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Die Logik der Wirtschaftsreformen Chinas

von Xiaojing Zhang (Autor:in) Xin Chang (Autor:in)
©2022 Monographie XVI, 308 Seiten

Zusammenfassung

Im vorliegenden Buch wird ein Rückblick auf den Wirtschaftsreformprozess Chinas seit 40 Jahren geworfen. Die Ausgangssituation, die schrittweise Verbesserung der marktwirtschaftlichen Struktur und der neue Reformkurs im „tiefen Wasser“ werden dargestellt und analysiert. Die zugrundeliegende Logik der Wirtschaftsreformen Chinas wird dadurch ans Licht gebracht. Erstens erweisen sich Reformen als zyklische Entwicklungen. Die Reformen, die zu Anfang sehr schnell vorangingen, unterliegen einer zunehmenden Stagnation, weshalb ein breiter Konsens für die Reformen zu finden ist. Zweitens bilden die Wirtschaftsreformen eng mit anderen Reformen ein zusammenhängendes System, das einheitlich vorangetrieben werden muss. Drittens unterscheidet sich das dreidimensionale ganzheitliche Konzept, das Reform, Entwicklung und Stabilität vereint, sehr von den westlichen Mainstream-Wirtschaftslehren, die ihren Akzent auf Produktivität und Leistungsfähigkeit setzen. Viertens entspricht die Reformpraxis Chinas den theoretischen Ansätzen. Damit gehen Chinas Reformen weit über die Debatte hinaus, ob es sich dabei um graduelle oder radikale Reformen handelt. Fünftens steht der Leitgedanke, das „Top-Level-Design“ mit dem Prinzip, „nach den Steinen tastend den Fluss zu überqueren“ zu verbinden, im Vordergrund. Sechstens müssen die Reformen fortgesetzt werden, und zwar im globalen Reformwettbewerb. Angetrieben von der Zielvorstellung, das sozialistische System hochzuhalten, steht China fest zu seinem Reformvorhaben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Einführung
  • 1 Beginn der Reformen
  • 1.1 China und die Welt um 1980
  • 1.2 Ausgangssituation und Reformoptionen
  • 1.3 Der Reformweg: Vereinbarkeit von Praxis und Theorie
  • 1.4 Weisheiten der Reformen: „Kantenball spielen“ und „Nach den Steinen tastend den Fluss überqueren“
  • 2 Nach den Steinen tastend den Fluss überqueren
  • 2.1 Reforminitiative: Von ländlichen Gebieten zu Städten
  • 2.2 Reformen der Unternehmen und Entwicklung der nicht-gemeineigenen Wirtschaft
  • 2.3 Das zweigleisige Preissystem und der Versuch eines preispolitischen Durchbruchs
  • 3 Ganzheitliche Förderung der Reformen
  • 3.1 Plan vs. Markt
  • 3.2 Kombination von Sozialismus und Marktwirtschaft
  • 3.3 Ganzheitliche Förderung der Reformen
  • 4 Entwicklung der offenen Wirtschaft
  • 4.1 Hintergrund und Entwicklungstrends der wirtschaftlichen Globalisierung
  • 4.2 Auftakt der Öffnung nach außen
  • 4.3 Ein entscheidender Schritt zur wirtschaftlichen Öffnung: Chinas Beitritt zur WTO
  • 4.4 Chinas Erfahrung im Öffnungsprozess: Graduelle und planmäßige Öffnung
