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Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen im französischen Arbeitsrecht

von Miriam Engler (Autor:in)
©2021 Dissertation 244 Seiten

Zusammenfassung

Die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen ist ein aktuelles und politisch brisantes Thema. Ab dem Jahr 2016 erfuhr es in Frankreich und Deutschland neue Impulse durch die Gesetzgebung. Das französische Recht geht mit der Sammelklage für kollektive Diskriminierungen und dem verpflichtenden Index für berufliche Gleichstellung einen anderen Weg als das deutsche Entgelttransparenzgesetz. Die Autorin analysiert und erläutert im Rechtsvergleich die rechtlichen Instrumente des französischen Rechts, die die Entgeltgleichheit zum Ziel haben. Dazu gehören der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, das Diskriminierungsrecht und die Maßnahmen des kollektiven Arbeitsrechts. Ihre Analyse verdeutlicht die anhaltenden Umsetzungsschwierigkeiten in beiden Rechtssystemen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Table of Contents
  • § 1 Einleitung
  • A. Methode und Ziel der Untersuchung
  • B. Forschungsstand und Gang der Untersuchung
  • § 2 Einführung
  • A. Historische Entwicklung
  • B. Der europarechtliche Rahmen
  • C. Die Gleichheit in der Verfassung
  • I. Anwendbarkeit im privaten Arbeitsrecht
  • II. Herleitung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes
  • III. Rechtsvergleichende Zusammenfassung
  • D. Zwei Regelungssysteme für Entgeltgleichheit
  • I. Abgrenzung zu den Begriffen des Europarechts
  • II. Dogmatische Abgrenzung
  • III. Anspruchskonkurrenz
  • IV. Rechtsvergleichende Stellungnahme
  • 1. Vergleichbares System im französischen, deutschen und europäischen Recht
  • 2. Forderung eines einspurigen Systems im Arbeitsrecht
  • E. Die rechtliche Geschlechterkonzeption
  • I. Rechtslage in Frankreich
  • II. Rechtslage in Deutschland
  • III. Rechtsvergleichende Würdigung
  • F. Zusammenfassung
  • § 3 Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz
  • A. Inhalt und Anwendungsbereich
  • I. Gleiche Situation (situation identique)
  • 1. Derselbe Arbeitgeber
  • 2. Dieselbe Rechtsquelle
  • II. Gleiche oder gleichwertige Arbeit
  • III. Entgelt und jeder Vorteil
  • IV. Anwendbarkeit auf tarifvertragliche Entgeltregelungen
  • V. Rechtsvergleichende Würdigung
  • 1. Keine allgemeine Regel „gleiches Entgelt für gleiche Arbeit“ im deutschen Arbeitsrecht
  • 2. Individuelle Vertragsfreiheit
  • 3. Anwendung auf Tarifverträge
  • B. Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
  • I. Objektive, sachdienliche und materiell nachprüfbare Gründe
  • 1. Rechtfertigungsgründe und ihre Ausnahmen
  • a. Rechtfertigungsgründe aus der Sphäre des Arbeitnehmers
  • b. Wirtschaftliche und soziale Gründe
  • c. Kollektive Organisation
  • d. Gesetze und Gerichtsentscheidungen
  • 2. Keine anerkannten Rechtfertigungsgründe
  • II. Ungleichbehandlungen durch Tarifverträge
  • 1. Rechtslage in Frankreich
  • 2. Rechtsvergleichende Würdigung
  • C. Rechtsfolgen und Gerichtsverfahren
  • I. Ansprüche des Arbeitnehmers
  • II. Gleichbehandlung zulasten des Arbeitnehmers
  • III. Gerichtsverfahren
  • D. Zusammenfassung
  • § 4 Diskriminierungsrecht
  • A. Anwendungsbereich und Rechtfertigung
  • B. Rechtsfolgen und Sanktionen
  • I. Rechtsfolgen des Zivilrechts
  • II. Strafnormen des Straf- und Arbeitsgesetzbuchs
  • III. Rechtsvergleichendes Fazit
  • C. Systemische Diskriminierung (discrimination systémique)
  • D. Rechtsschutz durch Verfahren
  • I. Schutz des Betroffenen, der Zeugen und Whistleblower
  • II. Beweisführung
  • 1. Darlegungs- und Beweislast
  • 2. Statistiken als Beweismittel
  • a. Clerc-Methode (méthode Clerc)
  • b. Allgemeine Statistiken
