbst im Bezug zur Großkirche sah – ob innerhalb oder außerhalb –, ob das, was von Tertullian beispielsweise über die Praxis des Fastens, der Buße oder der ←57 | 58→Ehe erfahrbar ist, wirklich die Praxis der ‚Montanisten‘ war, oder lediglich die der nordafrikanischen Linie dieser Bewegung, oder vielleicht unabhängig davon ein genuin nordafrikanisches Phänomen, oder auch nur die Praxis einer kleinen, sich als besonders geistbegabt verstehenden Gruppe innerhalb der karthagischen Gemeinde. Es ist daher geboten, nicht ohne Weiteres aus den Werken Tertullians die Lehren des Montanismus ableiten zu wollen oder jede seiner rigorosen Aussagen als ‚montanistisch‘ zu qualifizieren.

So soll an dieser Stelle zunächst Geschichte, Lehre und Praxis der montanistischen Bewegung betrachtet werden, bevor in einem weiteren Schritt Tertullians Annäherung an den Montanismus erhellt und anschließend Zusammenhänge mit dem Montanismus geprüft werden, um den karthagischen Autor dann in seinem Verhältnis zu dieser Bewegung verorten zu können.53 Da es in bestimmten Bereichen nicht möglich ist, ohne Bezug zu Tertullian über den Montanismus zu schreiben, soll er an mancher Stelle trotzdem mit der nötigen Vorsicht schon im folgenden allgemeinen Teil herangezogen werden.

2.2.1. Die Bewegung des Montanismus

Im Rahmen der Untersuchung der montanistischen Bewegung wird zum einen auf die Hintergründe ihrer Entstehung, auf ihre Lehre und Praxis sowie ihre Ausbreitung einzugehen sein, bevor in einem weiteren Schritt die gegen sie erhobene Kritik und letztliche Verurteilung sowie (kurz) die weitere Geschichte in Zeiten der Reichskirche näher in den Blick genommen werden soll.

2.2.1.1. Grundsätzliche Problematik und Quellenlage

Authentische Quellenzeugnisse über den Montanismus gibt es wenige. Die meisten auf uns gekommenen Nachrichten stammen entweder aus der Feder seiner (möglicherweise teils zeitgenössischen) Gegner oder von Tertullian, dessen Verhältnis zum Montanismus jedoch, wie bereits betont, nicht zweifelsfrei geklärt ist. Eigene Schriften der Gründergestalten sind nicht überliefert54, wenngleich Hippolyt von Rom solche bezeugt.55 Diese Situation macht eine Darstellung des frühen, ursprünglichen Montanismus schwierig.

Eine verlorene Sammlung von montanistischen Prophetensprüchen bildet wohl die ursprüngliche Quelle der 1956 bei Eusebius, Epiphanius und Tertullian überlieferten sogenannten Orakel oder Logien, von denen einige den Gründungsgestalten Montanus, Maximilla und Priscilla zugeschrieben werden. Einige Inschriften aus Phrygien liefern mögliche authentische Zeugnisse des Montanismus in seiner ←58 | 59→Ursprungsregion.57 Die Inschriften, die in und um die antike Stadt Temenouthyrai – „part of the original Montanist heartland“58 – gefunden wurden, werden hierbei als besonders interessant angesehen.59

Eusebius bietet in seiner Kirchengeschichte Fragmente früher antimontanistischer Schriften, die von der regen Auseinandersetzung mit der neuen Bewegung zeugen.60 Hier ist zum einen ein anonymer Kritiker, der sogenannte „antimontanistische Anonymus“61, zu nennen, der seine Schrift frühestens „after the early part of 193“62 verfasst haben wird. Eine Identifikation mit Apollinarius von Hierapolis ist nicht gesichert.63 Zum anderen sind bei Eusebius Teile der antimontanistischen Schrift des Apollonius64 überliefert, welche etwa 40 Jahre nach Aufkeimen des Montanismus verfasst worden sein soll65 und um ca. 205 n. Chr. datiert wird.66 Damit sind auch diese Quellen keine authentischen Zeugnisse über die Gründungsphase der Bewegung. Inwiefern Eusebius abseits der von ihm referierten Quellen selbst über den Montanismus im Bilde war, bleibt unklar.67