  • 4.5 Neue Entwicklungstrends der offenen Volkswirtschaft
  • 5 Institutionelle Reformen der Makrosteuerung
  • 5.1 „Von China die Makrosteuerung lernen“
  • 5.2 Makrosteuerung chinesischer Prägung
  • 5.3 Institutionelle Reformen der Makrosteuerung im Einklang mit der konzeptionellen Ideengeschichte
  • 5.4 Grundlogik der institutionellen Reformen der Makrosteuerung
  • 6 Systemwandel und neue Entwicklungsformen
  • 6.1 Entwicklung als Zielausrichtung der Reformen
  • 6.2 Weiterentwicklung des Begriffsinhalts der „Entwicklung“ und Sublimation der neuen Konzeption der „Reform“
  • 6.3 Enge Verbindung zwischen wirtschaftspolitischen Innovationen und Innovationen der Entwicklungsmodelle
  • 7 Chinas Reformen aus globaler Sicht
  • 7.1 Grunderfahrung der graduellen Reformen Chinas
  • 7.2 Radikale Umwälzung des Ostblocks und deren Konsequenzen
  • 7.3 Weshalb ist die Schocktherapie misslungen?
  • 7.4 Kritische Betrachtung der graduellen Reformen
  • 8 Reformen im „tiefen Wasser“
  • 8.1 Reformen im „tiefen Wasser“ mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad
  • 8.2 Der wirtschaftspolitische Aspekt der Reformen
  • 8.3 Top-Level-Design und Überbau-Ansatz als kostbare Erfahrung Chinas
  • 8.4 Das Top-Level-Design in Verbindung mit dem Prinzip „Nach den Steinen tastend den Fluss zu überqueren“
  • 8.5 Ingangsetzung der umfassenden Reformen
  • 9 Bessere Erfüllung der Regierungsaufgaben: Umgestaltung der Regierungsfunktionen
  • 9.1 Verzerrungen des Regierungsverhaltens
  • 9.2 Korrektur des mikroökonomischen Verhaltens der lokalen Regierungen durch Neuregelungen von steuerlichen Anreizen
  • 9.3 Beseitigung des gewinnorientierten Verhaltens der lokalen Regierungen durch Entkopplung von Finanzeinnahmen und Bodenbewirtschaftung
  • 9.4 Verbesserung der öffentlichen Verwaltung und Stärkung des gemeinwohlorientierten Handelns der Regierung
  • 9.5 Zulassung von mehreren Anbietern der öffentlichen Dienstleistungen
  • 10 Entfaltung der entscheidenden Rolle des Marktes: Reformen in Schlüsselbereichen
  • 10.1 Drei Erkenntnissprünge über die Rolle des Marktes
  • 10.2 Die Reformen des behördlichen Genehmigungssystems
  • 10.3 Die gemischte Wirtschaftsform und die Reformen von Staatsunternehmen
  • 10.4 Die Reformen des Fiskal- und Steuersystems
  • 10.5 Die Reformen des Finanzsystems
  • 10.6 Die Bodenordnungsreformen
  • 10.7 Die Reformen des Huji-Systems
  • 11 Schlusswort: Ein Neustart nach 40-jähriger Reformpraxis
  • 11.1 Das ,,mehrfache Gleichgewicht“ zwischen Reform und Öffnung
  • 11.2 Von inkrementellen Reformen bis hin zu Bestandsreformen
  • 11.3 Umstrukturierung der Regierung: von Ressourcenallokationen bis hin zum Regieren des Landes
  • Literaturverzeichnis
  • Zu den Autoren
  • Index

