Lade Inhalt...

Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter

von Amalie Fößel (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 534 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Gewalt und Krieg sind heute wie auch in der Vormoderne keine ausschließlich männliche Domäne, sondern Räume der Männer und Frauen gleichermaßen. In Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen werden Geschlechterrollen ausgebildet, konforme und abweichende Verhaltensweisen ausprobiert und Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit entwickelt. Erstmals für die Epoche des Mittelalters (7.-16. Jahrhundert) werden daraus resultierende Fragestellungen im interdisziplinären und kulturübergreifenden Vergleich untersucht. Die Beiträge erörtern Geschlechterbeziehungen auf Darstellungs- und Handlungsebene und beschreiben Interaktionsformen in Kontexten von Gewalt und Krieg. Über den europäischen Raum mit seinen zahlreichen Fehden und Heerzügen hinaus werden auch die Kreuzzüge in den Blick genommen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zur Einführung: Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter - Amalie Fößel
  • Kriegerische Männlichkeiten
  • Militärische Wertvorstellungen und männliche Identität im merowingischen Gallien - Laury Sarti
  • Loss and Triumph in the Rolandslied: Cultural Poetics of Space and Gender - Jitske Jasperse
  • Männlichkeitskonstrukte zwischen Heldentum und Kampfverweigerung in den Kreuzzugsnarrativen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts - Ingrid Schlegl
  • Alle gegen ihn – er gegen alle. Das Ideal des kämpfenden Königs im Mittelalter - Bastian Walter-Bogedain
  • Kämpfer und ihre Körper. Bemerkungen zur „kriegerischen Männlichkeit“ im späten Mittelalter - Jörg Rogge
  • Gender, Religion and Nobility in Hussite Bohemia - Zdeněk Beran
  • Weiblichkeit in Zeiten von Krieg und Gewalt
  • Der Mut eines Mannes, das Herz eines Löwen. Geschlechtsspezifische Rollenbilder und Handlungsfelder bei der Ausübung von Gewalt im Mittelalter - Christoph Mauntel
  • Queens as Military Leaders in the High Middle Ages - Johanna Wittmann
  • Wax Kings and Apron Strings: William of Tyre’s Gendering of King Baldwin III and Queen Melisende and the 1152 Civil War - Danielle E.A. Park
  • Violence, War, and Gender in the Life of Isabella of France, Queen of England - Sophia Menache
  • Mit sanfter Hand – Handlungsspielräume der Mailänder Herzogin Bianca Maria Visconti - Jessika Nowak
  • Geschlechtertransgression und Rollentausch
  • ‚Crossdressing‘ als Kriegslist. Überlegungen zu Gender-Transgressionen in spätmittelalterlichen Kriegserzählungen - Martin Clauss
  • Handlungsspielräume von Ehefrauen ‚gefangener‘ Männer im Spiegel spätmittelalterlicher Selbstzeugnisse - Mirjam Reitmayer
  • Geschlecht, Gewalt und Recht
  • Schutz vor Gewalt gegen Frauen und Männer in Papstbriefen des 12. Jahrhunderts - Gisela Drossbach
  • Wie viele Schöne wurden Besitz […]. Sklavinnenkonkubinat und Gender im Kontext von ğihād und Kreuzzug - Dirk Jäckel
  • Krieg, Minne und Emotionen
  • Attack on the Castle of Love: Flower Power or “Traffic in Women”? An Allegorical Representation in Ivory Analysed from the Perspective of War and Gender - Alexandra Gajewski
  • Zur Verschränkung von Krieg, Minne und weiblicher Herrschaft in Wolframs Parzival - Judith Lange
  • in einem twalme er swebete. Konzeptionen von ‚Trauma‘ in der Literatur des Mittelalters - Sonja Kerth
  • Geschlechterkonzepte in transkultureller Perspektive
  • Männlichkeit und ehrbasierte Gewalt in arabischen Quellen zu den Kreuzzügen – Ehre als Handlungsmotiv oder polemisches Narrativ? - Nadeem E. Khan
  • Misogynes Mittelalter? Gewalt und Geschlecht in transkultureller Perspektive. Das Beispiel der Sieben Weisen Meister - Bea Lundt

Amalie Fößel

Zur Einführung: Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter

Der vorliegende Sammelband geht aus einem Symposion hervor, das in Schloss Herrenhausen in Hannover im Juli 2016 stattgefunden hat. Hier diskutierte eine sich international und interdisziplinär zusammensetzende Gruppe von Histori- ker*innen, Literaturwissenschaftler*innen und Kunsthistoriker*innen das The- menfeld „Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter“.

Fragestellung und Zielsetzung

Ausgangspunkt war die Feststellung, dass Geschlechterfragen für die Epoche des Mittelalters in der mittlerweile recht umfangreich gewordenen Literatur zu Kriegen und Kriegsführung, Kreuzzügen und Fehden, Militärtechniken und Kriegskonzepten noch kaum in den Blick genommen wurden. Mittelalterliches Kriegsgeschäft und Kriegsgeschehen erscheinen vielmehr als eindeutig geregelte und strukturierte Räume der Männer und wenig interessant für geschlechterspe- zifische Perspektiven.

Mit dem Aufhommen einer zunächst komplementär angelegten Frauenge- schichte, die sich aufmachte, nach Frauen in der Geschichte zu suchen, wurden in den Quellen Kämpferinnen und Kriegerinnen sowie zahlreiche Landesherrinnen ausfindig gemacht, die zur Verteidigung ihrer Herrschaften kriegerische Aufga- ben erfüllten. Mit der Weiterentwicklung der Frauen- zu einer Geschlechterge- schichte veränderte sich die konzeptionelle Ausrichtung. Jetzt ging es darum, Interaktionsweisen und Differenzen der Geschlechter in den Möglichkeiten und Begrenzungen ihres Handelns zu untersuchen. Kontexte von Krieg und Gewalt blieben für die Epoche des Mittelalters weitgehend ausgeblendet.