Epiphanius von Salamis zitiert in seinem „Kompendium aller Häresien“ authentische Logien der montanistischen Propheten. Seine Quelle stammt vermutlich aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. und wurde möglicherweise vom Apologeten Miltiades verfasst.68 Damit wäre die „Quelle des Epiphanios die früheste Schrift über den Montanismus, die erhalten blieb.“69 Epiphanius stellt im 48. Abschnitt seines Werkes die „Häresie der Kataphryger“ vor und widerlegt sie eingehend.70

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Es muss allerdings bedacht werden, dass diese und andere Darstellungen aus der Hand der Gegner der montanistischen Bewegung nicht als objektiv gelten können. Es handelt sich schließlich um antimontanistische oder häresiologische Schriften, die den Montanismus angreifen und widerlegen wollten, dazu durchaus zu den Mitteln der Polemik und Übertreibung griffen und darüber hinaus möglicherweise generalisierend montanistische Phänomene und Praxis ihrer jeweiligen Zeit und Region auf die Frühzeit der Bewegung übertrugen. Quellen und Zeugnisse des von Phrygien losgelösten und dadurch vielleicht auch inhaltlich veränderten Montanismus bieten, zunächst unabhängig davon, wie nah oder fern der Verfasser dem Montanismus bzw. dessen nordafrikanischem Ableger tatsächlich stand, die Schriften Tertullians. Markschies spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „sekundären Form der Bewegung“71 mit Blick auf die Zeugnisse aus Nordafrika, sodass hier Vorsicht geboten ist. Ähnliches gilt für die montanistische Bewegung in Rom, von der Hippolyt berichtet.72 So ergibt sich für die folgende Darstellung zu Entstehung, Ausbreitung und Lehrinhalten sowie Praxis der montanistischen Bewegung die grundsätzliche Schwierigkeit, dass sich aufgrund fehlender authentischer Zeugnisse die zu untersuchenden Bereiche nur vage skizzieren lassen. Dennoch soll mit der nötigen Zurückhaltung der Versuch unternommen werden, dasjenige über die Bewegung der sogenannten Neuen Prophetie in ihren Anfängen und ihrer späteren Entwicklung festzuhalten, was sich unter den genannten Prämissen einigermaßen gesichert aussagen lässt.

2.2.1.2. Die Entstehung des Montanismus

Im 2. Jahrhundert n. Chr. entstand die Bewegung im kleinasiatischen Phrygien und damit in einem religiös-spirituell auf spezielle Weise geprägten Klima (s.u.). Die Anhänger dieser neuen Bewegung wurden erst seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. nach ihrem Gründer Montanus als Μοντανοί oder Μοντανισταί („Montanisten“) bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen antihäretischen Kampfbegriff, den die Gegner der Bewegung prägten.73 Hieronymus schreibt von sectator[es] Montani („Anhänger des Montanus“).74 Bis dahin galten sie als ἡ αἵρεσις τῶν Φρυγῶν („die Häresie der Phryger“)75 oder einfach Φρύγες („die Phryger“).76 In späterer Zeit wurde der Begriff der „Kataphryger“ (cata Frigas)77 geprägt. Hieraus zeigt sich eine offenbar enge Bindung der Bewegung an ihre Entstehungsregion, die schon den Zeitgenossen aufgefallen sein muss, die die Bewegung nicht nach dem Gründer, sondern nach der Herkunftsgegend betitelten.78 Für den weiteren Verlauf der ←60 | 61→Darstellung wird es also relevant sein, dieses „Phrygian Setting“79 zu bedenken, um das Phänomen des Montanismus auf dieser Basis tiefer ergründen zu können.

Phrygien liegt im zentralen Kleinasien und grenzt an die Landschaften Lydien im Westen, Bithynien im Norden, Kappadokien im Osten und Pisidien im Süden.80 Phrygien ging im 2. Jahrhundert v. Chr. zum größten Teil in der römischen Provinz Asia auf81, der östliche Teil in der Kaiserzeit als Eparchie Phrygia in der Provinz Galatia.82 Phrygien war Heimat einer besonderen, von Mysterien und Mantik geprägten Religiosität. „In der Natur Anatoliens erblickte man vielerorts Heiliges – Felsen, Höhlen, Haine, vor allem Wasser – […]. An markanten Örtlichkeiten wie Bergen (Zeus oreites), Hainen (Zeus oder Apollon alsenos) oder Bäumen (‚Zeus aus den Zwillingseichen‘) wußte man Wohnsitze, Geburts- oder Aufenthaltsorte der Unsterblichen.“83 Vor allem Apollon-Heiligtümer waren mit Orakelprophetie verbunden.84 Diese folgte einem routinemäßigen Verfahren: Eine Delegation erbat Auskunft von der Gottheit, die dann in Versform antwortete.85 Die Gottheit der Phryger schlechthin stellte die ‚Mutter‘ Kybele dar, deren Heiligtümer sich durch ganz Anatolien erstreckten.86 Besondere Eigenheiten der phrygischen Religiosität – wie der exzessiv-brutale Kult der Kybele –, die sich von der sonstigen Praxis im vorderen Orient unterscheiden, brachten die Phryger wohl bei ihrer Einwanderung nach Kleinasien mit.87

Ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. wurde Kleinasien mit Phrygien schrittweise vom sich ausbreitenden Christentum erfasst. Dies wurde auch dadurch gefördert, dass „das Netzwerk der Städte dieses Landes – in denen das Judentum längst heimisch, Synkretismus uralter und neuer Kulte und Lehren gegenwärtig und eine tief verwurzelte Religiosität neu entfacht waren, wo eine Sprache herrschte, Schriftlichkeit und Bildung die Dörfer erreichte, Wirtschaft und Handel blühten – sowohl den idealen geistigen Nährboden wie die beste Infrastruktur“88 bot. Dennoch blieben pagane Kulte weiterhin bestehen und übten auch einen gewissen Einfluss auf das phrygische Christentum aus, wie an der Bewegung des Montanismus zu zeigen sein wird. Der kleinasiatische Raum und besonders Phrygien waren im 2. Jahrhundert n. Chr. durch eine verstärkte „eschatologische Erwartung und eine anhaltende kräftige prophetische Tradition gekennzeichnet“89. Hierfür stehen unter anderem die Stadt Hierapolis mit ihrem millenaristischen Bischof Papias90 ←61 | 62→und der Ruhestätte des Philippus und seiner prophetischen Töchter sowie die um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. auftretenden Propheten Ammia und Quadratus.91 „[I]‌t is not difficult to understand how a movement such as that of Montanus might break out.“92

Montanus trat in der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. zusammen mit den beiden Frauen Priscilla und Maximilla in den phrygischen Dörfern Pepouza und Tymion93 mit prophetischer Rede auf.94 Den Beginn der Bewegung markierte nach Eusebius die plötzliche Raserei und Ekstase des neubekehrten Montanus, der im Dorf Ardabau95 prophetische Rede von sich gab, die in Widerspruch zur traditionellen Lehre der Kirche gestanden habe.96 Über die sonstige Biographie des Montanus ist nur wenig bekannt. Hieronymus berichtet, Montanus sei vor seiner Bekehrung Kybelepriester gewesen97, andernorts ist von Apollonpriester98 die Rede. Möglich scheint nach Hirschmann auch der Dienst in einem Kultheiligtum für beide Gottheiten zu sein.99 Ob dies nachträgliche Attribute sind, um den ‚Ketzer‘ Montanus aus großkirchlicher Sicht zu diskreditieren, muss offen bleiben.100 Jedenfalls waren besonders die Mysterien der Kybele und ihre Priester, die sich im Kult entmannten, häufig Gegenstand christlicher Polemik101, ←62 | 63→wie auch derartige orientalische Kulte römisch-paganer Kritik ausgesetzt waren.102

Über den genauen Zeitpunkt dieses Auftretens der drei Gründergestalten lassen uns die Quellen im Unklaren.103 Die Angaben reichen von 156/57 n. Chr.104 bis 171/72 n. Chr.105 In seiner Kirchengeschichte nennt Eusebius einen Prokonsul Gratus, unter dessen Regierung der Montanismus seine Anfänge genommen habe.106 Da leider nicht bekannt ist, wann Gratus Prokonsul war und aufgrund von Lücken in der Liste der Prokonsuln von Asien107 sowohl ersteres wie letzteres Datum möglich wäre108, hängt eine genauere Terminierung von weiteren Quellen ab, die versteckte oder offene Hinweise auf den Montanismus bieten.

Eine solche Quelle ist das Martyrium Polycarpi. Polykarp, Bischof der kleinasiatischen Stadt Smyrna, wurde wohl 155/56 n. Chr. unter L. Statius Quadratus hingerichtet.109 Es wird angenommen, dass der Martyriumsbericht nicht viel später (noch im 2. Jahrhundert n. Chr.) abgefasst wurde.110 Im Laufe des Berichts taucht ein Phryger namens Quintus auf, der sich freiwillig dem Tode im Martyrium ausliefern will: εἷς δὲ, ὀνόματι Κόϊντος, Φρύξ, προσφάτως ἐληλυθὼς ἀπὸ τῆς Φρυγίας, ἰδὼν τὰ θηρία ἐδειλίασεν. οὗτος δὲ ἦν ὁ παραβιασάμενος ἑαυτόν τε καί τινας προσελθεῖν ἑκόντας τοῦτον ὁ ἀνθύπατος πολλὰ ἐκλιπαρήσας ἔπεισεν ὀμόσαι καὶ ἐπιθῦσαι. διὰ τοῦτο οὖν, ἀδελφοί, οὐκ ἐπαινοῦμεν τοὺς προσιόντας ἑαυτοῖς, ἐπειδὴ οὐχ οὕτως διδάσκει τὸ εὐαγγέλιον111 (M. Polyc. 4 [Hartog 244]). Die aktive Suche des Martyriums, wie sie in dieser Passage als ←63 | 64→ein Merkmal des Quintus begegnet, wird gewöhnlich als ein wichtiges Kennzeichen des Montanismus ausgemacht und galt schon den antimontanistischen Schriftstellern als herauszuhebendes Moment dieser Bewegung, weshalb Quintus in Kombination mit dem Attribut „Phryger“ in der Forschung zumeist als „Montanist“ identifiziert wird.112 Interessant ist hierbei die angesprochene Feigheit des Quintus, der angesichts der wilden Tiere in Furcht gerät und doch opfert. Ähnliche Berichte bringt auch Eusebius in einem Zitat aus der verlorenen Quelle des Apollonius, dessen Streitschrift gegen die Montanisten zu den frühesten Zeugnissen über die Bewegung gehört113: Ein Montanist namens Themison habe sich aus Furcht vor dem Martyrium losgekauft und sich anschließend noch als Märtyrer verehren lassen.114