  • c. Rechtsvergleichende Würdigung
  • 3. Ermittlungsmaßnahmen (mesures d’instruction) des Richters
  • a. Ermittlungsmaßnahmen im Hauptverfahren
  • b. Ermittlungsmaßnahmen im vorläufigen Rechtsschutz (mesures d’instruction in futurum)
  • III. Rechtsvergleichende Würdigung
  • 1. Beweiserleichterung durch Beweismaßsenkung
  • 2. Der Zugang zu beweiserheblichen Informationen
  • IV. Zusammenfassung
  • E. Kollektiver Rechtsschutz
  • I. Überblick
  • II. Substitutionsklage (action en substitution)
  • III. Sammelklage (action de groupe)
  • 1. Die Zulässigkeit (recevabilité)
  • 2. Schlichtungsverfahren
  • 3. Hauptverfahren
  • a. Ablauf
  • b. Beweisführung und Bestimmung der Gruppe
  • c. Umsetzung in der Praxis
  • IV. Kritische Würdigung
  • 1. Begrenzter Ersatz der erlittenen Nachteile
  • 2. Begrenzte Klagebefugnis
  • 3. Systemische Diskriminierung
  • V. Rechtsvergleichende Würdigung
  • F. Kontrolle durch staatliche Behörden
  • I. Arbeitsinspektion (inspection du travail)
  • II. Rechtsverteidiger (Défenseur des droits [DDD])
  • G. Zusammenfassung
  • § 5 Kollektivarbeitsrechtliche Maßnahmen
  • A. Die Wirtschafts- und Sozialdatenbank
  • B. Rechte und Pflichten des Wirtschafts- und Sozialausschusses
  • C. Verhandlungspflichten der Koalitionen
  • I. Sinn und Zweck
  • II. Verhandlungsebene
  • III. Voraussetzungen der Verhandlungspflichten
  • IV. Verhandlungen auf Unternehmensebene
  • 1. Allgemein
  • 2. Beispiele aus der Praxis
  • a. Ziele
  • b. Maßnahmen
  • c. Budget
  • V. Einseitiger Aktionsplan (plan d’action unilatéral) des Unternehmens
  • D. Kontrolle und Sanktionen der Behörden
  • E. Kritische Würdigung
  • I. Konkurrenz zwischen Branchen- und Unternehmenstarifvertrag
  • II. Umsetzung in der Praxis
  • F. Rechtsvergleichende Stellungnahme
  • I. Verhandlungspflichten versus Mitbestimmungsrechte
  • II. Information der Arbeitnehmervertreter
  • § 6 Ein einheitlicher Index für Entgeltgleichheit
  • A. Die Berechnung des Index
  • I. Berechnungsgrundlagen
  • 1. Berechnungsebene
  • 2. Schwellenwert
  • 3. Die Indikatoren
  • a. Unternehmen mit mehr als 250 Arbeitnehmern
  • b. Unternehmen mit 50 bis 250 Arbeitnehmern
  • II. Berechnungsmethode für den Indikator Entgeltlücke
  • 1. Datenerhebung und Referenzzeitraum
  • 2. Bildung der Vergleichsgruppen
  • 3. Berechnung der Entgeltlücke je Gruppe und der Gesamtentgeltlücke
  • III. Berechnung der weiteren Indikatoren
  • 1. Individuelle Gehaltserhöhungen und Beförderungen
  • 2. Gehaltserhöhung nach dem Mutterschaftsurlaub und die zehn höchsten Gehälter
  • IV. Zusammensetzung des Index
  • B. Unterstützung, Kontrolle und Sanktionen durch die Behörden
  • C. Information der Arbeitnehmervertreter und Festlegung der Korrekturmaßnahmen
  • D. Kritische Würdigung
  • I. Umsetzung in der Praxis
  • II. Fehlende Diskussion der rechtlichen Probleme in Frankreich
  • III. Systematische Einordnung
  • IV. Starre Quoten durch die Hintertür?
  • 1. Rechtliche Grundlagen
  • 2. Einordnung der Indexberechnung
  • 3. Ergebnis
  • V. Festlegung rechtmäßiger Korrekturmaßnahmen
  • 1. Positive Maßnahmen
  • 2. Rechtsvergleichende Stellungnahme
  • VI. Datenschutz
  • VII. Auswirkungen auf Gerichtsverfahren
  • E. Rechtsvergleichende Würdigung
  • I. Statistik in der deutschen Rechtsordnung
  • 1. Mietrecht
  • 2. Bankenrecht
  • 3. Kirchliches Arbeitsrecht
  • 4. Arbeitsrecht
  • II. Gesetzlich geregelte Indizes als struktureller Lösungsansatz für strukturelle Probleme
  • III. Ergebnis
  • § 7 Zusammenfassung
  • A. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz
  • B. Diskriminierungsrecht
  • C. Verhandlungspflichten und Aktionsplan
  • D. Index
  • Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der Übersichten
  • Verzeichnis der französischen Fachbegriffe