Im Unterschied dazu sind von der Frühneuzeitforschung einige Studien vor- gelegt worden, die zeigen, dass Militär und Krieg über lange Zeiträume hinweg keine Männerdomäne darstellten, sondern vielmehr als Orte der Geschlechter zu begreifen sind, an denen Geschlechterrollen ausgebildet und konforme wie auch abweichende Verhaltensweisen ausprobiert werden. Erst in der Zeit der Moderne und ihrer nationalstaatlichen Kriege ist das Militär zu einem männ- lichen Raum geworden, der durch die räumliche Trennung der Soldaten von Frauen und Kindern geprägt war. Das ging einher mit dem Aufhommen der stehenden Heere seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und der Errichtung von Kasernen, die sich erst allmählich zu einem klar abgegrenzten Ort der Männer entwickelten. Das war in den Jahrhunderten zuvor nicht der Fall gewesen, in denen die Heere und Armeen mit Familien im Tross übers Land zogen.1

Begreift man vormodernes Kriegsgeschehen zudem als ein allgemeines und vielfach eingesetztes Mittel der Durchsetzung von Macht und Herrschaft und als eine Angelegenheit der grundherrlichen familia, ergeben sich weitere neue Pers- pektiven und Untersuchungsgegenstände. Es öffnen sich Räume des Kriegs und der Gewalt, in denen die Geschlechter zwangsläufig aufeinandertreffen und mit- einander in Interaktion treten, mithin Räume, in denen sich Sieger und Besiegte, Kombattanten und Nichtkombattanten, Täter und Opfer bewegen und Differen- zen und Gleichheiten ihres Handelns sichtbar werden.

Zielsetzung des vorliegenden Bandes ist es, die inhaltliche Engführung des Themenfeldes ‚Gewalt und Krieg im Mittelalter‘ zu durchbrechen und die Quel- len mit Methoden und Lesarten einer modernen Geschlechtergeschichte neu zu erschließen.

Das geschieht auf der Basis einer breiten und repräsentativen Auswahl unter- schiedlicher Quellengattungen im interdisziplinären und kulturübergreifenden Vergleich: Neben historiographischen und fiktionalen Texten werden rechts- geschichtliches und theologisches Schrifttum sowie Illustrationen und Kunst- gegenstände analysiert. Die Beiträge umfassen exemplarische Studien und Aufsätze mit kulturgeschichtlich vergleichendem Zugriff sowie methodisch weiterführende Analysen. Der Fokus liegt auf dem europäischen Raum vom 7. bis zum 16. Jahrhundert mit seinen vielen kleinen und größeren Fehden und Kriegszügen, den damit einhergehenden Phänomenen und in Gang gesetzten Debatten unter Einbeziehung von literarischen und bildlichen Bearbeitungen der Thematik. Über die Grenzen Europas hinaus setzen die Kreuzzugskontexte mit spezifischen Wahrnehmungen der Geschlechterbeziehungen durch christ- liche und arabische Autoren einen weiteren wichtigen Schwerpunkt.

Männlichkeit und Weiblichkeit in Zeiten von Krieg und Gewalt

Zum Anknüpfungspunkt wurden zudem die Bilder von Soldatinnen und kämp- fenden Frauen in verschiedenen Kriegs- und Gewaltkontexten, die inzwischen allgegenwärtig geworden sind und medial vielfach verfügbar. Die Armeen dieser Welt beschäftigen in allen militärischen Rängen eine Vielzahl von Frauen. In zahlreichen Ländern der Erde liegen oberste Entscheidungsbefugnisse in Fragen von Krieg und Frieden in den Händen von Frauen, auch hier in Deutschland, wo aktuell zwei Frauen die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte inne haben, die Kanzlerin im Kriegsfall, die Verteidigungsministerin in Frie- denszeiten.

In der Bundeswehr sind Frauen heute nicht mehr nur in medizinischen Berei- chen tätig, sondern verrichten als Soldatinnen Dienst an der Waffe. Das ist eine vergleichsweise junge Entwicklung, die mit der Umsetzung des Urteils einer Klä- gerin vor dem Europäischen Gerichtshof am 11. Januar 2000 für die Bundeswehr begann. 2017 beschäftigte die Bundeswehr bereits 20 400 Soldatinnen, die damit einen Anteil von ca. 11% in der Truppe ausmachten. Dabei war 2017 jeder 13. Soldat im Auslandseinsatz eine Soldatin.

Diese Zahlen sind im Rahmen der Eröffnungsausstellung des Militärhisto- rischen Museums der Bundeswehr in Dresden 2018 genannt worden. Unter dem Titel „Gewalt und Geschlecht“ wurde eine zeitlich und thematisch breit angelegte, sehr eindrucksvolle Ausstellung mit mehr als 1000 Objekten gezeigt. Konzeptueller Ausgangspunkt war die tradierte, bis heute als Erklärungsmuster dienende Dichotomie „Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden“, die in über- zeugender Weise aufgelöst wurde. Weit über kriegerische und militärische Kon- texte hinaus wurde dabei die gesamtgesellschaftliche Relevanz von Gewalt in den Blick genommen und folgerichtig danach gefragt, ob „Gewalttätigkeit und Gewaltfähigkeit eine Frage des Geschlechts“ seien oder ob „das, was als typisch männliches und weibliches [Gewalt-Verhalten] gilt, die Folge von gesellschaft- lichen Konventionen […] [und] folglich auch veränderbar“ sei.2

