Venire contra factum proprium
Herkunft und Grundlagen eines sprichwörtlichen Rechtsprinzips
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhalt
- Abkürzungen
- I. Einleitung
- 1. Inhalt des Verbots von venire contra factum proprium
- 2. Entwicklung des Verbots des Selbstwiderspruchs
- 3. Plan der Darstellung
- II. Die Literaturgattung der Brocardica
- 1. Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert
- 2. Herstellen von Verbindungsnetzen: Allegationen und Noten
- 3. Technik der Regelfindung
- 4. Entwicklung und Vertreter der Literaturgattung
- 5. Etymologie
- 6. Rechtsnatur
- III. Der Grundsatz „venire contra factum proprium nulli conceditur“ in den Brocardica aurea
- 1. Textgrundlage
- 2. Kontext
- 3. Aufbau des Titels „Venire contra factum proprium nulli conceditur“
- IV. Vergleich zu anderen legistischen Brocardica
- 1. „Dolum per subsequentia purgari“
- 2. „Initium esse spectandum“
- 3. „Dunelmensia“
- 4. Pillius de Medicina: „Libellus Disputatorius“ und „Quaestiones“
- 5. Ergebnisse aus dem Vergleich
- V. Argumenta in den Brocardica aurea
- 1. Argumenta pro
- 1.1. C. 12, q. 2, c. 18: Aneignung von Kirchengut durch Geistliche
- 1.2. C. 2, 3, 29 pr: Verzicht I – praescriptio fori
- 1.3. C. 4, 30, 13: Cautio discreta
- 1.4. C. 4, 1, 11: Verzicht II – iusiurandum als Beweismittel
- 1.5. Selbstverweis I: Bindung an den geschlossenen Vergleich
- 1.6. Selbstverweis II: Bindung des iudex an Vorentscheidungen
- 1.7. Selbstverweis III: Rücktritt vom Kauf
- 1.8. C. 4, 10, 5: Verbindlichkeit von Verträgen
- 1.9. C. 4, 20, 14: Verfahrensverbindung unter Ausschluss der praescriptio fori
- 1.10. C. 8, 8, 1: Das interdictum de liberis ducendis nach erfolgreicher Klage
- 1.11. C. 2, 29, 2 pr: In integrum restitutio oder Nichtigkeit bei der Veräußerung von Mündelgrundstücken
- 1.12. C. 8, 45, 1: Eviktionshaftung nach Pfandverkauf I
- 1.13. C. 10, 5, 1: Verkauf durch den Fiskus
- 1.14. D. 1, 7, 25 pr: Mater familias quasi iure emancipata vixerat
- 1.15. C. 4, 44, 7: Einseitiger Rücktritt beim Kauf
- 1.16. D. 8, 3, 11: Servitutsbestellung beim Grundstück im Miteigentum
- 1.17. D. 1, 16, 6, 1: Übertragung und Entziehung der Gerichtsbarkeit durch den Prokonsul
- 1.18. D. 3, 5, 8: Ratihabitio eines schlecht geführten Geschäfts
- 1.19. D. 6, 1, 72: Konvaleszenz I bei Veräußerung fremder Sachen
- 1.20. D. 7, 1, 25 pr: Erwerb durch den Nießbrauchsklaven donandi causa
- 1.21. D. 21, 3, 1 pr: Konvaleszenz II bei Veräußerung fremder Sachen
- 1.22. D. 21, 2, 17: Konvaleszenz III bei Veräußerung fremder Sachen
- 1.23. D. 13, 7, 41: Konvaleszenz bei Verpfändung fremder Sachen
- 1.24. D. 23, 5, 17: Die verbotswidrige Veräußerung des Dotalgrundstücks durch den Ehemann
- 1.25. D. 17, 1, 26, 7: Haftungsfragen bei Diebstahl durch einen auftragsgemäß erworbenen Sklaven
- 1.26. D. 20, 5, 10: Eviktionshaftung nach Pfandverkauf II
- 1.27. D. 45, 1, 122 pr: Vereinbarungen zu Termin und Ort der Schuldtilgung
- 2. Argumenta contra
- 2.1. C. 3, 29, 5: Benachteiligung von Pflichtteilsberechtigten I: Schenkung an den emanzipierten Haussohn
- 2.2. C. 1, 2, 14, 3–4: Veräußerung von Kirchengütern
- 2.3. C. 7, 16, 1: Verkauf freigeborener Kinder
- 2.4. Selbstverweis IV: Handeln im fremden Namen
- 2.5. C. 4, 43, 2: Nachklassische Entwicklungen bei Kinderverkäufen
- 2.6. C. 9, 2, 4: Abwesenheitsurteil
- 2.7. C. 8, 44, 25: Eviktion durch Statusprozess
- 2.8. C. 4, 65, 3: Außerordentliche Kündigungsgründe bei Miete
- 2.9. C. 12, q. 1, c. 17–18: Bildung von Kirchenvermögen und nachträglicher Eigentumserwerb durch Geistliche
- 2.10. C. 8, 55, 8: Benachteiligung von Pflichtteilsberechtigten II: Schenkung des Patrons an den libertus
- 2.11. D. 38, 1, 30 pr: Umfang der Verpflichtung zur Leistung von operae durch Freigelassene
- 2.12. C. 11, 48, 7: Verbot des Verkaufs eines originarius oder rusticus censitusque servus ohne zugehörigem Grundstück
- 2.13. D. 46, 3, 9, 1: Teilleistung
- 2.14. D. 2, 1, 18: Gerichtsstandsvereinbarung