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§ 1 Einleitung

Lohnfindung in einem globalisierten, dynamischen Markt ist ein komplexer Prozess mit vielen Akteuren. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die Koalitionen und die Arbeitsvertragsparteien ein. Daher befindet sich arbeitsrechtliche Entgeltgestaltung im politischen Spannungsfeld der grundrechtlich geschützten Gleichheit, Vertragsfreiheit und Koalitionsfreiheit. Nachdem die formale Gleichheit im Rechtssystem geleistet wurde, liegt der Schwerpunkt der gesellschaftlichen und juristischen Diskussion auf der tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsrecht.1 In den Jahren 2017 und 2018 setzten die nationalen Gesetzgeber in Island, Großbritannien, Frankreich und Deutschland neue Impulse für Entgelttransparenz und Entgeltgleichheit. Die neuen Regelungen bezwecken die tatsächliche Entgeltgleichstellung von Männern und Frauen im Entgeltbereich.

A. Methode und Ziel der Untersuchung

Diese Arbeit untersucht die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen im französischen Arbeitsrecht, wobei die Methode der Rechtsvergleichung verwendet wird.2 Das französische Recht wird für den deutschen Leser verständlich und neutral berichtet. Es werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des deutschen und französischen Rechts herausgearbeitet. Die abweichenden Ansätze und Lösungswege der beiden Systeme werden kritisch bewertet und verglichen. Da bisher keine rechtswissenschaftliche Arbeit zur Entgeltgleichheit im französischen Arbeitsrecht vorliegt, ist der Länderbericht genauer ausgearbeitet. Die deutsche Rechtslage wird als bekannt vorausgesetzt und bildet die Grundlage für die punktuellen rechtsvergleichenden Analysen.