Der thematische Bogen der Dresdner Ausstellung wurde chronologisch zurück bis in die Antike und zu den legendären Amazonen gespannt. Dennoch lag der inhaltliche Schwerpunkt ganz klar auf der Zeit der Moderne und ins- besondere dem 20. Jahrhundert und der Zeitgeschichte. Mittelalter und Frühe Neuzeit wurden punktuell und eher additiv gestreift, indem beispielsweise unter der Rubrik „Anführerinnen“ zwei außergewöhnliche Frauen des ausgehenden Mittelalters vorgestellt wurden, die in dem hier vorliegenden Band keine beson- dere Berücksichtigung finden, weil sie als Befehlshaberinnen und ‚Ausnahme- frauen‘ gut erforscht sind: Jeanne d’Arc (1412-1431), die aus einem Dorf in Lothringen stammende junge Frau, die als heilige Jungfrau von Orléans und Retterin Frankreichs in einer für Frankreich aussichtslos erscheinenden Phase des sog. Hundertjährigen Kriegs Geschichtsmächtigkeit erlangte, und die durch- setzungsstarke Mailänderin Caterina Sforza (1463-1509).3

Mit Jeanne d’Arc und Caterina Sforza werden zwei Frauen des 15. Jahrhun- derts vorgestellt, die als herausragende „Kämpferinnen“ Berühmtheit erlangten und die – so möchte man hinzufügen – im Rahmen einer solchen Ausstellung auch gar nicht hätten übergangen werden können: Jeanne d’Arc hat bis heute einen exzeptionellen Bekanntheitsgrad als Kommandoführende der französi- schen Truppen, weil sie als Siegerin aus dem Kampf gegen die Engländer um die strategisch wichtige Stadt Orléans 1429 hervorging und die Kehrtwende in einem fast schon verlorenen Krieg einleitete. Nicht zuletzt, weil sie zu den Frauen gehörte, die Männerkleider trugen, polarisierte sie ihre Zeitgenossen wie kaum eine andere. Die Nachwelt aber stilisierte sie zu einer Heiligen und Heldin der französischen Nation. Als solche ist sie im kollektiven Gedächtnis Frank- reichs und Europas fest eingeschrieben.

Die 1463 als außereheliche Tochter des Mailänder Herzogs Galeazzo Maria Sforza geborene und vielseitig begabte Caterina, die durch Einheirat in die Fami- lie Riario eine Gräfin von Forli und Herrin von Imola war, wurde als eine überaus couragierte und ideenreiche Verteidigerin ihrer Ländereien wahrgenommen, die geschickt mit dem Schwert zu kämpfen vermochte, im Ruf einer virago stand und in ihrer Zeit als quella tygre di la madona di Forli bezeichnet wurde.4

Nach der Ermordung ihres Gemahls Girolamo Riario, eines engen Verwand- ten des Papstes Sixtus IV., und ihrer eigenen Gefangennahme sowie der ihrer Kinder 1488 wurde sie frei gelassen, um die Übergabe der Burg von Forli an die Verschwörer, die ihren Mann ermordet hatten, in die Wege zu leiten. Statt- dessen aber rief sie zu weiterem Widerstand auf, weshalb sie mit ihren Kindern erpresst worden sein soll. Die Verschwörer drohten damit, ihre Kinder umzu- bringen, wenn sie nicht aufgebe. Caterina verweigerte jedoch eine Kapitulation Das wurde in der Folge und am prominentesten von Niccolò Machiavelli mit der Geschichte erzählt, dass sie – auf der Burgmauer stehend – ihre Röcke gehoben und gerufen habe, dass sie jederzeit weitere Kinder zur Welt bringen könne. In dieser Schlacht trug sie den Sieg davon und heiratete möglicherweise noch ein zweites und drittes Mal. Als jedoch mit Papst Alexander VI. der Borgia-Clan in Rom und Italien regierte, und von dieser Seite ihre Ländereien erneut bedroht wurden, entstanden neue politische und militärische Konflikte, die Caterina Sforza gegen Cesare Borgia nicht gewinnen konnte. Sie ergab sich und wurde ein Jahr lang in der Engelsburg in Rom gefangen gehalten. Nach ihrer Freilassung konnte sie ihre Ländereien nicht mehr zurückerobern. Die letzten Jahre lebte sie zurückgezogen in Florenz und starb im Mai 1509 im Alter von 46 Jahren. Sie hatte zahlreiche Schlachten geschlagen und acht Kinder zur Welt gebracht. Ihr Sohn Ludovico/Giovanni aus dritter Ehe machte sie zur Großmutter des toska- nischen Herzogs Cosimo I. de Medici.5

In zeitgenössischen und späteren Berichten wird Caterina mannhafter Mut attestiert, weil sie sich, als es darauf ankam, nicht der mütterlichen Sentimentalität hingegeben habe. Über ihre Drohungen gegenüber ihren Feinden auf der Burg- mauer konnte daher Allegretto Allegretti (1429-1497) in seinem Diari delle cose sanesi del suo tempo schreiben, dass dies die kühnen Worte da un Cesare, e non da Donna gewesen seien.6 Anhand dieser konkreten Situation mit der als besonders mannhaft konnotierten Inszenierung des Machtfaktors weiblicher Reproduktions- fähigkeit lässt sich die Dynamik und Variabilität von Geschlechterrollen und -attri- buten besonders deutlich beobachten.