- 2.15. D. 3, 3, 8, 3: Einlassungszwang bei Prozessvertretung
- 2.16. D. 6, 1, 25: Nachträgliche Richtigstellung durch den liti se offerens
- 2.17. D. 8, 3, 20 pr: Verzicht auf eines von zwei Servitutsrechten
- 2.18. D. 9, 4, 26, 5: Die interrogatio in iure an servus in potestate eius sit
- 2.19. D. 11, 1, 11 pr: Die interrogatio de aetate
- 2.20. D. 17, 1, 60, 4: Umfang der Verwalterbefugnisse
- 2.21. D. 12, 4, 5 pr: Condictio ex paenitentia
- 2.22. D. 19, 2, 15, 5–4: Remissio mercedis
- 2.23. D. 36, 1, 58: Rückfideikommiss
- 2.24. D. 42, 3, 5: Aufhebung der missio in bona durch nachträgliche defensio
- 2.25. D. 43, 26, 12 pr: Precarium ad tempus
- 2.26. D. 47, 12, 3, 10: Paenitentia des privilegiert Klagsbefugten bei der actio de sepulchro violato
- 3. Solutio
- 3.1. Exkurs: Neues Argument D. 12, 4, 3, 1 zur Kondiktion bei Geldleistung zu dem Zweck, (nicht) freizulassen
- 3.2. Exkurs: Neues Argument D. 8, 4, 13 pr zur Umdeutung einer unwirksamen Servitut
- 3.3. Exkurs: Neues Argument IJ 2, 23, 12 zum formlosen Fideikommiss
- 3.4. Exkurs: Neues Argument D. 18, 3, 6 pr zur lex commissoria
- 3.5. Exkurs: Neues Argument D. 37, 6, 8 zur Meinungsänderung des emancipatus bei Stellung der cautio für die bonorum possessio
- 4. Zusammenfassung zu den Brocardica aurea: pro, contra und solutio
- 4.1. Die in den Brocardica aurea genannten Fälle pro
- 4.2. Die in den Brocardica aurea genannten Fälle contra
- 4.3. Die in den Brocardica aurea formulierten Abgrenzungskriterien
- VI. Zusätzliche argumenta in den Brocardica dolum sowie initium
- 1. Argumenta pro
- 1.1. D. 14, 6, 7, 2: Konvaleszenz bei dos-Bestellung (dolum)
- 1.2. D. 4, 4, 41: Paenitentia bei bewilligter in integrum restitutio (dolum)
- 1.3. D. 17, 1, 49: Error in dominio (dolum und initium)
- 1.4. D. 13, 6, 17, 3: Fortsetzungspflichten (initium)
- 1.5. C. 2, 8, 1: Der advocatus fisci als Prozessbeistand gegen den Fiskus (initium)
- 1.6. C. 1, 40, 11: Aufsicht über die procuratores in der Provinz (initium)
- 1.7. C. 3, 26, 9: Bestrafung von Vergehen der actores und procuratores in der Provinz (initium)
- 1.8. D. 1, 18, 6, 9: Straferlass (initium)
- 2. Argumenta contra
- 2.1. C. 7, 16, 36: Abreden mit Sklaven
- 2.2. C. 4, 66, 2, 1: Entziehung der Emphyteuse
- 2.3. D. 46, 3, 27: Aliquid iuri rei deest
- 2.4. D. 18, 1, 14: Beiderseitiger Irrtum
- 3. Einordnung der zusätzlichen argumenta der Brocardica dolum und initium in die Kategorien der solutio in den Brocardica aurea
- VII. Ergebnisse
- VIII. Verzeichnisse
- 1. Literaturverzeichnis
- 2. Quellenverzeichnis
- 3. Stichwortverzeichnis
Außer den üblichen und den bei Max Kaser, Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt, 2. Aufl. 1971, XIX–XXX angeführten.
1. Inhalt des Verbots von venire contra factum proprium
Das Verbot von venire contra factum proprium begegnet in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: Man hört davon in der juristischen Ausbildung wohl zuerst in einer Lehrveranstaltung zum römischen Recht; meist wird es auch im Zusammenhang mit dem Prinzip von Treu und Glauben, Rechtsmissbrauch und Verwirkung in den Vorlesungen zum Privatrecht erwähnt; aber auch im Wettbewerbsrecht, etwa beim Einwand der „unclean hands“ kommt es zur Sprache. In Form des „estoppel“-Prinzips figuriert es im Völkerrecht und nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Zivilprozessrecht bleibt es nicht unerwähnt. Oftmals wird in der Argumentation auf diesen Grundsatz zurückgegriffen, ohne dass Klarheit darüber besteht, warum er in Geltung steht, was er genau besagt und wie sein Anwendungsbereich von den Fällen abzugrenzen ist, in denen man doch widersprüchlich handeln darf. Bausteine einer Antwort darauf mögen in der Analyse des Ursprungs dieses Rechtsprinzips in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft gefunden werden: In diesem Kontext wurde es erstmals als solches formuliert und von hier ausgehend kann die Basis im römischen Recht nachvollzogen werden.