Beiden Texten gemeinsam ist die Intention der „Mahnung vor einem falsch verstandenen Hinwenden zum Martyrium“115. Deutlich tritt somit im Martyrium Polycarpi eine Tendenz gegen Selbstauslieferung und falschen Martyriumseifer hervor, da die Polemik im Kontext des Martyriumsberichtes zusammen mit dem Beispiel des Polykarp zu lesen ist, der sich eben nicht freiwillig auslieferte, sondern zunächst floh und sich erst später, als es keinen Ausweg mehr gab, den Häschern stellte, wie es das Evangelium am Beispiel Jesu lehrt.116 „Polykarps (und Jesu) Warten auf die Verfolger widerspricht der freiwilligen Martyriumssuche“117 eines Quintus. Wenn auch nicht als „Montanist“ gekennzeichnet – diese Bezeichnung für die neue Prophetie des Montanus kam erst im 4. Jahrhundert n. Chr. auf118 – weist ←64 | 65→die Benennung als Φρύξ in Zusammenhang mit der Selbstauslieferung darauf hin, dass es sich bei ihm um einen Anhänger des Montanus119 oder einer Vorläuferbewegung120 gehandelt haben könnte. Daher habe das Martyrium Polycarpi in dieser Episode, so Buschmann, eine deutlich antimontanistische Tendenz.121 Aus der beschriebenen Quintus-Episode, die zuletzt als authentischer Bestandteil des Martyrium Polycarpi erwiesen werden konnte122, in Zusammenhang mit der Adressierung der Schrift an die Stadt Philomelion in Phrygien wird sodann der Schluss gezogen, dass die Entstehung des Montanismus in Phrygien nicht allzu weit von den Ereignissen des Polykarpmartyriums entfernt liegen könne.123 Dieser Zusammenhang spräche dann für die von Epiphanius vorgetragene Frühdatierung um 156/57 n. Chr. Wenn man angesichts der umstrittenen Datierung des M. Polyc. etwas vorsichtiger formulieren will, so kann man Quintus als einen Christen aus dem Dunstkreis des phrygischen Montanismus bezeichnen. „Wann immer Montanus persönlich seine aktive Rolle aufgenommen hat, [waren] die Neue Prophetie bzw. ihre geistigen Wurzeln bereits vor der Mitte des 2. Jh. spürbar.“124 Denn Tendenzen des Hindrängens zum Martyrium seien schon mit der Reise des Ignatius von Antiochien durch Kleinasien virulent geworden.125 In der Tat spricht aus den ihm zugeschriebenen Briefen ein gewisser Wunsch nach dem Leiden.126

Wenn das Auftreten des Montanus und seiner Bewegung also auch zeitlich etwas später anzusiedeln wäre, stünde die Bezeichnung als „Phryger“ dennoch auch symbolhaft für die dort vorherrschende Hochachtung des Martyriums, auf die sich Montanus mit seiner Bewegung dann gestützt hätte. Es „muß unabhängig von der Person des Montanus und einem zeitlich fixierbaren Auftreten der Neuen Prophetie eine Entwicklung in Phrygien stattgefunden haben, die in der Mitte des 2. Jahrhunderts unübersehbar wird“.127 Letztlich ist es wohl auch dieses vehementere Auftreten, das zu einer verstärkten öffentlichen Wahrnehmung der Prophetie führte, welches mit dem Datum in der Chronik des Eusebius (171/72 n. Chr.) bezeichnet sein könnte. „[A]‌s Epiphanius and Eusebius may each be referring to different events in the history of the beginnings of the New Prophecy (e.g., the conversion of Montanus to Christianity; Montanus’ earliest prophesying at Ardabau; the establishment of ←65 | 66→a prophetic ‚mission center‘ at Pepouza), a date roughly between their conflicting dates is a more useful chronological marker to designate the time when the New Prophecy may be said to have begun as a publicly visible ‚movement‘.“128

2.2.1.3. Die montanistische Lehre und Praxis

Im Mittelpunkt der Neuen Prophetie stand der von Jesus im Johannesevangelium verheißene Beistand, der Paraklet.129 Die Begründer der Neuen Prophetie glaubten, dass sich dieser Paraklet durch ihren Mund offenbare und die Welt damit ins Zeitalter des Parakleten eingetreten sei130, der diese, wie es ebenfalls im Johannesevangelium heißt, „in die volle Wahrheit einführen“ (Joh 16,12f.) werde. Der Paraklet gebe durch den Mund der ‚Neuen Propheten‘ nun seine endgültige Offenbarung.131 Montanus schlossen sich die beiden Frauen Priscilla und Maximilla an, von denen Apollonius zu berichten weiß, dass sie ihre Ehemänner verlassen hätten, um sich der neuen Lehre anzuschließen.132 Priscilla und Maximilla wirkten nach ihrer ‚Erweckung‘ neben Montanus gleichrangig als Prophetinnen des Parakleten.133