Wenn ein knapper Satz im Dresdner Ausstellungskatalog darüber informiert, dass mittelalterliche „Geschichtsquellen […], wenn auch selten, von Frauen an der Spitze militärischer Operationen“ berichten, so ist dem eigentlich nur zuzu- stimmen: Adelige Frauen „leiteten die Verteidigung ihrer Burgen oder Lände- reien, befreiten die Länder von Invasionsarmeen oder führten Feldzüge, um ihre Machtansprüche durchzusetzen oder zu behaupten“.7 Nachweise für solches Handeln lassen sich über das gesamte Mittelalter hinweg in den Quellen finden. Darauf hat bereits 1990 Megan McLaughlin in einem grundlegenden Aufsatz über das Phänomen der „women warriors“ hingewiesen.8

Wenn bereits konstatiert wurde, dass heute Frauen militärische Befehlsge- walt ausüben, so war das, freilich aufgrund ganz anderer Voraussetzungen und Bedingungen, – grosso modo – auch für die Herrscherinnen im Mittelalter der Fall. Befehlsgewalt der Landesherrinnen – Königinnen, Fürstinnen, Gräfinnen, Baroninnen – war Ausdruck und Form jeder Herrschaft, die regierende Frauen aus eigenem Recht und Ehefrauen in Zeiten der Abwesenheit ihrer Männer ausübten. Das schloss militärische Befehlsgewalt ein, zumal im europäischen Mittelalter mit den vielen Fehden, den kleinen und großen kriegerischen Aus- einandersetzungen als effektives Mittel der Herrschaftsausübung und Machtsi- cherung.

Insofern lässt sich militärisches Handeln adeliger Frauen geradezu als eine Konsequenz einer permanent in Fehde liegenden Gesellschaft beschreiben. Anders als in der Neuzeit mit den Kriegen zwischen Nationalstaaten, die aus- schließlich von Männern in der politischen und militärischen Verantwortung geführt wurden, sind die Fehden und Belagerungen des Mittelalters von höfi- schen und grundherrlichen Verbänden in Gang gesetzt worden, in die Frauen eingebunden waren. Die daraus resultierende Erwartungshaltung an weibliche Herrschaftseliten musste daher Kenntnisse über das Kriegshandwerk einschlie- ßen.

Christine de Pizan (1364 – nach 1429) hat das klar formuliert. Sie, die mit dem französischen Königshof und der aus Bayern stammenden Königin Isabeau eng verbundene Schriftstellerin, die als junge Witwe den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie mit Schreiben verdiente, und ein umfassendes Oeuvre hin- terließ, verfasste neben ihrem Bestseller La cité des dames unter anderem einen Fürstinnenspiegel La livre des trois vertus (1405), in dem sie diesen Aspekt auf- griff und detailliert beschrieb, was eine Baronin von militärischen Dingen wis- sen müsse, um in der Lage zu sein, während der Abwesenheit ihres Mannes den Besitz richtig zu schützen und also eine kriegerische Situation strategisch klug und erfolgreich bewältigen zu können:

Wir haben gesagt, sie müsse ein mannhaftes Herz haben und meinen damit, daß sie sich in der Waffenkunde und allem, was zur Kriegsführung gehört, auskennen muß, damit sie in der Lage ist, ihre Leute zu befehligen, einen Angriff zu führen oder eine Verteidigung zu organisieren, falls es nötig sein sollte. Sie achte auch darauf, daß die Festungsanlagen aus- reichend mit Waffen und Soldaten bestückt sind. Bevor sie irgend etwas unternimmt, sollte sie ihre Untergebenen auf die Probe stellen und ihren Mut und ihre Entschlossenheit in Erfahrung bringen, ehe sie sich zu sehr auf sie verläßt. Sie sollte berücksichtigen, wie groß die Truppenstärke ist und auf welche Hilfe sie im Notfall rechnen kann. Sie muß sich aller dieser Dinge ganz sicher sein und darf sich nicht auf leere oder vage Versprechungen ver- lassen. Sie muß auch bedenken, wie sie ihre Truppen ausstattet und versorgt, bis ihr Mann zurückkommt, und welche Geldmittel ihr dafür zur Verfügung stehen. Dabei sollte sie sich, so gut sie kann, bemühen, ihre Vasallen nicht zu sehr zu belasten, denn dadurch zieht man allzu leicht ihren Haß auf sich. Furchtlos und entschlossen sollte sie ihnen mitteilen, welche Maßnahmen ihr Rat beschlossen hat, und darf ihnen keinesfalls heute dies und morgen jenes erzählen. Mit wohlgesetzten Worten soll sie ihren Soldaten Mut einflößen und ihre Dienstleute so dazu bringen, ihr treu und ergeben zu dienen und ihr Bestes zu geben. Dies sind die Verhaltensweisen, die einer klugen Baronin anstehen, wenn ihr Ehemann ihr für die Zeit seiner Abwesenheit die Verantwortung übertragen hat, für den Fall, daß ein anderer Baron oder mächtiger Edelmann sie wegen irgendeiner Sache herausfordern will.9

Mit dieser auf militärische Belange bezogenen Wahrnehmung, die sich in der Vorstellung verdichtet, dass eine Landesherrin eine männlich konnotierte Beherztheit, männliche Kraft und Stärke an den Tag legen müsse, um ihrem Stand, ihrem Rang entsprechend handeln zu können, greifen wir eine im Mit- telalter weit verbreitete und langfristig verfügbar gebliebene Stereotypisierung, die im Begriff der virago prägnanten Ausdruck fand und in unterschiedlichen Variationen für Herrscherinnen und Landesherrinnen ausbuchstabiert wurde, wenn sie in den Augen der Zeitgenossen politisch klug und weitsichtig handel- ten.

Das ‚männliche Herz‘, das Frauen attestiert wurde, die sich dem Kampf in seinen verschiedenen Ausprägungen stellten, war ebenso ein gängiger Topos. Er verwies darauf, dass das Herz im Mittelalter – anders als heute – nicht mit Emo- tion verknüpft, sondern vielmehr als Ort der Vernunft und Rationalität ange- sehen wurde. Mit der Zuschreibung der im Herzen sitzenden, mit Mannsein verknüpften Fähigkeit rationalen Denkens und Handelns an Frauen erfassen wir eine spezifische Variante von ‚Geschlecht‘ als kulturellem Konstrukt.