In die Stellungnahmen zum französischen Arbeitsrecht und dessen Umsetzung fließen neben der französischen Rechtsliteratur und Rechtsprechung die Erkenntnisse aus einem Rechtsgespräch mit Guillaume Santoro ein, der zur ←23 | 24→beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern am rechtsvergleichenden Institut für Arbeitsrecht der Universität Bordeaux forscht.3

In der rechtsvergleichenden Arbeit mit dem französischen Zivilrecht ist eine Besonderheit zu beachten. Eine sehr wichtige Quelle ist die Rechtsprechung des höchsten ordentlichen Gerichts, dem Kassationshof (Cour de cassation). Der Kassationshof hat seine Urteile vor dem Jahr 2019 grundsätzlich nicht ausführlich begründet.4 Aus diesen Urteilen lassen sich nur begrenzt rechtliche Aussagen ableiten, weshalb der Rechtslehre (doctrine) eine größere Bedeutung zukommt. Erst nach einem langjährigen Reformprozess, der im Jahr 2014 begann, werden die Urteile seit 1.10.2019 in einer entwickelten Form (forme développée) verfasst.5 Die Sprache ist verständlicher und die Urteile werden gegliedert in: 1) Sachverhalt und Verfahren, 2) Revisionsgründe und deren Prüfung, 3) entscheidungserhebliche Normen. Wichtige Urteile, die etwa eine Rechtsprechungsänderung, neue rechtliche Lösungen oder eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung beinhalten, werden zudem rechtlich begründet. Aus diesen Urteilsbegründungen können daher auch die gewählte Auslegungsmethode, die vom Gericht erwogenen Alternativlösungen und die Entwicklung der Rechtsprechung abgeleitet werden. Alle Urteile des Kassationshofs sind auf der offiziellen Rechtsinformations-Webseite https://www.legifrance.gouv.fr abrufbar. Dort sind auch das Amtsblatt (Journal officiel), die Gesetzestexte, die Tarifverträge (conventions collectives, accords collectifs) und die erläuternden Verwaltungsvorschriften (instructions, circulaires) der allgemeinen Arbeitsdirektion (Direction générale du travail [DGT]) eingestellt.

B. Forschungsstand und Gang der Untersuchung

Ein rechtsvergleichender, französischer Aufsatz über das Thema „Gleichheit im Entgeltbereich in Deutschland und Frankreich“ inspirierte diese Arbeit.6 ←24 | 25→Er konzentriert sich auf die historischen Entwicklungen in beiden Ländern und auf das Verhältnis der Entgeltgleichheit zur Vertragsfreiheit und Tarifautonomie. In Deutschland existiert bereits ein allgemeiner Länderbericht zum französischen Diskriminierungsrecht im Straf-, Arbeits- und Zivilrecht.7 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich daher im Kapitel über das Diskriminierungsrecht auf die Beweisführung und auf die neuen Rechtsentwicklungen, wie die Sammelklage (action de groupe) und die systemische Diskriminierung (discrimination systémique). Das kollektive Arbeitsrecht vor den Verordnungen Macrons wurde bereits durch mehrere rechtsvergleichende Doktorarbeiten untersucht.8 Diese Arbeit wird daher im Kapitel über die kollektivarbeitsrechtlichen Maßnahmen für berufliche Gleichstellung nicht mehr ausführlich auf grundlegende Strukturelemente der französischen Arbeitnehmervertretung eingehen.

Das Recht der Europäischen Union zur Entgeltgleichheit ist bereits umfangreich wissenschaftlich bearbeitet.9 In dieser Arbeit wird die nationale Systematik in den Vordergrund gestellt. Auf die Bezüge zum Europarecht und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird punktuell hingewiesen. Der ursprünglich für das vierte Quartal des Jahres 2020 angekündigte Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Entgeltgleichheit und Lohntransparenz wird in dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt.

Die Arbeit beruht auf der geltenden Rechtslage vom 31.1.202110 und beginnt mit den Grundlagen der beruflichen Gleichstellung zwischen Frauen und Männern im französischen Arbeitsrecht (dazu § 2). Das Kapitel erlaubt einen historischen und rechtlichen Überblick über die zahlreichen Regelungen des nationalen und internationalen Arbeitsrechts. In den beiden folgenden Kapiteln werden der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz und das Diskriminierungsrecht behandelt (dazu § 3 und § 4). In § 5 werden die Regelungen des kollektiven Arbeitsrechts untersucht. Dazu gehören die Rechte der gewählten ←25 | 26→Arbeitnehmervertretung (comité social et économique [CSE]) und die Pflicht der Koalitionen, über Ziele und Maßnahmen für die berufliche Gleichstellung von Männern und Frauen zu verhandeln (obligation de moyens). Zuletzt widmet sich Kapitel 6 der jüngsten gesetzlichen Maßnahme, dem Index de l’égalité professionnelle entre les hommes et les femmes.11 Der Arbeitgeber ist demnach verpflichtet, einen Index nach einer festgelegten Methode zu berechnen, zu veröffentlichen und innerhalb von drei Jahren einen bestimmten Indexwert zu erreichen (obligation de résultat).

Das französische Arbeitsrecht ist durch das französische Arbeitsgesetzbuch (Code du travail) umfangreich geregelt. Viele Regelungsgegenstände können sich ebenfalls auf Entgeltunterschiede zwischen Männern und Frauen auswirken, wie der Mindestlohn12, die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie13 oder der Schutz der Teilzeitbeschäftigten.14 Um diese Arbeit einzugrenzen, werden sie nicht besprochen.

Aufgrund der Diskussion um geschlechtergerechte Sprache in Deutschland und Frankreich wird darauf hingewiesen, dass in dieser Arbeit das geschlechtsneutrale generische Maskulinum verwendet wird. Wenn Lebenssachverhalte wiedergegeben werden oder das biologische Geschlecht einer Person relevant ist, wird dies über die Adjektive divers, männlich, weiblich oder die weibliche Endung -in kenntlich gemacht.

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§ 2 Einführung

Die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes ist im modernen politisch-juristischen System Europas von großer Bedeutung. Es soll eine diskriminierungsfreie Gesellschaft mit gleichen Chancen geschaffen werden. Die Gleichheit zwischen den Geschlechtern nimmt dabei seit Beginn des Prozesses eine Pionierrolle ein.15 In diesem Prozess entwickelten sich auf Ebene des Völkerrechts, Europarechts und des nationalen Rechts eine Vielzahl von Normen, die eine transparente und gleiche Entlohnung zum Ziel haben. Die Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Gerichte trug entscheidend zur Konkretisierung und Umsetzung des Entgeltgleichheitsgrundsatzes bei.

A. Historische Entwicklung

Der Wegbereiter der Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen war das internationale und europäische Recht. Die rechtliche Entwicklung begann als Teil des Völkerrechts mit dem Vertrag von Versailles von 1919. Der Grundsatz ist im Gründungsteil der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) enthalten und ist Bestandteil jedes der Pariser Vorortverträge.16 Die Verfassung der ILO gründete auf der Sorge einer destruktiven Spirale der internationalen Handelsbeziehungen. Nach Aussage des Verhandlungsleiters der britischen Delegation standen neben den humanitären Gründen auch die wirtschaftlichen Befürchtungen vor dem aufstrebenden Osten und europäischen Ländern mit schlechten Arbeitsbedingungen hinter der Gründung der ILO.17 Britische, französische und amerikanische Frauenorganisationen und Gewerkschaftsgruppen setzten sich mit Erfolg bei der von der Versailler Friedenskonferenz beauftragten Kommission für die Aufnahme des Grundsatzes „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ein.18 Deutschland wurde auf Druck des Internationalen Gewerkschaftsbunds ←27 | 28→schon im Oktober 1919 in die ILO aufgenommen.19 Die ILO erreichte mit den Konventionen Nr. 100 über die Gleichheit des Entgelts (1951), Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, Nr. 175 über die Teilzeitarbeit (1994), Nr. 177 über Heimarbeit (1996) und Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte (2011) Verbesserungen der internationalen Arbeitsschutzstandards, insbesondere für Arbeitnehmerinnen.

Frankreich erwies sich bei den Verhandlungen zum EWG-Vertrag 1957 als eine treibende Kraft für den Entgeltgleichheitsgrundsatz zwischen Männern und Frauen im europäischen Recht und konnte sich gegen den Widerstand der anderen europäischen Länder durchsetzen.20 Der französische Gesetzgeber hatte 1945 den Begriff des Frauenlohns abgeschafft21 und es existierte vermutlich eine erheblich geringere Entgeltlücke, insbesondere in der Textilindustrie.22 Um Wettbewerbsverzerrungen für französische Unternehmen zu vermeiden, verpflichtete der EWG-Vertrag die Mitgliedstaaten zur Anwendung des Entgeltgleichheitsgrundsatzes zwischen Männern und Frauen.23 Eine Umsetzung fand in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten nur sehr zögerlich statt.24 Einen klaren Umsetzungsbefehl enthielt nochmals die Entgeltgleichheitsrichtlinie 75/117/EWG. Im Jahr 1976 verhalf der EuGH mit dem Urteil Defrenne II der primärrechtlichen Regelung zu unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten.25 Im Jahr 2006 wurden die zuvor erlassenen Richtlinien in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG zusammengeführt. Diese ist heute neben der Richtlinie (RL) 2000/78/EG die zentrale sekundärrechtliche Grundlage für die Gleichheit zwischen Männern und Frauen im Arbeitsrecht.

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Frankreich nahm 1972 die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen in das französische Arbeitsgesetzbuch auf.26 Das Gesetz Roudy von 1983 wollte die Chancengleichheit von Frauen und Männern erreichen.27 Der Abbau von Ungleichheiten sollte im allgemeinen Rahmen der beruflichen Gleichstellung erfolgen.28 Auf Unternehmensebene sollten kollektive Verhandlungen für Verbesserungen der beruflichen Gleichstellung sorgen. Ab 2001 wurde der Arbeitgeber verpflichtet, Verhandlungen über die Ziele und Maßnahmen für berufliche Gleichstellung mit den Gewerkschaften aufzunehmen.29 Dieser neue Ansatz wurde in den folgenden Gesetzen schrittweise verstärkt: Ab 2006 musste im Rahmen der Verhandlungen zur beruflichen Gleichstellung insbesondere über die Schließung des Lohngefälles zwischen Männern und Frauen verhandelt werden.30 2010 wurden Unternehmen ohne abgeschlossene Kollektivvereinbarung unter Androhung einer Sanktion verpflichtet, einen sog. Aktionsplan (plan d’action) für berufliche Gleichstellung zu erstellen.31 2012 wurden zusätzlich zu den Verhandlungen über die berufliche Gleichstellung Verhandlungen über die Gehälter im Unternehmen verpflichtend.32

In der französischen Rechtsprechung fand eine besonders bemerkenswerte Entwicklung statt. Im Arrêt Ponsolle von 1996 stellte der Kassationshof fest, dass die Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern nur ein Anwendungsfall der allgemeinen Regel „gleiches Entgelt für gleiche Arbeit“ („à travail égal, salaire égal“) sei.33 Seit 2007 bildete er diese Regel zum Gleichbehandlungsgrundsatz ←29 | 30→(principe d’égalité de traitement) fort, indem ihr Anwendungsbereich auf alle Vorteile aus dem Arbeitsverhältnis erweitert wurde.34

Details

Seiten
244
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631864814
ISBN (ePUB)
9783631864821
ISBN (MOBI)
9783631864838
ISBN (Hardcover)
9783631863183
DOI
10.3726/b18867
DOI
10.3726/b18906
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 244 S.

Biographische Angaben

Miriam Engler (Autor:in)

Miriam Engler studierte Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Nach der Ersten Juristischen Staatsprüfung war sie promotionsbegleitend als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR) in München tätig.

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Titel: Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen im französischen Arbeitsrecht
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