Über die theologischen Positionen des frühen Montanismus ist kaum etwas bekannt. So stellte schon Schepelern fest, dass „weder der Anonymus noch Apollonius den theologischen Standpunkt des Montanismus erwähnen.“134 Dies geschah wohl vor allem deshalb nicht, weil die Kernpunkte der Theologie der Neuen Prophetie zunächst nicht anstößig waren. Hippolyt von Rom betont die Übereinstimmung der Montanisten mit den Katholiken hinsichtlich der Erschaffung der Welt durch Gott Vater und des Zeugnisses der Evangelien über Christus.135 Ebenso ←66 | 67→nennt Epiphanius die Übereinstimmung in der Lehre über Vater, Sohn und Geist.136 So kommt Schepelern zu der Feststellung, „daß der Montanismus ursprünglich als theologisch unangreifbar angesehen wurde.“137 Anlässe für heftige Kritik und Polemik boten dagegen aber Fragen der Praxis, namentlich in den Bereichen der Art und Weise von Prophetie, der Stellung von Frauen und der rigiden Fastenpraxis, der Frage der Vergebbarkeit von Sünden, die nach der Taufe begangen wurden, sowie des Martyriums. Daneben unterlag auch die (angebliche) montanistische Naherwartung großkirchlicher Kritik.

Die Praxis bezüglich der genannten sechs Bereiche zu rekonstruieren, bildet ein schwieriges Unterfangen, was sich auch in divergierenden Forschungsmeinungen diesbezüglich widerspiegelt. Denn es sind, wie bereits angedeutet, keine Schriften der Gründerfiguren selbst erhalten, da sie „schon früh systematisch von Gegnern eliminiert wurden“138. Daher ist man bei der Rekonstruktion auf Schriften der Gegner angewiesen, die selbstverständlich zum einen nicht frei von Polemik sein können, zum anderen aber auch möglicherweise die Umstände und Inhalte der Neuen Prophetie in ihrem jeweiligen zeitlichen und geographischen Kontext auf die Anfänge der Bewegung rückprojizieren. Ebenso verhält es sich mit den Schriften Tertullians, die nicht ohne Weiteres als Zeugnisse des Montanismus gewertet und exzerpiert werden dürfen, wie noch zu zeigen sein wird.139

Die klassische Auffassung vom Montanismus, seiner Lehre und Praxis ist folgende: „Hervorgerufen durch einen religiösen Schwärmer, vertrat der Montanismus diejenige reaktionäre Richtung in der Kirche während der zweiten Hälfte des zweiten und am Anfang des dritten Jahrhunderts, welche im bewussten Gegensatze gegen die sich immer mehr der Welt assimilierende Strömung in der christlichen Kirche, dieselbe vielmehr der Welt gänzlich zu entziehen, den schroffsten Gegensatz zwischen Welt und Kirche erhalten, und wo er verloren gegangen ist, ihn wieder erwecken will.“140 Weiter schreibt Belck: „Diesem weltlichen Hange der Kirche wollte Montan ein Ende machen, daher seine streng rigoristischen Verordnungen über das Fasten, Martyrium, die Ehe und die Buße, daher seine gänzliche Verachtung aller Wissenschaft und Kunst. […] Was war natürlicher, als daß er diesen mächtigen Einfluss, den die Prophetie damals noch auf die Menge des Volkes ausübte, zur Erreichung seiner Ziele benutzte.“141 Folgend sollen die Bereiche der Prophetie, der Naherwartung sowie die ethische Praxis des Montanismus genauer untersucht werden. Hierbei wird zu zeigen sein, dass weit weniger über die Bewegung des Montanismus – gerade in ihren Ursprüngen – bekannt ist, als die Ausführungen von Belck glauben machen.

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2.2.1.3.1. Prophetie und Ekstase

Beim Montanismus handelte es sich zu Beginn in erster Linie um eine prophetische Bewegung. Nestler präzisiert dies noch und betont, dass letztlich der Ursprung aller montanistischen Lehre die Praxis der Prophetie gewesen sei.142 Allerdings, und das versuchten unter anderem Epiphanius bzw. die von ihm benutzte Quelle nachzuweisen, sei es keine Bewegung auf dem Boden alt- und neutestamentlicher prophetischer und apostolischer Tradition gewesen.143 Auffällig ist vor allem die Nähe zur paganen Religiosität Phrygiens. In jüngster Zeit wurde dieses Umfeld häufiger für eine Untersuchung des Montanismus zugrunde gelegt, so etwa bei Kirstead144 und Hirschmann145. Berücksichtigt man dieses Umfeld, erklärt sich auch, weshalb die Anhänger des Montanus mit dem Vorwurf der Häresie zu kämpfen hatten und ihnen ein Agieren auf biblisch-apostolisch-traditionellem Boden in Abrede gestellt wurde.

Einerseits fällt dies beim Wesen der montanistischen Prophetie selbst auf: So spricht in den überlieferten Logien beispielsweise Gott selbst durch den Mund des Montanus, was ein Kennzeichen paganer Prophetie ist146: ἐγὼ κύριος ὁ θεὸς ὁ παντοκράτωρ καταγινόμενος ἐν ἀνθρώπῳ147 (Epiph. haer. 48,11,1 [Holl 233]). „Die Anwesenheit des Gottes in seinem Medium zeigt sich dadurch, dass der Gott durch den Propheten in der ersten Person spricht.“148 Somit ist klar, woher die Botschaft kommt, die Montanus verkündet: von Gott selbst durch ihn als Sprachrohr; dies bedeutet eine unanzweifelbare Autorität und Legitimität seiner Person als Prophet.149 Ähnlich verhält es sich mit dem sogenannten „Leierlogion“, in welchem ebenso die Funktion des Propheten als Sprachrohr der Worte Gottes, bzw. die „Art und Weise der göttlichen Anwesenheit in dem Propheten“150, beschrieben ←68 | 69→werden: ἰδού, ὁ ἄνθρωπος ὡσεὶ λύρα κάγὼ ἐφίπταμαι ὡσεὶ πλῆκτρον151 (Epiph. haer. 48,4,1 [Holl 224]). Dass Leier und Plektron in der Antike zum Kult des Apollon gehörten, scheint die Anleihen bei paganen Kulten ebenso zu bestätigen.152 Dass allerdings die verwendeten Termini durchaus auch christlich aufgegriffen wurden, bzw. die im zitierten Leierlogion ebenfalls vorkommende Rede vom neuen Herzen, welches Gott dem Menschen gebe153, alttestamentliche Parallelen aufweist154, ist ebenso evident.

Untypisch für die Prophetie in „kanonischer Tradition“155 sind auch die Ekstase und unklare Sprache, die die montanistische Prophetie kennzeichneten.156 Epiphanius rügt dies157 und stellt das Ideal des biblischen Propheten gegenüber: ὁ προφήτης πάντα μετὰ καταστάσεως λογισμῶν καὶ παρακολουθήσεως ἐλάλει158 (Epiph. haer. 48,3,4 [Holl 223]). Auch wenn die Glossolalie für Paulus eine Gnadengabe darstellt, fordert der Apostel dennoch stets einen, der imstande ist, diese auszulegen (vgl. 1 Kor 14,2–5). In paganen Kulten des Vorderen Orients und Kleinasiens ist aber gerade das Merkmal der Unkontrolliertheit und Entrückung kennzeichnend für die Anwesenheit einer Gottheit in ihrem Medium: „Undeutliche Sprache und unkontrollierte Bewegungen zeigen die Entrückung des Menschen an, der angesichts der übermächtigen göttlichen Präsenz nicht mehr Herr seines Körpers ist. Der inspirierende Gott bedient sich des Menschen als eines Instrumentes seines Willens, sodass der Kultprophet zum Sprachrohr Gottes wird. […] Montanus dient Gott in der Art und Weise, die sich im phrygischen Raum über viele Jahrhunderte in den paganen Kulten fest etablierte.“159 In unmittelbarer geographischer Nähe zum Zentrum der montanistischen Bewegung lagen die Orakelheiligtümer von Hierapolis und Laodicea.160 Betrachtet man dies, so wäre der Hinweis auf das frühere pagane ←69 | 70→Priesteramt des Montanus und die Einflüsse paganer Kulte und Orakelprophetie durchaus plausibel.161

Markschies hält fest, dass diese heidnisch anmutenden Elemente schon christlichen Zeitgenossen der frühen Montanisten auffielen. Er stellt bei dem vom antimontanistischen Anonymus benutzten Vokabular zur Beschreibung der prophetisch-ekstatischen Erfahrung des Montanus und der Prophetinnen Termini fest, welche im heidnischen Kontext positiv, im christlichen Kontext aber negativ konnotiert sind.162 Hierdurch „entstand schon durch die Wortwahl bei der Leserschaft der Eindruck, daß es sich bei den prophetischen Praktiken des Montanismus um heidnische Phänomene handelte.“163

Kennzeichnend für montanistische Prophetie waren aber auch – und dies steht in biblisch-prophetischer Tradition – Träume und Visionen. Beispielhaft sei hier der Traum genannt, den Epiphanius der Quintilla oder Maximilla zuschreibt.164 Darin kündigt Christus in Gestalt einer Frau die Herabkunft des himmlischen Jerusalem in Pepouza an.165

Zusammenfassend lässt sich mit Markschies festhalten: „Es handelte sich bei der ‚montanistischen Prophetie‘ um ein archaisierendes (bzw. konservatives) Phänomen, das auf die palästinische Urphase des Christentums zurückgeht, und zugleich um ein Inkulturationsphänomen. Die Montanisten betonten mit ihrem Festhalten an der urchristlichen Prophetie ein Kennzeichen der lokalen kleinasiatischen Form des Christentums. […] Und […] das Festhalten an der urchristlichen Prophetie verband diese Form christlicher Gemeinde zugleich mit einer beliebten religiösen Form ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.“166

2.2.1.3.2. Die Rolle der Frauen

Auch in einem anderen Bereich wird die mögliche Verbindung zu den paganen Kulten Phrygiens deutlich: Zur neuartig-auffälligen Botschaft des Montanismus gehörte auch die Rolle der Frauen, die zum einen in Prophetie und Lehre wirkten, zum anderen aber im Zuge der späteren Ausbildung eigener kirchlicher Strukturen ←70 | 71→wohl auch Zugang zur Ämterhierarchie besaßen.167 Am Beginn der Bewegung fallen die Frauen Priscilla und Maximilla, entgegen der Ansicht des Eusebius, dass die beiden lediglich von Montanus abhängig und ‚seine‘ Prophetinnen waren168, als gleichberechtigte Akteurinnen neben ihm auf.169 Dass die Frauen oder eine von ihnen hinter Montanus die eigentlichen Leiterinnen der neuen prophetischen Bewegung gewesen seien, wird bisweilen spekuliert170, scheint aber nicht überzeugend belegbar.171

Details

Seiten
626
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631852378
ISBN (ePUB)
9783631852385
ISBN (MOBI)
9783631852392
ISBN (Hardcover)
9783631836149
DOI
10.3726/b18297
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Schlagworte
Christenverfolgung Übersetzung Kommentar Rhetorik Exegese Montanismus Tertullian
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 626 S.

Biographische Angaben

Daniel Greb (Autor:in)

Daniel Greb studierte Katholische Theologie, lateinische Philologie, Geschichts- und Erziehungswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und wurde dort mit der vorliegenden Publikation zum Dr. theol. promoviert.

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Titel: Die Flucht in der Verfolgung – eine legitime Alternative zu Martyrium oder Apostasie?