In der modernen Wissenschaft ist das Konzept von Geschlecht als kulturelles und soziales Konstrukt mittlerweile fest etabliert und wird als Analysekriterium in seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Beschreibung von Gleichheit und Ungleichheit nicht mehr in Frage gestellt. Konzipiert als relationale und situativ variable Bezugsgröße können nicht nur die Beziehungen der Geschlechter, son- dern auch geschlechterspezifische Zuschreibungen und Handlungsspielräume in ihren Entsprechungen, Unterschieden und Varianzen untersucht werden. In Verschränkung mit weiteren Distinktionsmerkmalen wie Alter, Stand, Herkom- men, Status, Recht und Religion, um diejenigen zu nennen, die für die Zeit der Vormoderne spezifische Relevanz haben, lassen sich schließlich gesellschaftliche Zusammenhänge in ihrer Komplexität erfassen und besser verstehen.10

Geschlechterbeziehungen äußern sich in Handlungen und werden performa- tiv stets aufs Neue aktualisiert und verändert, wofür die Forschung den Begriff des „doing gender“ bereitstellt und damit die Realisierung von Geschlecht durch Handeln auf eine eingängige Formel bringt. Der Ansatz zielt auf Varianz, Variabilität und Situationsbezogenheit der Rollen und Interaktionsweisen und den Vorstellungen davon, was als maskulin und was als feminin zu gelten habe und mit welchen Zuschreibungen das jeweils zu verknüpfen ist. Bezogen auf Gewalt- und Kriegssituationen resultiert daraus die Konsequenz, dass einfa- che, unveränderlich gedachte dichotomische Grundannahmen über Männer als Täter und über Frauen als Opfer in Frage zu stellen sind und vielmehr davon ausgegangen werden muss, dass Männer wie Frauen gleichermaßen aktiv und passiv in gewaltbezogenen Kontexten agieren konnten.

Konzepten von Weiblichkeit werden in den letzten Jahren zunehmend Kon- zepte von Männlichkeit gegenübergestellt und geradezu Forderungen für eine eigene Geschichte der Männlichkeit erhoben, obwohl sie in einer auf Relatio- nalität und Differenz ausgerichteten Geschlechtergeschichte angelegt und mit- konzipiert ist.11 Insbesondere für die Frage, was einen Mann ausmacht, eignen sich Kriegs- und Gewalträume als Bezugspunkte. Es profilieren sich Männer untereinander und entwickeln in der Interaktion und Konkurrenz, was als mas- kulin gelten soll und was nicht. Studien dazu liegen mittlerweile vornehmlich für die Neuzeit vor.12 Daraus ist unter anderem die Schlussfolgerung gezogen worden, dass „Männlichkeiten im Plural eine Rolle spielen“.13 An diesem Punkt kann die Mittelalterforschung gut anschließen.

Seit der lateinischen Antike werden Kampf und Männlichkeit in einen Zusammenhang gebracht.14 Geschlechterkonzepte in militärischen Zusammen- hängen lassen sich vielfach als divergierende Modelle kriegerischer Männlich- keiten fassen, die auf spezifischen Werten und Tugenden basieren und in ihrer identitätsbildenden Funktion bereits in germanischer Zeit grundgelegt wurden, so Laury Sarti in ihrem Beitrag in diesem Band. Ausgeformt als Konzepte des Kriegshelden und des Kampfverweigerers wurden sie erzählerisch eng mit dem Körper und dem Raum verknüpft. Beschreibungen heldenhaft kämpfender Könige vermitteln ein ritterliches Heldenethos, das Bastian Walter-Bogedain zufolge über das Mittelalter hinweg verfügbar blieb. Der Körper des Kämpfers musste dabei in einem hohen Grad Leid ertragen können, Verletzungen über- leben sowie Wetterwidrigkeiten, schlechtes Essen und Schlafmangel aushalten. Die daraus resultierenden körperlichen Narben, so Jörg Rogge, sind Markierun- gen von Heldentum und Furchtlosigkeit.

Neben der im Raum geformten körperlichen Kraft der Krieger zeichnet sich eine positiv besetzte kriegerische Männlichkeit zudem durch Können und Kameradschaft sowie einen gemeinsamen ehrbasierten Verhaltenskodex aus. Als ein weiteres Kriterium benennt Jitske Jasperse in ihrer Analyse der Heidel- berger Bilderhandschrift des Rolandslieds zudem die Abwesenheit von Frauen als Voraussetzung für einen siegreichen Kampf der christlichen Ritter gegen ihre muslimischen Gegner. Dort, wo Frauen den innerhäuslichen Raum verlassen, und Herrscherinnen nach außen treten, um ihre Anwesenheit kundzutun, wie die heidnische Königin Brechmunda bei der Übergabe der Stadt Zaragoza, sig- nalisieren sie die Abwesenheit der muslimischen Anführer, die in der konkreten Situation alle tot sind. Mit dem Hinaustreten in den öffentlichen Raum erkennt die heidnische Königin den Sieg der christlichen Streitkraft und letztlich die Macht des christlichen Glaubens an. In Konsequenz dessen konvertiert Brech- munda zum Christentum.

Die Abwesenheit von Frauen bei militärischen Operationen ist ebenso ein signifikantes Argument in Böhmen im 15. Jahrhundert, das bei katholischen wie hussitischen Autoren gleicherweise greifbar wird. Zdeněk Beran kann zeigen, wie sehr in der Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den böhmi- schen Hussiten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit von der Religion als Deutungskategorie dominiert werden: Die Idee des hl. Kriegs zeichne sich durch ritterliche Ideale aus wie Tapferkeit und männliche Stärke, während posi- tive weibliche Ideale mit frommen Lebensweisen verknüpft werden.