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Einführung

1978 wurden die Wirtschaftsreformen in China eingeleitet. Inzwischen sind über 40 Jahre vergangen und ein weltweit beachtenswertes Wachstumswunder wurde erzielt. 2013 verabschiedete das 3. Plenum des XVIII. Zentralkomitees (ZK) der KP Chinas den Beschluss des ZK der KP Chinas über einige wichtige Fragen zur umfassenden Vertiefung der Reformen. Damit erklärte die neue Regierung unter Leitung von Xi Jinping und Li Keqiang der ganzen Welt, dass die Reformen in China erneuert in die Tat umgesetzt werden.

Über die Wirtschaftsreformen Chinas wurde und wird immer noch kontrovers diskutiert. Es ist noch zu früh, um darüber endgültig Rechenschaft abzulegen, aber aus den Reformpraktiken der letzten 40 Jahre sind schon der Entwicklungsweg und die zugrunde liegende Logik klar ersichtlich.

Erstens erweisen sich Reformen als zyklische Entwicklungen. Es lässt sich in China und in anderen Ländern beobachten, dass das politische System eine gewisse Trägheit aufweist und die Reform nur dann stattfindet, wenn es keine anderen Alternativen gibt. Chinas Reformen gegen Ende der 1970er Jahre waren eine Notlösung in der Krisenzeit, als das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben kurz vor dem Kollaps stand. Reformen und Erneuerungen wurden von der ganzen Gesellschaft euphorisch begrüßt, die keine Alternative hatte. Gerade aus dieser außerordentlichen Tatkräftigkeit, Begeisterung und Leidenschaft ←xi | xii→wurden unermessliche Triebkräfte für den Transformationsprozess geschöpft. Allerdings ist die Dynamik der Reformen beinahe erschöpft. Zurzeit wurde ein Tiefstand erreicht, in dem eine Menge drängende Probleme zu überwinden sind. Daher wird von einem Neustart der Reformen gesprochen und davon, dass in der Gesellschaft ein breiter Konsens gefunden werden muss.

Zweitens bilden die Wirtschaftsreformen mit anderen Reformen ein eng zusammenhängendes System, das in gegenseitiger Ergänzung koordiniert und einheitlich vorangetrieben werden muss. Wenn die Wirtschaftsreformen als „Einzelgänger“ voranschreiten, werden sie letztendlich scheitern, auch wenn enorme Vorarbeiten geleistet wurden. Partielle, fragmentierte Teilreformen, die nur bestimmte Bedürfnisse berücksichtigen, geraten oft in Konflikt und können sogar institutionelle Friktionen verursachen. Institutionelle Reformen müssen im Grunde genommen als Ganzheit gestaltet und vorangetrieben werden, andernfalls können hohe Transaktionskosten entstehen. Es ist deshalb notwendig, die Wirtschaftsreformen Chinas im Zusammenspiel mit den politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und ökologischen Reformen zu fördern. Dieses ganzheitliche Reformkonzept aus oben erwähnten fünf Aspekten gilt als richtungsweisend für die neue Phase der umfassenden Reformen.

Drittens ist es von großer Bedeutung, die Beziehungen zwischen Reformen, Entwicklung und Stabilität zu regeln. Da im Transformations- und Entwicklungsprozess Chinas diese drei Ziele als Einheit verfolgt wurden bzw. werden, muss zwar auf hohe Effizienz verzichtet werden (die Reformen gehen zugunsten der Stabilität langsam voran), kann aber ein langfristiges, nachhaltiges Wachstum erzielt werden. Dabei bildet die gesellschaftliche Stabilität die notwendige Voraussetzung für den kontinuierlichen Reform- und Entwicklungsprozess, während dieser im Gegenzug eine solide Basis für die gesellschaftliche Stabilität schafft. Mangelt es an gesellschaftlicher Stabilität, kann von Reformen und Entwicklungen nicht mehr die Rede sein. Außerdem geht das bereits Erzielte möglicherweise verloren. Aufgrund dessen hat sich China für die Politik der graduellen Reformen entschieden, das zweigleisige Preissystem zugelassen, die damit zusammenhängenden Arbitragegeschäfte und Verluste der Leistungsfähigkeit in Kauf genommen, was als Probleme der chinesischen Reformen stark kritisiert wurde. Darüber hinaus sei die Verfestigung der Interessengruppen ebenfalls auf die Unvollständigkeit der Reformen zurückzuführen, so die Kritiker. Wenn man aber den chinesischen Reformkurs mit der „Schocktherapie“ vergleicht, lässt sich feststellen, dass das langfristige, stabile Wachstum in China dem ganzheitlichen Konzept, das Reform, Entwicklung und Stabilität vereint und somit die effektive Umsetzung des Reformplans garantiert, zuzuschreiben ist. Das dreidimensionale ←xii | xiii→ganzheitliche Denken unterscheidet sich sehr von den westlichen Mainstream-Wirtschaftslehren, die ihren Akzent ausschließlich auf Produktivität und Leistungsfähigkeit setzen.

Viertens ist die Vereinbarkeit von Praxis und Theorie die zugrunde liegende Logik. Chinas Reformen sind nicht nach westlichen theoretischen Ansätzen konzipiert, sie orientieren sich eher nach dem Prinzip, dass die Praxis als einziger Maßstab der Wahrheit gilt. Aber es bedeutet nicht, dass den Reformen in China keine theoretische Logik zugrunde liegt, obwohl die theoretischen Auseinandersetzungen meistens der Reformpraxis hinterherhinken und ggf. dadurch revidiert werden. Die Reformpraxis hat gezeigt, dass Chinas Erfolgsgeschichte kein reiner Zufall ist. Strukturwandel der Landwirtschaft, boomende Entwicklung der kommunalen Unternehmen, Reform der Staatsunternehmen, Etablierung der Marktwirtschaft, planmäßige und etappenweise Öffnung der chinesischen Wirtschaft, Errichtung von Freihandelszonen und -häfen … All diese Praktiken, die chinesische Weisheiten offenbaren, können theoretisch begründet werden. Genauer gesagt sind einerseits die besonderen Ausgangsbedingungen – also die chinesischen Gegebenheiten – zu berücksichtigen und andererseits hat China bei der Globalisierung aktiv mitzuwirken und sich internationalen Entwicklungstrends anzupassen. Damit geht die Reformpraxis weit über die Debatte hinaus, ob es sich dabei um graduelle oder radikale Reformen handelt.

Fünftens steht der Leitgedanke, das „Top-Level-Design“ mit dem Prinzip „Nach den Steinen tastend den Fluss zu überqueren“ zu verbinden, im Vordergrund. Es galt in der Anlaufphase, der Volksweisheit gemäß einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen zu gehen, da verschiedene Ideen und Experimente aus Mangel an klar ausgearbeiteten Reformplänen und praktischen Erfahrungen versuchsweise ausprobiert werden mussten und das Top-Level-Design nur begrenzt zur Geltung kam. Mit der Fortentwicklung der Reformen, die sich gegenwärtig im „tiefen Wasser“ befinden, gewinnt das Top-Level-Design jedoch an Bedeutung. Eine Gesamtplanung auf höchster Ebene, die u. a. theoretische Vorarbeiten, Ausführungspläne sowie Mechanismen der Reformen umfasst, ist notwendig, da einzelne Versuche an der Basis, die auf lokale Bedürfnisse maßgeschneidert sind, Probleme wie die Fragmentierung der Reformen und fehlende Koordinierung und Systematisierung verursachen können. In dieser Hinsicht darf das Prinzip „Nach den Steinen tastend den Fluss zu überqueren“ nicht aufgehoben werden. Die Verhältnisse im heutigen China sind so kompliziert, dass man tastend neue Wege erkunden und neue Erfahrungen sammeln muss (beispielsweise Mischbesitz und Reformen von Staatsunternehmen). Bei großen, schwierigen Reformvorhaben sollten bahnbrechende Experimente an einzelnen Standorten unterstützt ←xiii | xiv→werden, wenn die dortigen Bedingungen reif sind, sodass Risiken und Auswirkungen begrenzt und kontrollierbar sind.

Sechstens müssen die Reformen fortgesetzt werden, und zwar im globalen Reformwettbewerb. Die Reformen verstehen sich als unaufhaltsame Daueraufgaben. Diese Aussage betrifft nicht nur China, in dem die institutionellen Rahmenbedingungen unvollkommen bzw. unvollständig sind, sondern auch Länder wie die USA, in denen die Marktwirtschaft schon voll entwickelt ist. Weltweit gesehen wird der Systemwettbewerb mit dem zusammenhängenden Reformwettbewerb zur Ausschöpfung der institutionellen Überlegenheit eine internationale Normalität sein. Anhand institutionenökonomischer Erklärungsansätze sind Veränderungen des internen und externen institutionellen Rahmens möglich, indem die regelsetzenden Staaten einerseits passiv auf den internationalen Handel und die Abwanderung von mobilen Produktionsfaktoren reagieren und andererseits aktiv ihre Rechts- und Verwaltungsordnungen verbessern, um auf dem Markt wettbewerbsfähig zu sein und die Wirtschaftsakteure zu mobilisieren. Die Nationalstaaten treten sozusagen durch die Globalisierung in „Systemwettbewerb“1 zueinander. Noch zu erwähnen ist, dass Schlüsselwörter wie Wiederausgleich, strukturelle Anpassungen und Erneuerungen der globalen Entwicklung seit der Finanzkrise 2008 das Gepräge geben. Während China auf dem 3. und 4. Plenum des XVIII. ZK der KP Chinas einen Gesamtplan für die chinesischen Reformen ausarbeitete, haben die USA, die europäischen Länder und Japan auch strukturelle Reformpläne und langfristige Wachstumsstrategien kundgegeben. Der Reformwettbewerb ist in Gang gesetzt worden.

Die Regierungsfähigkeit eines Staates lässt sich daran messen, ob der Staat die Reformen kontinuierlich vorantreiben kann. In Reflexionen über die Französische Revolution vertritt Edmund Burke die Meinung, dass ein Staat, der nicht imstande sei, sich zu erneuern, ebenfalls nicht dazu fähig sei, etwas zu bewahren. Ohne diese Fähigkeiten laufe der Staat Gefahr, das Wertvollste seines Systems zu verlieren.2 Diese Aussage trifft auf China zu: Ziel der chinesischen Reformen ist, das Wesentliche des Sozialismus zu bewahren, woraus sich die fundamentalen Treibkräfte für die Reformen ergeben.

Vor dem Hintergrund des globalen System- und Reformwettbewerbs die eigenen Reformen fortzusetzen, ist sozusagen die wichtigste Logik der chinesischen ←xiv | xv→Reformen. Bereits in den 1980er Jahren erkannte Deng Xiaoping die fundamentale Bedeutung der Reformen für eine nachhaltige Entwicklung Chinas in den kommenden zehn Jahren und der ersten Hälfte des kommenden Jahrhunderts. Er meinte, dass es ohne Reformen keine nachhaltige Entwicklung gäbe und dass man die Reformen nicht in drei oder fünf Jahren, sondern erst in 20 Jahren oder sogar in den ersten 50 Jahren des 21. Jahrhunderts bewerten dürfe. Daran müsse man mit Entschlossenheit herangehen.3

←xvi | 1→

1

Beginn der Reformen

Als auf dem 3. Plenum des XI. ZK der KP Chinas ein Weckruf nach Reformen artikuliert wurde, hatte die chinesische Regierung noch kein klares Konzept über deren Ausgestaltung. Selbst Deng Xiaoping, der als „Planer der Reformen“ in China gewürdigt wird, hatte sein „Top-Level-Design“ noch nicht zusammengestellt. Die Reformen wurden ohne Vorlagen initiiert, so wie der Regisseur Wang Jiawei (王家卫) seine Filme ohne Drehbücher produziert. Aber gerade von diesen tastenden Versuchen hat man in China viel profitiert.

Blickt man jetzt auf den Ausgangspunkt der Reformen zurück, lässt sich Folgendes feststellen: Als der Reformprozess in China eingeleitet wurde, stand die chinesische Gesellschaft, die die zehn Jahre lange Kulturrevolution hinter sich hatte, kurz vor dem Zusammenbruch. Im selben Zeitraum durchliefen die entwickelten Volkswirtschaften die Phase der „Stagflation“, bis Ronald Reagan und Margaret Thatcher versuchten, durch Liberalisierungen die gesellschaftlichen Konflikte zu lösen. Zu beobachten war auch, dass Unterströmungen der Globalisierungswelle immer mehr an Dynamik gewannen, um in den kommenden 20 Jahren die ganze Welt zu stürmen. China hat dieses Mal geschafft, den Zug der Globalisierung zu erreichen und sich den globalen Reformen anzuschließen. Die Reformen, die Ende der 1970er Jahre ansetzten, haben China grundlegend verändert.←1 | 2→

1.1 China und die Welt um 1980

Ende der 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre war „Reform“ weltweit ein wichtiges Schlüsselwort. Im Osten begann China mit Marktreformen, die fundamentale Veränderungen mit sich brachten, während im Westen der Liberalisierungsprozess, der von Reagan und Thatcher in die Wege geleitet wurde, in vollem Gange war. Im selben Zeitraum liefen Reformen in vielen anderen Staaten an. Laut Martin Feldstein erlebte die nationale Wirtschaftspolitik in den 1980er Jahren auf der ganzen Welt eine grundlegende Änderung, die jedoch etwas Gemeinsames hatte, nämlich die Rolle der Regierung im wirtschaftlichen Leben zu schwächen. Diese Wandlung vollzog sich in den USA, in China, in Lateinamerika von Chile im Süden bis nach Mexiko im Norden, in England, in Osteuropa sowie in der Sowjetunion.1

Zurückblickend kann man sagen, dass die ersten Anzeichen des internationalen Reformwettbewerbs damals bereits zu sehen waren. Die westlichen Länder, deren goldener Ära mit hohem Wachstum durch die Ölkrise ein Ende gesetzt wurde, mussten sich knapp zehn Jahre lang mit der Stagflation abfinden. Um das zu ändern, waren strukturelle Reformen erforderlich. Für China, das die folgenschwere Kulturrevolution erlebt hatte, waren Reform und Öffnung ebenfalls der einzige Ausweg. 40 Jahre später muss man leider feststellen, dass die geschichtliche Entwicklung gewisse Ähnlichkeiten hat: Die von der globalen Finanzkrise getroffenen Nationalstaaten befassen sich erneuert mit den Aufgaben des Wiederausgleichs und der strukturellen Anpassung. Der internationale Reformwettbewerb ist in Gang gebracht worden.

Details

Seiten
XVI, 308
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9781433170638
ISBN (ePUB)
9781433170645
ISBN (MOBI)
9781433170652
ISBN (Hardcover)
9781433170621
DOI
10.3726/b15766
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Erschienen
New York, Bern, Berlin, Bruxelles, Oxford, Wien, 2022. XVI, 308 S., 2 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Xiaojing Zhang (Autor:in) Xin Chang (Autor:in)

Prof. Dr. Zhang Xiaojing ist Direktor des Forschungsinstituts für Finanzen und Bankwesen der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften. Außerdem ist er Direktor der Nationalen Institution für Finanzen und Entwicklung und Mitglied des akademischen Kreises „Chinese economy 50 Forum“. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a. „Finanz- und Realwirtschaft: Wirtschaftsanalyse vor dem Hintergrund der finanzwirtschaftlichen Globalisierung“ (2002) und „Nationle Bilanz Chinas 2018“ (Mitautor). Er erhielt 2005 und 2007 den „Sun Yefang-Preis für Wirtschaftswissenschaft“, 2014 den „Sun Yefang-Preis für finanzwirtschaftliche Innovationen“, im selben Jahr noch den „Preis für Geistes- und Sozialwissenschaften“ und 2016 den „Zhang Peigang-Preis für Entwicklungsökonomie“. Seine Hauptforschungsgebiete umfassen Makroökonomie der offenen Volkswirtschaft, Finanzwirtschaftslehre und Entwicklungsökonomie. Prof. Dr. Chang Xin, Doktor der Wirtschaftswissenschaften und Gastwissenschaftlerin des Economic Growth Center der Yale University, ist Professorin der Abteilung für Makroökonomie am Wirtschaftsforschungsinstitut der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Makroökonomie, Ökonomie des öffentlichen Sektors und Institutionenökonomik. Sie hat zwei Monografien herausgegeben, als Mitautorin bei vier Werken gewirkt und mehr als 20 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Außerdem hat sie sich an über 10 Forschungsprojekten der NSSFC und der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften beteiligt, darunter mehrere Projekte geleitet.

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