„Venire contra factum proprium nulli conceditur“1 bedeutet nach allgemeiner Auffassung, dass es verboten ist, durch widersprüchliches Verhalten anderen einen Schaden zuzufügen, die im Vertrauen auf ein zurechenbares Erstverhalten Dispositionen getroffen haben. Charakteristisch für alle Anwendungsfälle ist, dass der widersprüchlich Handelnde zu diesem späteren Handeln berechtigt wäre, hätte er nicht vorher einen gegenläufigen Vertrauenstatbestand geschaffen2. ← 1 | 2 →
Für geltende nationale Rechtsordnungen sowie für das Völkerrecht3 wurde das Verbot von venire contra factum proprium bereits verschiedentlich hinsichtlich seiner aktuellen systematischen Position und Ausprägung untersucht. Darauf, dass in Österreich vergleichsweise ein „erstaunlich geringes Oevre“ zum venire contra factum proprium vorliegt und das Thema hierzulande äußerst „stiefmütterlich“ behandelt wird, wies insbesondere Mader bereits mehrfach hin4. Ebenfalls zurückhaltend steht diesem Problem die französische ← 2 | 3 → Lehre gegenüber, da das französische Recht (ähnlich dem österreichischen) diesbezüglich keine allgemein einschlägige gesetzliche Regelung vorsieht5.
Ausführlicher widmet sich dieser Frage hingegen die Literatur zum deutschen Recht, die das Verbot des Selbstwiderspruchs vor allem im Zusammenhang mit § 242 BGB diskutiert6. Darüber hinaus liegen aber auch eigenständige Abhandlungen zum venire contra factum prorium im deutschen Strafrecht7, Steuerrecht8, Gesellschaftsrecht9 und Prozessrecht10 vor. Insbesondere in italienischer Sprache11, wo bspw. eigene Darstellungen zum venire contra factum prorium im Familienrecht12 und Prozessrecht13 veröffentlicht wurden, aber auch im spanischsprachigen Ausland wurde in den vergangenen Jahrzehnten ← 3 | 4 → zum Verbot des Selbstwiderspruchs wiederholt publiziert14. Vor allem die spanische bzw. lateinamerikanische Literatur zieht bei Behandlung des geltenden Rechts immer wieder die Entstehungsgeschichte heran; ohne diese dürfte die aktuelle Gestalt des Rechtsprinzips nur fragmentarisch zu verstehen sein, daher ist auch aus Sicht des geltenden Rechts eine historische Betrachtung von besonderem Interesse15. Diese wurde bisher im deutschsprachigen Raum jedoch weitgehend außer Acht gelassen16.
2. Entwicklung des Verbots des Selbstwiderspruchs
Dass einmal gebildete allgemeine Sätze vielfach zu Dogmen wurden, die man als Begründung verwendete, aber nicht mehr nach ihrer eigenen Begründung fragte, wurde schon für das römische Recht konstatiert17 und kann als allgemeine Beobachtung auch auf später formulierte Prinzipien, wie etwa das Verbot von venire contra fatum proprium, übertragen werden.
Das klassische römische Recht kennt das Prinzip der Bindung an das eigene Vorverhalten in dieser Allgemeinheit noch nicht ausdrücklich; in verschiedenen Einzelfällen zeigt es sich allerdings bereits sinngemäß. Als selbständig formuliertes, universelles Prinzip entstand es zur Zeit der Glossatoren: ← 4 | 5 → Gemeinhin werden die legistischen Brocardica aurea, als deren Autor Azo18 gilt, als erster Nachweis dieses Prinzips bezeichnet19, doch scheinen diese, wie noch näher auszuführen sein wird, lediglich in geordneter Form festzuschreiben, was bereits aus älteren Glossen bekannt war.
Die erste selbständige Darstellung erfuhr das Thema im 17. Jahrhundert in einer von Stryk betreuten Dissertation Schachers unter dem Titel „De impugnatione facti proprii“. Er versuchte alle relevanten Formen des Selbstwiderspruchs zu erfassen und zitierte zu diesem Zweck nicht nur juristische Quellen der Antike, sondern auch etwa mittelalterliche Kommentare und frühe neuzeitliche Werke; darüber hinaus aber etwa auch die Evangelien und die Schriften Luthers. Er gliedert seine Abhandlung in die Abschnitte „De impugnatione facti proprii regulariter illicita“ (S. 4 ff); „De impugnatione facti proprii quoad ius personarum“ (S. 17 ff); „De impugnatione facti proprii ex iure rerum, quoad actos inter vivos“ (S. 24 ff); „De impugnatione facti proprii in ultimis voluntatibus“ (S. 46 ff); „De impugnatione facti proprii quoad actus iudiciales“ (S. 56 ff); „De impugnatione facti proprii in rebus ecclesiasticis“ (S. 67 ff) und „De impugnatione facti proprii principis“ (S. 78 ff), wobei diese Abschnitte in Einzelaussagen zerlegt werden. Von Exegesen nach heutigem Verständnis kann nicht gesprochen werden20.
1912 erschien Riezlers Monographie mit dem Titel „Venire contra factum proprium“, die noch heute das Standardwerk darstellt. Er stellte auch Untersuchungen zum römischen Recht und dessen Rezeption im Mittelalter an, legte den Schwerpunkt jedoch auf das englische und deutsche Recht21. Riezler selbst erklärte das Schweigen der Pandektisten zu unserem Thema damit, dass die historische Schule das römische Recht so darstellen wollte, wie es sich in den Quellen zeigt, aus denen ein solch allgemeines Verbot eben nicht unmittelbar ablesbar sei22. ← 5 | 6 →
Liebs widmete sich in einem 1981 in der Juristenzeitschrift veröffentlichten Aufsatz über die „Geschichte einiger lateinischer Rechtsregeln“ auch der Herkunft des venire contra factum proprium23. Seiner kritischen Haltung gegenüber dem Verbot widerspruchsvollen Verhaltens entgegnete Wacke, dass dieses als „rechtsethische Anforderung“24 durch die Anführung von Gegenbeispielen nicht seine Funktion verliere; es werde im Gegenteil dadurch nur umso „schärfer konturiert“. Wacke kommt zu dem Schluss: „Die Geltung des Verbots vom widersprüchlichen Verhalten rundheraus zu bestreiten, wäre falsch; zulässiges und verbotenes venire contra factum proprium sind vielmehr voneinander zu unterscheiden“25.
Exkurs: Regel und Prinzip26
Dass es nicht nur verbotenes, sondern auch zulässiges venire contra factum proprium geben kann, führt zu der Frage, welche rechtliche Qualität dem Satz „venire contra factum proprium nulli conceditur“ zukommt. Dabei wird nach dem jeweiligen historischen Kontext zu unterscheiden und der Umstand zu berücksichtigen sein, in welcher Form die Rechtserzeugung in der betroffenen Rechtsordung erfolgt.
Bereits im römischen Recht wurde von den Juristen diskutiert, was eine Regel ausmache. So schreibt der Spätklassiker Paulus in D. 50, 17, 1 (16 ad Plaut): Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat. per regulam igitur brevis rerum narratio traditur, et, ut ait Sabinus, quasi causae coniectio est, quae simul cum in aliquo vitiata est, perdit officium suum27. Darin sieht ein Teil der Literatur ← 6 | 7 → den Typ der deskriptiven Regel angesprochen, von der sich die normative Regel – wie beispielsweise die regula iuris civilis im Sinne zwingender Formvorschriften28 – unterscheiden lasse29. Dem wurde allerdings entgegengesetzt, dass der Konjunktiv (non sumatur … fiat) lediglich eine Mahnung ausdrücke, nicht aber einen Zustand30. Paulus drücke damit lediglich den Wunsch aus, dass eine regula nicht übermäßig erweitert oder stets starr angewendet werde, sondern der lebendige Kontakt zu den individuell-konkreten Problemen des juristischen Alltags erhalten bleibe31.
Im Mittelalter hatte die Herausstellung von allgemeinen Sätzen in erster Linie die Funktion, die Masse des im Corpus Iuris enthaltenen Rechtsstoffes zu bewältigen. Dabei wurde – insbesondere auch zu Lehrzwecken – abstrakt beschrieben, was in den einzelnen Texten kasuistisch vorgefunden wurde. Diese Zusammenfassung ermöglichte es, die Wertungen aufzuspüren, die hinter den Entscheidungen der Juristen stehen32. Eine solche Gewinnung ← 7 | 8 → von regulae iuris war nach Bezemer33 überhaupt primäres methodisches Anliegen der mittelalterlichen Jurisprudenz.
In einer schematischen Unterscheidung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus kann einerseits die innere Gerechtigkeit eines Prinzips oder andererseits die formale Normierung desselben als Grund seiner Zugehörigkeit zu einer Rechtsordnung gesehen werden: Nach der naturrechtlichen Lehre führt die einem Prinzip innewohnende Gerechtigkeit automatisch dazu, dass es zum Bestandteil des geltenden Rechts werde. Demgegenüber verlangt der Rechtspositivismus, dass der Gesetzgeber das Prinzip ausdrücklich oder zumindest implizit normiert, andernfalls komme ihm keine Wirkung zu34.
In der Diskussion zum geltenden Recht wird allgemein angenommen, das Prinzip unterscheide sich von der Regel dadurch, dass Prinzipien bloße Leitlinien der Gesetzgebung seien, die dann rechtsverbindliche Regeln schaffen soll, die sich an diesen Leitlinien orientieren35; bei Alexy sind Prinzipien so weit verstanden, dass sie „aufgrund ihres hohen Generalitätsgrades … nicht unmittelbar zur Begründung einer Entscheidung verwendbar“ sein sollen36. Es lässt sich allerdings feststellen, dass auch Prinzipien von der Rechtssprechung unmittelbar zur Anwendung gebracht werden. Esser sieht in Prinzipien überhaupt das Produkt richterlicher Entscheidungspraxis (allerdings als „Entdeckung“, nicht als Rechtsschöpfung37), während Dworkin als besonderes Unterscheidungsmerkmal hervorhebt, dass der Richter gegenläufige Prinzipien gegeneinander abwiegen könne, während bei Regeln immer eine der anderen derogiere38.
Ramos Pascua unterscheidet die integrierende (zur Ausfüllung von Gesetzeslücken), interpretierende (für die Erfassung des Sinngehalts einer Norm) und programmierende (als Vorbild der Gesetzgebertätigkeit) Funktion von Prinzipien; sie bilden gewissermaßen das Skelett einer Rechtsordnung39. Er bezeichnet den Einsatz von Prinzipien durch Rechtsanwender als „einen Akt der ‚Autointegration‘ und der ‚Heterointegration‘ zugleich“, da „bereits im positiven Recht eingewobene Elemente zur Anwendung“ gebracht und gleichzeitig ← 8 | 9 → „Fremdbestandteile“ integriert würden, die „ethisch-politischen Wertungen“ entsprüngen40. Canaris versteht das System allgemeiner Prinzipien, aus denen bei Fehlen normativer Regelungen deduziert werden könne, als Zusammenspiel teils auch widersprüchlicher Argumente, die durch Unterprinzipien und Einzelwertungen konkretisiert würden41.
Die konkrete Einzelregel ist generell von Prinzipien bestimmt; das kann nach F. Bydlinsky ein eigenständiges Prinzip oder auch eine Prinzipienkombination sein, die ihrerseits aus einander verstärkenden oder auch einschränkenden Prinzipien besteht42. Insbesondere im österreichischen Privatrecht ist in § 7 ABGB43 ein Rückgriff auf die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ auch ausdrücklich normiert.
Prinzipien sind oftmals sprichwörtlich formuliert und treten, wie zuletzt Wacke aufgezeigt hat, mit „sprachlich einprägsamer Eleganz“44 auf. Die Vollständigkeit hingegen ist kein Qualifizierungsmerkmal. Der Begriff „Parömie“ weist gemäß seines Wortsinnes darauf hin, dass unausgesprochen ein über den bloßen Wortlaut hinausreichender Sinn umfasst ist. Auch die metonymische Bedeutung ist aber nicht alleiniges Charakteristikum des sprichwörtlichen Prinzips; vielmehr geht es um die Volksläufigkeit. Wacke kommt zu der Erkenntnis, dass historisch überlieferte, sprichwörtliche Prinzipien zu einer europäischen Rechtsangleichung beitragen können, insbesondere in der sprachlich prägnanten Vermittlung eines Rechtssatzes, der zündenden „Wiedergabe einer ← 9 | 10 → juristischen Einsicht von der Evidenz eines Aphorismus“45. Nur, wenn „eine inhaltlich überzeugende Sachaussage sprachlich in eleganter Form“46 auftrete, könne ein solcher Aphorismus entstehen, daher seien modernen Gesetzen vergleichbar präzise Regeln die Ausnahme, hingegen auslegungsbedürftige Maximen häufig47.
Hausmaninger wies darauf hin, dass auch eine regula des römischen Rechts als Generalisierung und Abstraktion zwar aus der Kasuistik hervorgegangen sei, jedoch ein Eigenleben entfaltet und stark auf alle folgende Rechtsfindung ausgestrahlt hat. Eine Ausnahme zerstörte die Regel nicht; diese blieb vielmehr weiterhin ein bedeutendes dogmatisches Element. Er spricht von einem „Kräfteparallelogramm …, dessen Komponenten Rechtssicherheit und Fallgerechtigkeit, Regel und Ausnahme, oder Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung heißen“48.
Gelegentlich bloß als „sprachlicher Putz“ abgekanzelt, haben die sprichwörtlichen Rechtsprinzipien neben der Legitimierung von Lösungen auch den nicht zu unterschätzenden Wert der internationalen Kommunikation unter Juristen. Darauf hat Mader erst kürzlich wieder aufmerksam gemacht: Die gängigen lateinischen Rechtsprinzipien „… versteht auch der Jurist in Lissabon oder London. In ihrer kurzen und prägnanten Form dokumentieren solche Sätze bestimmte Rechtsgedanken und Prinzipien, die ansonsten nur mit weit ausholenden Beschreibungen darzustellen wären“49.
Seit Riezlers Ausführungen gab es keine monographische Darstellung zum Verbot des venire contra factum proprium mehr, die sich vergleichbar eingehend mit den historischen Wurzeln dieses Grundsatzes beschäftigt hätte. Überhaupt schenkte die deutschsprachige Literatur der Entwicklung des noch heute geläufigen, in manchen Rechtsordnungen sogar zentralen Rechtssprichwortes keine große Aufmerksamkeit.
Ausdrücklich weist etwa Dette auf sein Erkenntnisinteresse hin, zu dem die Entwicklung des Grundsatzes gerade nicht zählt: „Ziel dieser Arbeit ist also nicht die Erforschung der Geschichte des das Prinzip des venire contra factum ← 10 | 11 → proprium ausdrückenden Rechtssatzes, sondern dessen aktuelle Geltung“50. Diese Beschränkung kritisierte bereits Wieling in seiner Rezension von Dettes Werk: „Bedauerlich … ist es, daß der Verfasser auf eine Untersuchung zur Geschichte der Rechtsfigur verzichtet hat; sie hätte ihm manche Möglichkeit zu deren Verständnis bieten können“51. Auch Singer erwähnt diese Kritik Wielings an Dettes Vorgehensweise, entschließt sich aber dennoch ebenfalls zur Ausklammerung dieser Fragestellung: „Rechtsphilosophische, rechtssoziologische, aber auch rechtshistorische Bezüge müssen weitgehend unberücksichtigt bleiben“52. Griesbeck weist auf nur vier Seiten im Zusammenhang mit den „historischen Grundlagen“ auf das römische Recht hin, wobei davon wiederum die Hälfte dieser Ausführungen ganz allgemein von der exceptio doli handelt. Als Quellen des römischen Rechts zum venire contra factum proprium werden lediglich D. 8, 3, 1153; D. 1, 7, 2554 und D. 21, 3, 1, 555 abgedruckt und mit einigen wenigen Worten paraphrasiert56.
Einschlägig sind hingegen einige fremdsprachige Sammelbuchbeiträge: So etwa ein Aufsatz von Procchi, der zwar in erster Linie die spätere deutsche Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet behandelt, jedoch auch einige Stellen zum römischen Recht bespricht (insbesondere fasst er die bei Riezler besprochenen Themenbereiche in einer Übersicht zusammen) und die Tradition im ius commune beleuchtet57. Für das Kapitel „Mater familias quasi sui iuris vixerat“58, aber auch zum Thema der allgemeinen Rechtsgrundsätze in den europäischen Rechtsordnungen interessant ist außerdem ein rezent erschienener Beitrag Ceramis59.
Die mangelnde Auseinandersetzung mit venire contra factum proprium durch Romanisten bedauert etwa Gutiérrez-Masson60, obwohl sich gerade die spanischsprachige Literatur zum geltenden Recht vergleichsweise häufig des Rückgriffs auf die Geschichte des Rechtsinstituts bedient61. Wenngleich ← 11 | 12 → dem Titel nach nicht mit einer vertieften Auseinandersetzunge mit der historischen Entwicklung zu rechnen ist, bietet hier insbesondere Díez-Picazo in seiner Monographie zur „Jurisprudencia del Tribunal Supremo“ einen guten Einblick in die Quellen62. Während er sich stark an Riezler orientiert, folgen daraufhin Borda63 und Ekdahl-Escobar64 sowie zuletzt Jaramillo Jaramillo65 ihrerseits weitgehend der Darstellung Díez-Picazos.
Bereits in der Vergangenheit kritisiert wurde, dass Riezler sich auf das Gebiet des Zivilrechts beschränkt und es unterlassen hat, auch das öffentliche Recht zu „durchforsten“66; deswegen beleuchteten auch seine „Studien“ nur einen Ausschnitt des Anwendungsbereiches.
Selbst im Bereich des Zivilrechts sind aber nicht nur in den vergangenen mehr als einhundert Jahren rechtshistorischer Forschung zu den einzelnen relevanten Texten viele neuere wissenschaftliche Erkenntnisse erzielt worden, ← 12 | 13 → sondern es hat sich auch an Forschungsfragen und Methoden einiges verändert; man denke nur an die heute als problematisch angesehene „Interpolationenjagd“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren Abflauen67.
Riezlers Vorgehensweise unterscheidet sich grundlegend von dem für die vorliegende Arbeit entwickelten Aufbau. Während Riezler eine assoziative Auswahl passend erscheinender dogmatischer Figuren erstellte, folgt die Struktur dieser Abhandlung einer für das Thema grundlegenden Rechtsquelle: den legistischen Brocardica aurea, welche Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts zusammengestellt und in der Folge unter dem Namen Azos Eingang in mehrere Druckausgaben gefunden haben.
Um eine sinnvolle Abgrenzung bei der Untersuchung dieses Gegenstandes zu finden, bietet sich diese Strukturierung an; durch eine Untersuchung der hier angeführten Quellen soll einerseits die Idee der mittelalterlichen „Erfinder“ (man könnte auch sagen „Entdecker“) dieses Grundsatzes sichtbar und gleichzeitig die Plausibilität für das als Haupterkenntnisquelle herangezogene (antike) römische Recht ergründet werden. In einem letzten Schritt können auf dieser Grundlage allgemeine Überlegungen zur Rechtsnatur des Satzes und damit auch der Einordnung für das geltende Recht angestellt werden.
Bislang wurde solch eine Aufarbeitung für keines der sprichwörtlichen Rechtsprinzipien vorgenommen, obwohl die Brocardica immer wieder als Ursprung von noch heute relevanten Parömien genannt werden68. Das Wesen der Brocardica als Literaturgattung des gelehrten Rechts und damit die Arbeitsweise der Glossatoren ist daher zunächst in Grundzügen zu erörtern; sodann werden aufgrund der „Vorgabe“ der Brocardicastelle einerseits Texte aus allen Teilen des Corpus Iuris Civilis behandelt, somit Quellen aus allen Bereichen des klassischen und nachklassischen Rechts, und andererseits, wenn auch in sehr viel geringerem Ausmaß, Stellen aus dem Decretum Gratiani berücksichtigt. Diese Zersplitterung der Themen verlangt jeweils eine Einführung in das Rechtsgebiet, auf deren Basis die Exegese der konkreten Stelle erfolgen kann, die ihererseits in einer Untersuchung des in ihr enthaltenen Selbstwiderspruches gipfelt.
Der Fokus liegt darauf, die dogmatischen Wurzeln des Rechtsgrundsatzes zu beleuchten. An welche Fälle war ursprünglich gedacht? Welche Rechtsgebiete sind betroffen? Welche Abgrenzungskriterien wurden festgelegt? Das ← 13 | 14 → sind die Fragen, die vornehmlich gestellt werden und für deren Aufarbeitung die Brocardica den Rahmen bieten. Die Natur und Geschichte der Literaturgattung, welche diesen Satz hervorgebracht hat, sind dabei eine Facette, die für das Verständnis der Rechtsnatur des „Verbots“ und seines Ursprungs wesentlich ist.
Betont sei, dass in der vorliegenden Arbeit keine kritische Edition des Textes der Brocardica vorgenommen wird. Eine neue Herausgabe des Textes der Brocardica aurea wäre auch für die Nachvollziehbarkeit anderer noch heute nutzbar gemachter Abstrahierungen aus der kasuistischen Literatur des römischen Rechts hilfreich und bleibt weiterhin ein Desiderat69; bis dahin muss in erster Linie auf die (verbesserungsbedürftige)70 Standardausgabe zurückgegriffen werden, die im Band IV des Corpus Glossatorum Iuris Civilis der Ausgabe Turin 1967 enthalten ist.
Die Behandlung der Argumente ist nicht immer gleich dicht, sondern es wird auf jene Texte der Schwerpunkt gelegt, die als Grundlage des Rechtsprinzips und für dessen Rezeption besonders wichtig erscheinen.
1 Der Schlussteil lautet statt „nulli conceditur“ mitunter auch „non valet“ oder „nemini licet“, bzw. wird der Grundsatz teilweise auch überhaupt anders formuliert, wie etwa „Factum proprium nemo impugnare potest“. Meist spricht man jedoch lediglich von „Venire contra factum proprium“ und unterschlägt die eigentliche Verhaltensanforderung.
2 Ein Verhalten, das „an sich“ nicht rechtswidrig wäre, ist in einer solchen Konstellation verboten: Mithilfe des Grundsatzes vom Verbot des Selbstwiderspruchs soll also die Rechtslage „korrigiert“ werden. Siehe Singer, Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993) 5, der ebd. auch untergliedert in a) die Folge des Rechtsverlustes, wenn einem Gläubiger die Berufung auf ein Recht verwehrt wird und b) die Folge der Rechtsbegründung, wenn ein Schuldner sich auf Wirksamkeitshindernisse, Einwendungen und Einreden, bzw. sogar das gänzliche Fehlen eines Verpflichtungstatbestandes, nicht mehr berufen darf.
3 Eine kleine Auswahl aus der reichen Literatur zum estoppel-Prinzip: Youakim, Estoppel (2004); Barnett, Res iudicata (2001); Fauvarque-Cossin, Estoppel, in: L’interdiction (2001) 3 ff; Spence, Protecting reliance (1999); Friedl, Consideration (1994); Martin, Estoppel (1979); Staehelin, Estoppel (1955).
Auch auf europäischer Ebene findet das Thema aktuell Behandlung: Siehe Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht (2016) insbes. 261 ff u. zuvor für einen Teilbereich bereits Halfmeier, Opt-out, GPR 2005, 184 ff.
4 Mader, Rechtsmißbrauch (1994) 19; ders., Gl. zu 2 Ob 214/11a, Wbl 2013/100, 282; ders., Venire, in: FS Fenyves (2013) 257 ff (ebd. findet sich eine Gegenüberstellung der deutschen und österreichischen Behandlung des Themas in Judikatur und Literatur). Im Zusammenhang mit dem Abbruch von Vertragsverhandlungen wurde es jedoch mehrfach diskutiert (siehe etwa bereits Ostheim, Culpa in contrahendo, JBl 1980, 577 (unter cc. Verschuldenshaftung); F. Bydlinsky, Kontrahierungszwang, in: FS Klecatsky (1980) 140; Koziol, Haftpflichtrecht 2² (1984) 76 f sowie rezenter Machold, Schadenersatzrechtliche Folgen (2009) 83 f u. Lukas, Abbruch, I in: JBl 2009, 751 ff, II in: JBl 2010, 23 ff). Auch bei geschäftsplanmäßigen Erklärungen des Versicherers dachte man über eine Heranziehung nach; hier wurde die Anwendbarkeit jedoch ebenso verneint (siehe Steiner, Zivilrechtliche Ansprüche, ÖJZ 1986, 674 f) wie bei der Verjährung von Schadenersatzansprüchen aus fehlerhafter Anlageberatung (vgl. Kletečka/Holzinger, Verjährung, ÖJZ 2009, 637 ff). Überhaupt spricht sich die überwiegende österreichische Lehre tendenziell dafür aus, dass widersprüchliches Verhalten nur dann von der Rechtsordnung unerwünscht sei, wenn ein Vertrauen enttäuscht wird, dessen Schutz die Rechtsordnung vorsieht. Es sei nur der objektive Erklärungswert des Erstverhaltens, nicht aber der Selbstwiderspruch an sich entscheidungsrelevant. Diskutiert wurde die Frage schließlich auch im Zusammenhang mit der Frage, ob ein freier Dienstnehmer bzw. Werkvertragsnehmer, der den Abschluss eines Arbeitsvertrages selbst verweigerte, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen vorlagen, sich später zu seinem Vorteil (etwa um im Insolvenzfall Zahlungen aus dem Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds zu erlangen) auf seine Arbeitnehmereigenschaft berufen könne. Der OGH lehnte hier eine Übertragung der Entscheidungen zur deutschen Rechtslage auf die österreichische ab und ordnete lediglich eine rückwirkende Entgeltkorrektur mittels condictio an. Eine Missbrauchsschranke bei der Ausübung subjektiver Rechte als Ausdruck des Verbots des venire contra factum proprium lasse sich zwar mit §§ 1295 Abs 2 iVm 1305 ABGB begründen, diese erreiche aber nicht das Ausmaß des § 242 BGB im deutschen Recht (bzw. Art. 2 schweizer ZGB). Darüber hinaus müsse der Vertrauende – anders als nach deutschem Recht – nach österreichischer Rechtslage aufgrund seines Vertrauens bereits Dispositionen getroffen haben (siehe OGH 8 Ob A 49/07z und dazu die Gl. von Schauer in: ZAS 2010/52). Rezent beschäftigte sich der OGH wieder mit der Frage nach der Zulässigkeit von widersprüchlichem Verhalten und ging erstmals umfassender inhaltlich darauf ein: venire contra factum proprium sei lediglich ein Tatbestand des Rechtsmissbrauches, der auf Vertrauensschutzüberlegungen beruhe. Ein subjektives Recht dürfe man nämlich nur dann nicht mehr ausüben, wenn man bei jemandem das schutzwürdige Vertrauen hervorgerufen hat, dass das Recht nicht (mehr) zusteht bzw. nicht ausgeübt wird und der andere im Vertrauen darauf Dispositionen getroffen hat – dann sei die Ausübung dieses Rechts nämlich sittenwidrig iSd § 879 Abs 1 ABGB (siehe 2 Ob 214/11a und dazu die Gl. von Mader in: Wbl 2013/100282. Siehe auch Mader, Venire, in: FS Fenyves (2013) 258 f u. 267 f). Zum venire contra factum proprium im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Problemstellungen vgl. zuletzt Beiser, Rechtsstaatsprinzip, RdW 2016/102, 137.
5 Bereits zu Beginn des 20. Jh. verfasste Rundstein (angeregt durch die sogleich näher zu besprechende Abhandlung Riezlers) eine rechtsvergleichende Studie zum französischen Recht: Rundstein, Widerspruch, AbR 43 (1919) 319 ff. Etwa Houtcieff, Cohérence, 2 Bde (2001) griff das Problem erneut auf.
6 Griesbeck, Venire (1978); Dette, Venire (1985); Singer, Verbot (1993); Wieling, Venire, AcP (1976) 334 ff; Stocks, Verwirkung (1939). Es spielt auch eine Rolle bei Canaris, Vertrauenshaftung (1971), insbes. handelt hier der zweite Abschnitt des zweiten Kapitels von der „Vertrauenshaftung kraft widersprüchlichen Verhaltens“ (287 ff). Außerdem wird das Problem in den Gesetzeskommentaren zu § 242 BGB diskutiert – so etwa Grüneberg in: Palandt, BGB74 (2015), § 242 Rn 55 ff; Roth/Schubert in: MüKo7 (2015), § 242 Rn 255 ff oder Looschelders/Olzen in: Staudinger, BGB (2015), § 242 Rn 286 ff.
7 Bruns, Venire, JZ 11 (1956) 147 ff.
8 Kreibich, Treu und Glauben (1992).
9 Lehmann, Enthaftung, ZHR 79 (1916) 57 ff.
10 Baumgärtel, Treu und Glauben, ZZP 69 (1956) 89 ff (insbes. 119 ff).
11 Festi, Venire (2007); Maffeis, Forma, Giust. civ. 2005, 1938 ff; Scarso, Venire, Resp. civ. e prev. 74 (2009) 513 ff; Scalese, Coerenza (2000); Astone, Venire (2006).
Details
- Seiten
- XVI, 515
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783631717158
- ISBN (ePUB)
- 9783631717165
- ISBN (MOBI)
- 9783631717172
- ISBN (Hardcover)
- 9783631717141
- DOI
- 10.3726/b10795
- Open Access
- CC-BY
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (Februar)
- Schlagworte
- Selbstwiderspruch Widersprüchliches Verhalten Brocardica Regula Konvaleszenz Exceptio doli
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. XVI, 515 S.