Zu Antihelden wurden schließlich Männer, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllten und im Gefecht ohne Mut dastanden und desertierten. Deserteure, Überläufer und Adelige, die sich weigerten, ein Kreuzzugsgelübde abzulegen, gelten als schwach und feige. Ingrid Schlegl zufolge war das ein weitverbreitetes und vielschichtiges Phänomen während der hochmittelalterlichen Kreuzzüge. Kriegsverweigerer wurden geradezu mit weiblichen Attributen wie Wolle und Spindel und also mit Materialien einer typischen Frauenarbeit versehen und geschmäht. Der aus dem Kreuzzugsheer desertierte Stephan von Blois ist ein prominentes Beispiel für den Einfluss der Ehefrau, die ihren heimgekehrten Gat- ten an seine jugendliche Kraft und Stärke erinnern musste. Ihre Appelle an ihn verweisen auf heroische männliche Vorstellungen. Er ließ sich überzeugen, zur Rückkehr bewegen und bezahlte das mit seinem Leben. Der Graf von Blois fiel in der für das christliche Ritterheer überaus verlustreichen Schlacht von Ramla 1102. Damit hatte er in der Wahrnehmung der Zeitgenossen seine einstige Kampfverweigerung gesühnt.

Legt die erste thematische Rubrik dieses Sammelbandes das Hauptaugenmerk auf Konstruktionen und Kriterien kriegerischer Männlichkeiten, umfasst der zweite Abschnitt Beiträge, deren Fragestellungen und Zugriffe sich auf For- men und Konzepte von Weiblichkeit in Zeiten von Krieg und Gewalt fokus- sieren. Dabei werden Abweichungen von Erwartungshaltungen, Transgression und Rollentausch mit positiven oder negativen Werturteilen belegt: Männer, die versagen, werden effeminiert und in ihrem Verhalten als unmännlich wahrge- nommen; Frauen, die sich dem Kampf in seinen verschiedenen Ausprägungen stellen, besitzen ein ‚männliches Herz‘, das es ihnen möglich macht, die natur- haft mit ihrem Geschlecht verbundene Fragilität zu überwinden und mannhafte Stärke zu zeigen.

Damit einhergehende Debatten und Positionen im europäischen Spätmit- telalter analysiert Christoph Mauntel und verweist dabei auf ambivalente und misogyne Argumentationen, die Frauen einerseits physisch und intellektuell eine Teilnahme am Krieg absprechen und andererseits die Pflicht der Fürstinnen zur Verteidigung ihrer Ländereien ins Feld führen. In den Zeiten des sogenann- ten Hundertjährigen Kriegs treten sie vielfach als Akteurinnen in Erscheinung, die stellvertretend für abwesende Männer agieren und in ihrem Handeln von den Geschichtsschreibern durch Zuschreibung männlicher Tugenden charak- terisiert werden, womit die generell männliche Prägung des Kriegs in gewisser Weise fortgeschrieben werden sollte.

Die Frage, ob und wann Frauen militärische Befehlsgewalt übernahmen und wie das in der zeitgenössischen Historiographie erzählt wurde, erörtert Johanna Wittmann am Beispiel hochmittelalterlicher Königinnen im europäi- schen Vergleich und präsentiert drei Szenarien: Kaiserinnen und Königinnen, die in Stellvertretung des Königs oder als Regentinnen sowie im eigenen Inte- resse zur Sicherung ihrer Güter kriegerische Gewalt ausübten. Weniger die Frage des Geschlechts als vielmehr die Frage der Rechtmäßigkeit ihres Tuns wird zum Kriterium dafür, ob die militärischen Handlungen der Frauen auf Akzeptanz oder Kritik stießen. Für die Erzählweisen über militärische Kon- trahentinnen bietet der englische Thronstreit in der ersten Hälfte des 12. Jahr- hunderts eine gute Quellenbasis. Die Historia Novella und die Gesta Stephani nehmen Kaiserin Mathilde und Königin Mathilde von Boulogne als militä- rische Anführerinnen in den Blick und charakterisieren sie stark intentional geleitet mit einer geschlechtliche Bezüge flexibel einsetzenden, emotional auf- geladenen Sprache.

Ein thematisch überaus aufschlussreiches Beispiel diskutiert Danielle Park mit dem Mutter-Sohn-Konflikt zwischen Königin Melisende und ihrem Sohn Balduin III. 1152. Wilhelm von Tyrus verarbeitet den politisch schwierigen, Familie und Königreich spaltenden Streit, indem er Geschlecht, Status und Alter als Differenzkriterien heranzieht und einen generationsübergreifenden Kon- flikt konstruiert, dessen Besonderheit im Unterschied zu anderen darin liege, so Park, dass hier männliche und weibliche Protagonisten involviert waren, und zudem Melisende als weibliche Akteurin und Regentin über ihrem Sohn stand. Dieser erweist sich nach Wilhelm von Tyrus als ein ‚unfertiger König‘, weil er auf falsche Berater gehört und einen Krieg provoziert habe anstatt dem weisen Vor- bild der Mutter zu folgen. Zuletzt jedoch, so die weitere Interpretation, seien es der militärische Erfolg Balduins und die von ihm unter Beweis gestellten männ- lichen kriegerischen Qualitäten gewesen und nicht das Geschlecht der Königin, die zum Machtverlust Melisendes führten.

In Aufbereitung der Erzählweisen über die mit dem englischen König Edward II. verheiratete Isabella von Frankreich in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahr- hunderts fragt Sophia Menache nach dem Stellenwert von Gewalt, Krieg und Geschlecht im Leben Isabellas und konstatiert, dass insbesondere ihr Einsatz als Vermittlerin und Friedensstifterin in verschiedenen Konfliktsituationen prä- gend für ihre Stellung als Königin war. Geschlechterspezifische Zuschreibungen ergeben zunächst ein überwiegend positives Bild von ihr, das kontrastierend zu den negativen Sichtweisen auf Edward II. und seinem Favoriten Gaveston ent- worfen wird. Die positive Darstellung Isabellas änderte sich jedoch in den Jahren nach der Absetzung Edwards II. während ihrer Regentschaft für Edward III., als ihre innenpolitische Schwäche zu ihrem Machtverlust führte, was in der Chro- nistik mit sexuellen Verfehlungen erklärt wird.

Auf der Ebene einer Herzogin wird die Problemstellung von Jessika Nowak am Beispiel der Mailänderin Bianca Maria Sforza diskutiert, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts erheblichen politischen Einfluss ausübte und die Handlungsfä- higkeit Mailands für den kranken Ehemann und den minderjährigen Sohn auf- rechterhielt. In verschiedenen Funktionen schlachtenerprobt machte sie ihrem Namen alle Ehre, weshalb ihr, aber auch anderen weiblichen Familienmitglie- dern, eine Kämpfernatur und ihr zudem auch typisch männliche Tugenden in der Zeit ihrer Regentschaft attestiert wurden.

Varianzen der Interaktion und Wahrnehmung der Geschlechter in Kontexten von Krieg und Gewalt

Mittelalterliche Quellen bieten in Erzählungen von Krieg und Gewalt eine unübersehbare Varianz und Variabilität geschlechterspezifizierender Verhaltens- weisen, bei denen der Faktor Geschlecht, je nach Kontext und Intentionalität der Berichte, in Verknüpfung mit weiteren Kriterien und Schwerpunktsetzungen als Argument und rhetorisches Mittel eingesetzt wird. So lässt sich mit Martin Clauss der Kleiderwechsel als eine zeitlich begrenzte Geschlechter-Transgres- sion und Strategie der Kriegslist ausmachen. Geschlecht wird dabei zu einem grundlegenden Bezugspunkt, der in Interaktion mit zeittypischen und flexibel einsetzbaren Zuschreibungen wie Alter, Körper, Stand und Sprache spezifische Erzählsituationen entstehen lässt, die argumentativ plausibel sind, weil sie sag- und denkbare Möglichkeiten kriegerischen Handelns zum Ausdruck bringen. So ziehen die Frauen von Zürich bei der Belagerung der Stadt 1292 dem Bericht des Johannes von Winterthur zufolge auf Geheiß eines wegen seines Alters in der Stadt gebliebenen alten Mannes Männerkleider an und können, auf den Mau- ern der Stadt in Reih und Glied stehend, den anrückenden feindlichen Truppen militärische Stärke vermitteln. Der Fokus liegt dabei auf dem Alter des Mannes, der sich überhaupt nur in der Stadt aufhalten und als Ratgeber fungieren kann, weil er für den Kampf der im Feld aktiven städtischen Truppen nicht mehr ein- satzfähig erscheint.

Situativ notwendig wurde der Rollentausch der Geschlechter auch in Zeiten der Gefangenschaft der Männer, wenn deren Ehefrauen, wie Mirjam Reitmeyer überzeugend herausarbeitet, die Funktionen der Männer daheim übernahmen und eine aktive Rolle in der Verhandlungsführung spielten, die zur Freilassung der Gefangenen führen sollten. Die dafür ausgewerteten Selbstzeugnisse geben zudem Einblicke in das Funktionieren und Kooperieren von Eheleuten, die sich in existentiellen Ausnahmesituationen miteinander ins Benehmen setzen muss- ten und als solche mit Heide Wunder als ‚Arbeitspaare‘ bezeichnet werden kön- nen.

Ausnahmesituationen und Auseinandersetzungen der Geschlechter lassen sich ebenso als grundlegende Ausgangspunkte des Kirchenrechts erfassen. Mit dem Bestreben, so Gisela Drossbach, beide Geschlechter vor einer ihnen auf- gezwungenen Ehe zu schützen, nutzte Papst Alexander III. in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einige an ihn herangetragene konkrete Fälle, um zunächst dagegen vorzugehen und die päpstlichen Entscheide auf allgemeiner kirchen- rechtlicher Ebene zu verankern. Erst im weiteren Verlauf des späten Mittelalters konnten diese allmählich durchgesetzt werden.

Geschlecht, Recht und Körper als zentrale Analysekriterien nimmt Dirk Jäckel für islamische Kontexte und die Einrichtung des Slavinnenkonkubinats im Rahmen von Dschihad und Kreuzzug in den Blick. Auf einer breiten Basis rechtlicher, historiographischer und wirtschaftsgeschichtlicher Quellen werden rechtliche Grundlagen und Vorschriften mit sozialen und körperlichen Prakti- ken kontrastiert und die Unterschiede von Eigentumsrechten von Sklaven und Sklavinnen für beide Geschlechter herausgearbeitet, die für Männer den völli- gen Besitz einschließlich körperlicher Beziehungen ermöglichen, während sie für Frauen und ihre männlichen Sklaven strikt verboten waren.

Geschlecht, Krieg und Gewalt sind schließlich Bezugsgrößen, die vielfach bildlich und literarisch verfügbar sind und, wie Alexandra Gajewski aus kunst- historischer Sicht, Judith Lange und Sonja Kerth aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vor Augen führen, mit Minne und Emotionen verknüpft werden.

Die Minneburg, „the Castle of Love“, veranschaulichte Allegorien zum Kampf der Geschlechter und den Debatten darum, die ethisch und biblisch fundiert und durch Ovid und den sogenannten Rosenroman des ausgehenden 14. Jahrhunderts beeinflusst sind. Bildlichen Ausdruck fand die Minneburg in Wandteppichen, Illustrationen und einer Gruppe von Elfenbeinkästchen, die mittelalterliche Haltungen zu Liebe und Ehe grandios ins Bild setzen und das Motiv der Eroberung der Frau durch den Ritter visualisieren. Mit der bislang weitgehend ungeklärten Frage nach den Ursprüngen dieses im Spätmittelalter ins Bild gebrachten Motivs greift Alexandra Gajewski ein Desiderat der For- schung auf. Sie argumentiert, dass die Minneburg zeige, wie die mittelalterliche Gesellschaft die Assoziationen Krieg und Liebe, Sex und Ehe wahrgenommen habe und identifiziert ein komplexes Geflecht verschiedener Traditionen, die zeitgenössische Vorstellungen über die Zusammenhänge zwischen Liebe, Frauen und Krieg abbilden.

Die Beziehungen zwischen Ritter und edler Dame in der höfischen Welt des Parzival in der Version des Wolfram von Eschenbach untersucht Judith Lange und arbeitet heraus, dass Krieg argumentativ genutzt wird, wenn Frauendienst und Minneverhalten fehlgeleitet sind und in einer Art und Weise erfolgen, die der höfischen Gesellschaft nicht zuträglich sind. Der Beitrag erfasst einen enor- men Variantenreichtum an Konstellationen von Minne und Herrschaft und Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit und den daraus resultierenden Interaktionen der Geschlechter, die Wolfram nicht in einfachen Dichotomien verortet. Vielmehr scha@ Wolfram situativ variable Handlungsräume für beide Geschlechter und erläutert an differenten Verhaltensweisen und Emotionen die daraus resultierenden Konsequenzen für die höfische Welt und ihre Gesellschaft.

Höfischer Roman und Heldenepik sind auch für Sonja Kerth Textbasis in ihrer Beschäftigung mit dem Phänomen Trauma und der zentralen Fragestel- lung, wie die höfische Gesellschaft mit dem Erleben und den Folgen extremer Gewalt und Krieg umgeht. Sie kann zeigen, dass Trauma als Verwundung see- lischer Art mit Emotionsbündeln aus Trauer, Furcht, Schrecken, Hilflosigkeit gekoppelt und Männern wie Frauen in einer Weise zugeschrieben wird, die den gängigen Geschlechter- und Standesentwürfen entgegenlaufen und Blicke auf Personen werfen lassen, die in ihren Rollen nicht mehr funktionieren. Zu erken- nen sind traumatisierte Frauen und effeminierte Männer, die als Opfer konzi- piert werden. Dass es sich dabei jeweils um die Hauptprotagonisten handelt, die mit Traumata und Wahnsinn belegt werden, ist nach Kerth als ein situativ aus der Handlung heraus entwickeltes narratives Mittel zu entschlüsseln.

Geschlecht, Gewalt und Ehre als zentrale Kriterien erfasst Nadeem Khan in arabischen Quellen zur Zeit der Kreuzzüge mit Geschichten zu muslimischen und christlichen Geschlechterbeziehungen. Deutlich wird die Verknüpfung von Männlichkeit und Ehre, für die wiederum der weibliche Körper in seiner Unver- sehrtheit ein wichtiges Kriterium darstellt. Dessen Verteidigung, wenn nötig auch mit Gewalt, wird zum obersten handlungsleitenden Motiv für ehrbasiertes Handeln. Die Geschichten über ehrbasiertes Töten von Frauen, um ihnen Ver- sklavung und Vergewaltigung zu ersparen, sind anekdotisch, lassen sich aber als Teile eines übergeordneten Narrativs erfassen, das Männlichkeit und Ehre auf muslimischer Seite verortet und von den ehrlos handelnden christlichen Män- nern abgrenzt, die den Körper ihrer Frauen nicht schützen. Geschlecht, männ- liche Ehre und weiblicher Körper sind Bestandteile einer geschlechtsbezogenen Polemik zwischen andersreligiösen Gegnern.

Bea Lundt wirft transkulturelle Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt am Beispiel der Erzählungen von den ‚Sieben Weisen Meistern‘, die langfristig und global in unterschiedlichen Varianten bis in die Moderne hinein verfügbar sind. Lange als Beleg für ein misogynes Mittelalter interpretiert, wird hier erst im transkulturellen Vergleich deutlich, dass die Geschlechter in unterschiedlichen Erzähltraditionen unterschiedlich agieren. Geschlechtergrenzen werden über- schritten. Die im Zentrum der Handlung stehende geraubte Frau agiert ebenso wenig entsprechend der geschlechterkonformen Ideale und Vorstellungen wie die Männer. Die Rollen von Täter und Opfer sind verdreht, wenn der schwache Herrscher, der sich die starke Frau als Beraterin sucht, von ihr vergewaltigt wird.

Einordnend in die Forschungslandschaften der letzten Jahrzehnte und die zwischen Vormoderne und Moderne differierenden Geschlechtermodelle plä- diert Bea Lundt für eine transkulturelle Sicht auf Geschlechterverhältnisse und formuliert für die Mediävistik als Agenda 2030 die Überwindung der in der europäischen Moderne entstandenen Binaritäten und den damit einhergehenden Denkgewohnheiten und Ordnungsschemata.

Details

Seiten
534
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783631830925
ISBN (ePUB)
9783631830932
ISBN (MOBI)
9783631830949
ISBN (Hardcover)
9783631826874
DOI
10.3726/b17348
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Schlagworte
Geschlechtergeschichte Europäische Kriege Kreuzzüge Weibliche Eliten Transkulturalität Kulturwissenschaft
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 534 S., 5 farb. Abb., 13 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Amalie Fößel (Band-Herausgeber:in)

Amalie Fößel ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte des Mittelalters an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Politik, Religion, Kultur, den mittelalterlichen Häresien, der Herrschaftsausübung und Macht mittelalterlicher Königinnen und weiblicher Eliten im europäischen Vergleich.

Zurück

Titel: Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter