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Die materielle Gültigkeit von internationalen Gerichtsstandsvereinbarungen

von Jeannette Hamm (Autor:in)
©2021 Dissertation 262 Seiten

Zusammenfassung

Die Bestimmung der materiellen Gültigkeit von internationalen Gerichtsstandsvereinbarungen bleibt problematisch, und zwar auch nach Schaffung einer eigenen Kollisionsnorm im Zuge der letzten Reform der Brüssel I-VO. Die Ausgestaltung als Gesamtverweisung und der Mangel an autonomen Kollisionsnormen scheinen an den zuvor geführten rechtswissenschaftlichen Diskussionen kaum etwas zu ändern. Gerade vor dem Hintergrund der enormen praktischen Bedeutung von Gerichtsstandsvereinbarungen für den internationalen Wirtschaftsverkehr wird mangelnde Rechtssicherheit beklagt. Die Autorin präsentiert in rechtstechnischer Hinsicht einen stringenten Ansatz im Umgang mit dem geltenden Recht. Sie zeigt ebenso Möglichkeiten auf, die zur Lösung der Problematik de lege ferenda in Betracht kommen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung
  • B. Zur Konzeption der Gerichtsstandsvereinbarung und ihrer rechtlichen Einordnung
  • I. Anwendungsbereich und Verhältnis der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen
  • 1. Artt. 1 ff. HGÜ
  • a.) Ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen
  • b.) Internationaler Sachverhalt in Zivil- und Handelssachen
  • c.) Vertragsstaatenbezug
  • 2. Art. 25 Brüssel Ia-VO
  • a.) Ausschließliche und nicht ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen
  • b.) Territorialer Anwendungsbereich: Kriterium des Wohnsitzes und Vereinbarung mitgliedstaatlicher Gerichtsbarkeit
  • c.) Reine Inlandssachverhalte
  • d.) Bezug zum EU-Gebiet
  • e.) Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich
  • f.) Prorogation und Derogation
  • 3. §§ 38 und 40 ZPO
  • 4. Verhältnis der Vorschriften untereinander
  • II. Gerichtsstandsvereinbarung als vom Hauptvertrag zu trennende Abrede
  • 1. Art. 23 Brüssel I-VO und Art. 25 Abs. 5 Brüssel Ia-VO
  • 2. Art. 3 lit. d HGÜ
  • 3. §§ 38 und 40 ZPO
  • C. Materielle (Un-)Gültigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen
  • I. Regelungsgehalt von Brüssel Ia-VO, HGÜ und ZPO
  • 1. Entwicklung der europäischen Vorschriften auf dem Weg zu Art. 25 Brüssel Ia-VO
  • a.) Rechtslage nach Art. 23 Brüssel I-VO/Art. 17 EuGVÜ
  • b.) Art. 23 EuGVVO-E
  • c.) Reaktionen des Europäischen Parlaments
  • d.) Abweichender Vorschlag von Heinze
  • e.) Art. 25 Brüssel Ia-VO
  • 2. Rechtslage nach dem HGÜ
  • 3. Rechtslage nach der ZPO
  • II. Offene Fragen nach der aktuell geltenden Rechtslage
  • 1. Inhaltliche Bedeutung der Kollisionsnorm – Sachnorm- oder Gesamtverweisung
  • a.) Art. 5 HGÜ
  • b.) Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia-VO
  • aa.) Art. 23 EuGVVO-E
  • bb.) Reaktionen des Europäischen Parlaments
  • cc.) Art. 25 Brüssel Ia-VO
  • c.) §§ 38 und 40 ZPO
  • 2. Die Frage nach dem anwendbaren IPR
  • a.) Zeitlicher Geltungsbereich der Artt. 27 ff. EGBGB a.F.
  • aa.) Befürworter der Einordnung der Gerichtsstandsvereinbarung als in erster Linie materiell-rechtlicher Vertrag
  • aaa.) Rechtsprechung des BGH und einiger Oberlandesgerichte
  • bbb.) Deutsche Rechtslehre
  • bb.) Befürworter der Einordnung der Gerichtsstandsvereinbarung als Prozessvertrag
  • b.) Zeitlicher Geltungsbereich der Artt. 3 ff. Rom I-VO
  • aa.) Anwendung der Artt. 3 ff. Rom I-VO
  • aaa.) Lex contractus
  • bbb.) Lex fori prorogati
  • ccc.) Lex fori
  • bb.) Weitere (analoge) Anwendung von Artt. 27 ff. EGBGB a.F.
  • 3. Gesetzesvorschlag de lege ferenda
  • 4. Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Regelungskomplexen unter besonderer Berücksichtigung der Reichweite des jeweiligen Kollisionsrechts
  • a.) Art. 25 Brüssel Ia-VO
  • aa.) Auslegung
  • bb.) Generelle Zulässigkeitsschranken
  • aaa.) Missbrauchskontrolle mit Blick auf zwingende Normen
  • (1.) Höchstrichterliche Rechtsprechung
  • (2.) Diskussion und Lösung
  • bbb.) Allgemeine Missbrauchskontrolle
  • (1.) Diskussion in der Literatur
  • (a.) Anerkennung eines europarechtlichen Missbrauchsvorbehalts
  • (b.) Wunsch nach europarechtlicher Missbrauchskontrolle im Wege der Rechtsfortbildung
  • (c.) Generelle Ablehnung einer Missbrauchskontrolle
  • (2.) Rechtsprechung des EuGH
  • (3.) Rechtsprechung der deutschen Gerichte
  • (4.) Diskussion und Lösung
  • (a.) Rechtssicherheit
  • (b.) Kurze Verfahren
  • (c.) Schutzbedürftigkeit
  • (d.) Willensmängel
  • (e.) Bewusste Entscheidung des Verordnungsgebers
  • (f.) Sonderfall: Gerichtsstandsvereinbarungen in Verbraucherverträgen
  • cc.) Form
  • dd.) Willenseinigung
  • aaa.) Art. 17 EuGVÜ und Art. 23 Brüssel I-VO
  • (1.) Rechtsprechung des EuGH zum Tatbestand des Konsenses
  • (2.) Praxis in den EU-Mitgliedstaaten
  • (3.) Streitstand in der Literatur
  • (a.) Dem EuGH gegenüber kritische Stimmen
  • (b.) Dem EuGH folgende Stimmen
  • bbb.) Art. 25 Brüssel Ia-VO
  • ee.) Exkurs: Sonderproblem “consideration“
  • ff.) Über die Willenseinigung hinausgehende Fragen der materiellen Gültigkeit
  • aaa.) Aussagen des EuGH zum Prorogationsstatut
  • bbb.) Abgrenzung im Einzelnen
  • (1.) Reichweite der Formulierung „materiell nichtig“
  • (2.) Gesetz- und Sittenwidrigkeit
  • (3.) Bindung Dritter an die Gerichtsstandsvereinbarung
  • (4.) Gebundenheit an eine abgegebene Willenserklärung
  • (5.) Willensmängel
  • (6.) Teilfragenanknüpfung im Gegensatz zum allgemeinen Prorogationsstatut, insbesondere: Geschäftsfähigkeit und Stellvertretung
  • gg.) Verdrängung der Kollisionsnorm durch das CISG
  • hh.) Zusammenfassung der Reichweite
  • ii.) Lösung für die Frage nach dem anwendbaren Recht
  • aaa.) Fortführung der Lösung über eine Analogie zu Artt. 3 ff. Rom I-VO
  • bbb.) Fortführung der Lösung über eine gegebenenfalls analoge Anwendung der Artt. 27 ff. EGBGB a.F.
  • ccc.) Lösung
  • b.) HGÜ
  • aa.) Auslegung
  • bb.) Zulässigkeitsschranken
  • cc.) Form
  • dd.) Willenseinigung
  • ee.) Über die Willenseinigung hinausgehende Fragen der materiellen Gültigkeit
  • aaa.) Reichweite der Formulierung „ungültig“
  • bbb.) Gesetz- und Sittenwidrigkeit
  • ccc.) Bindung Dritter an die Gerichtsstandsvereinbarung
  • ddd.) Gebundenheit an eine abgegebene Willenserklärung
  • eee.) Willensmängel
  • fff.) Sonderanknüpfungen
  • ff.) Verdrängung der Kollisionsnorm durch das CISG
  • gg.) Zusammenfassung der Reichweite
  • hh.) Lösung für die Frage nach dem anwendbaren Recht
  • aaa.) Abkehr vom dogmatischen Ansatz
  • bbb.) Fortführung einer analogen Anwendung der Artt. 27 ff. EGBGB a.F.
  • ccc.) Analoge Anwendung der Artt. 3 ff. Rom I-VO
  • c.) §§ 38 und 40 ZPO
  • aa.) Auslegung
  • bb.) Zulässigkeitsschranken
  • cc.) Form
  • dd.) Willenseinigung und darüber hinausgehende Fragen der materiellen Gültigkeit
  • ee.) Zusammenfassung der Reichweite
  • ff.) Lösung für die Frage nach dem anwendbaren Recht
  • d.) Überlegungen de lege ferenda
  • aa.) Möglicher Inhalt einer Kollisionsnorm de lege ferenda
  • aaa.) Allgemeine Überlegungen
  • bbb.) Rechtswahlmöglichkeit
  • ccc.) Entscheidung zwischen lex fori, lex contractus und lex fori prorogati
  • ddd.) Sachnorm- oder Gesamtverweisung
  • eee.) Reichweite der Kollisionsnorm
  • fff.) Abgrenzung zur europäischen Lösung
  • ggg.) Lösungsvorschlag
  • bb.) Verortung der neuen Vorschrift
  • D. Zusammenfassung und Ausblick
  • I. Brüssel Ia-VO
  • 1. Zuordnung der materiellen Voraussetzung einer wirksamen Willenseinigung
  • 2. Wortwahl für diejenigen materiellen Wirksamkeitshindernisse, die von der Kollisionsnorm erfasst sind
  • 3. Reichweite der Kollisionsnorm im Übrigen
  • 4. Anwendbares Recht
  • 5. Fazit
  • II. HGÜ und ZPO
  • Literaturverzeichnis

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A. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich eingehend mit der Frage, nach welchen rechtlichen Maßstäben die materielle Gültigkeit von internationalen Gerichtsstandsvereinbarungen zu bestimmen ist.

Diese Frage hat erhebliche praktische Relevanz, denn Gerichtsstandsvereinbarungen spielen im internationalen Wirtschaftsverkehr eine tragende Rolle:1 Verträge mit grenzüberschreitendem Charakter enthalten für den Fall möglicher Rechtsstreitigkeiten neben der Bestimmung des anwendbaren Rechts regelmäßig eine solche Zuständigkeitsvereinbarung. Knapp 70 Prozent aller europäischen Unternehmen, die im Waren- oder Dienstleistungsbereich in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union agieren, und sogar 90 Prozent der Großunternehmen (mit mindestens 250 Mitarbeitern) machen davon Gebrauch.2

Dieser Bedeutung entsprechend hat die Europäische Kommission (im Folgenden: „EU-Kommission“) im Rahmen der grundlegenden Überarbeitung der europäischen Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: „Brüssel I-VO“)3 von Beginn an das Ziel formuliert, die Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern.4 Die ←13 | 14→Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet sie als „one of the most important jurisdictional devices of modern times“.5

Im Vergleich zur Bedeutung von Gerichtsstandsvereinbarungen in der Praxis des internationalen Wirtschaftsverkehrs ist die Zahl der gerichtlichen Urteile, die sich spezifisch der Wirksamkeit einer solchen Vereinbarung widmen, eher gering.6 Die Frage nach der (Un-)Zuständigkeit ist in aller Regel bloße Vorfrage; der Streit darüber kann häufig im Laufe des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens beigelegt werden.7

Anlass für diese Arbeit bieten die substantiellen Modifikationen der für Gerichtsstandsvereinbarungen geltenden Regeln in der Neufassung der Brüssel I-VO. Seit dem 10. Januar 2015 ist die heutige Verordnung8 in Kraft,9 die in allen EU-Mitgliedstaaten außer Dänemark10 unmittelbar Anwendung findet.

Dabei ist zu beachten, dass die Auslegung der Vorgängervorschriften durch den EuGH – gemeint sind Art. 17 des Brüsseler EWG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 (im Folgenden: „EuGVÜ“)11 und Art. 23 Brüssel I-VO – auch auf Art. 25 Brüssel Ia-VO übertragen werden kann, freilich nur, soweit die Bestimmungen dieser Rechtsakte als gleichwertig angesehen werden können; dies hat der EuGH im Verhältnis zwischen den nahezu wortgleichen Art. 17 EuGVÜ und Art. 23 Brüssel I-VO ←14 | 15→wiederholt ausdrücklich anerkannt.12 Auch in den neueren Entscheidungen zu Art. 25 Brüssel Ia-VO hat der Gerichtshof wie selbstverständlich auf die vorherige Rechtsprechung zu Art. 23 Brüssel I-VO Bezug genommen.13

Die Brüssel Ia-VO enthält eigene Regelungen zur Zulässigkeit, zur Form und zur Wirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen. Die materielle (Un-)Gültigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung richtet sich hingegen – zumindest in Teilen – nach dem nach den Regeln des Internationalen Privatrechts (im Folgenden: IPR) anwendbaren Sachrecht.

Die Frage, wie das insoweit anwendbare Sachrecht zu bestimmen ist, bleibt allerdings auch nach der Revision der Brüssel I-VO in weiten Teilen ungeklärt, wie nicht nur die fortgesetzten Auseinandersetzungen im Schrifttum zeigen, sondern auch die Tatsache, dass der Deutsche Rat für IPR das Thema bereits auf der Tagesordnung hatte.14

Der Versuch einer Beantwortung der offenen Fragen zur materiell-rechtlichen Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen wird den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden. Zwar enthält die Verordnung nach ihrer Revision für die Frage der materiellen Gültigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen erstmals eine einheitliche Kollisionsnorm: Art. 25 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Brüssel Ia-VO verweist insoweit auf das Recht im Staat des vereinbarten Gerichts (forum prorogatum). Ausweislich des Erwägungsgrundes 20 der Brüssel Ia-VO handelt es sich hierbei allerdings um eine Gesamtverweisung. Damit bleibt jedoch offen, welche Kollisionsregeln aus Sicht des deutschen IPR in Betracht kommen.15 Weitere EU-einheitliche Kollisionsnormen existieren insoweit nicht (mehr). Die Rom I-Verordnung von 200816 schließt in Art. 1 Abs. 2 lit. e ←15 | 16→Gerichtsstandsvereinbarungen aus ihrem Anwendungsbereich aus.17 Und die autonomen deutschen Kollisionsnormen der Artt. 27 ff. EGBGB a.F. wurden zum 17. Dezember 2009 durch das Gesetz zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Rom I-VO18 aufgehoben, so dass – zumindest auf den ersten Blick – nur eine Analogiebildung in Betracht kommt. Offen bleibt aber wiederum die Frage, welche Regelungen insoweit überhaupt analogiefähig sein könnten. Dieser Problematik soll ausführlich nachgegangen werden.

Innerhalb dieser Erörterungen wird auch der Einfluss von Eingriffsnormen auf Gerichtsstandsvereinbarungen untersucht. Der Begriff der Eingriffsnorm wird in Art. 9 Rom I-VO legaldefiniert: Es handelt sich dabei um eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ungeachtet des auf den Vertrag anzuwendenden Rechts ihre Wirkung entfaltet.

Die Definition findet sich deshalb in der Rom I-VO, die Regeln zum IPR – und nicht zum internationalen Zivilprozessrecht – enthält, weil die Eingriffsnorm dort, also im IPR, ihre originäre Wirkung entfaltet. Sie beinhaltet aus Sicht eines Staates unverzichtbare Werte oder Wertungen und findet aus diesem Grunde Anwendung "ungeachtet des auf den Vertrag anzuwendenden Rechts". Im internationalen Handelsverkehr hat grundsätzlich die Parteiautonomie oberste Priorität. Regelmäßig legen die Parteien das auf den Vertrag anzuwendende Recht in eigener Verantwortung durch Rechtswahl fest (vgl. Art. 3 Rom I-VO). Diese Rechtswahl bleibt jedoch unberücksichtigt, soweit dem eine Eingriffsnorm der erwähnten Art entgegensteht. Die Eingriffsnorm ist international zwingendes Recht und schränkt insoweit zumindest im Bereich des IPR die Parteiautonomie (nicht unerheblich) ein. Im Interesse der staatlichen Ordnung soll es einen solchen harten Kern zwingender Normen geben, dessen Geltung unabhängig vom Parteiwillen garantiert wird.

Wie aber verhält es sich bei Gerichtsstandsvereinbarungen, die – ebenso wie Rechtswahlklauseln im IPR – die Parteiautonomie verwirklichen? Zwar könnten Eingriffsnormen und die ihnen zugrundeliegenden Wertungen eines Staates theoretisch auch von Gerichten anderer Staaten beachtet werden; eine Garantie ihrer Durchsetzung gibt es jedoch nur vor den eigenen Gerichten. Deshalb ←16 | 17→stehen diese immer dann vor einem Problem, wenn ihre gesetzlich vorgesehene Zuständigkeit durch Gerichtsstandsvereinbarung erfolgreich abgewählt wird. Es besteht dann die Gefahr eines Umgehens oder Leerlaufens von Eingriffsnormen.

Inwieweit ein angerufenes Gericht dazu berechtigt (oder auch verpflichtet) sein soll, die Vereinbarkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung mit den eigenen Eingriffsnormen oder mit dem (internationalen) ordre public zu prüfen, wenn die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates eben nicht gewählt oder gar abgewählt wurde, ist Gegenstand lebhafter Diskussionen.19 Diese Problematik soll eingehend erörtert werden, insbesondere auch vor dem Hintergrund des Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO, nach dem im Falle ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen Gerichte, deren Zuständigkeit abgewählt wurde, bei ihnen dennoch anhängig gemachte Verfahren so lange auszusetzen haben, bis das auf Grundlage der Vereinbarung angerufene Gericht erklärt hat, dass es gemäß der Vereinbarung nicht zuständig ist.

Die Änderungen in Art. 25 und in Art. 31 Abs. 2 und Abs. 3 Brüssel Ia-VO sind bewusst an die Artt. 5 und 6 des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005 (im Folgenden: „HGÜ“)20 angelehnt,21 das am 1. Oktober 2015,22 also rund zehn Jahre nach Abschluss der Verhandlungen, für die Mitgliedstaaten der EU (zunächst mit Ausnahme von Dänemark)23 ←17 | 18→und Mexiko und am 1. Oktober 2016 zusätzlich für Singapur in Kraft getreten ist. Später kamen Montenegro24 und Dänemark25 hinzu. Neben diesen Staaten haben bislang die Vereinigten Staaten von Amerika,26 die Ukraine,27 China,28 die Republik Nordmazedonien29 und Israel30 das Übereinkommen gezeichnet; in Kraft getreten ist das HGÜ in diesen Ländern allerdings noch nicht.31 Der Beitritt weiterer Staaten wird erwartet; Beitrittsinteressenten sollen Argentinien, Australien, Costa Rica, Kanada und Neuseeland sein.32 In besonderem Maße wird auf die Ratifikation durch die USA gehofft; mit einem raschen Verfahren gerechnet wird allerdings eher nicht.33

Das HGÜ sieht mit einem globalen Geltungsanspruch international vereinheitlichte Regeln über die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen sowie – und darauf kommt es für diese Arbeit an – Bestimmungen für ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen vor. Ebenso wie Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia-VO enthält bereits Art. 5 Abs. 1 HGÜ eine Kollisionsnorm für Fragen der materiellen Gültigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen und verweist darin auf das Recht des forum prorogatum.34 Die Zielrichtung des Unionsgesetzgebers, ←18 | 19→Gerichtsstandsvereinbarungen zu stärken, entspricht auch der Zielrichtung des HGÜ.35 In seiner Präambel setzt das HGÜ die Gewährleistung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen letztlich mit einer Stärkung des internationalen Handels gleich. Dem europäischen Verordnungsgeber war es wichtig, ein reibungsloses Ineinandergreifen beider Übereinkommen zu ermöglichen.36 Nicht zuletzt aus Sicht von Praktikern wäre es höchst bedauerlich gewesen, wenn die beiden Regelungskomplexe Brüssel Ia-VO und HGÜ zu sehr voneinander abgewichen wären.37

Bei aller Nähe darf allerdings nicht übersehen werden, dass die sachlich weit umfassendere Brüssel Ia-VO ihr Augenmerk nicht genauso detailliert auf Gerichtsstandsvereinbarungen richten kann, wie es dem HGÜ als ausschließlich den Gerichtsstandsvereinbarungen gewidmetem Übereinkommen möglich ist.38 Und so bleiben auch nennenswerte Unterschiede zwischen beiden Normkomplexen erhalten. Insofern soll sich eine Gegenüberstellung der Regeln in der Brüssel Ia-VO mit den Regeln im HGÜ durch die gesamte Arbeit hindurchziehen. Für die Auslegung der Vorschriften des HGÜ wird im besonderen Maße der „Erläuternde Bericht“ der Professoren Trevor Hartley und Masato Dogauchi eine Rolle spielen, der mit denjenigen Staaten abgestimmt wurde, die das Übereinkommen in Den Haag ausgehandelt haben.39

Neben den Vorschriften des HGÜ sollen die Regeln des autonomen deutschen internationalen Zivilprozessrechts von Anbeginn vergleichend in die Arbeit einbezogen werden. Von Bedeutung ist dabei insbesondere die Zuständigkeitsnorm des § 38 Abs. 2 ZPO, die seinerzeit Art. 17 EuGVÜ nachgebildet wurde.40 Aufgrund des weiten Geltungsanspruchs der europäischen und internationalen Zuständigkeitsordnung kommen die Vorschriften der ZPO in der Praxis allerdings nur in stark begrenztem Maße zum Zuge.41

Nicht in vergleichbarer oder gesonderter Weise wird auf das in Lugano abgeschlossene Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die ←19 | 20→Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: „LugÜ“)42 eingegangen. Diesem Übereinkommen gehören neben den Mitgliedern der EU (einschließlich Dänemarks)43 nur wenige weitere europäische Staaten aus dem EFTA-Raum an, nämlich Island, Norwegen und die Schweiz.44 Nach Art. 61 LugÜ lässt dieses Abkommen ausdrücklich unter anderem die Brüssel I-VO und deren Änderungen unberührt. Art. 23 LugÜ ist zudem deckungsgleich mit Art. 23 Brüssel I-VO, der im Rahmen der Entstehungsgeschichte von Art. 25 Brüssel Ia-VO ohnedies weitreichend behandelt wird.45

Darüber hinaus werden in dieser Arbeit weitere EU-Bestimmungen über Gerichtsstandsvereinbarungen ausgespart, die außerhalb des Anwendungsbereichs der Brüssel Ia-VO in speziellen europäischen Verfahrensordnungen geregelt sind. Gemeint sind – bislang – Art. 4 EuUntVO für Unterhaltssachen,46 Art. 12 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 lit. b EuEheVO für Sorgerechtssachen,47 Art. 5 EuErbVO für Erbsachen,48 Art. 5 Abs. 2 und Art. 7 EuGüVO für eheliche ←20 | 21→Güterrechtsfragen49 und Artt. 5 und 7 EuPartVO für Güterrechtsfragen in eingetragenen Partnerschaften.50 Ein erheblicher Unterschied zu den Regelungen in der Brüssel Ia-VO, im HGÜ und in der ZPO besteht darin, dass diese speziellen EU-Rechtsakte den Beteiligten keine grundsätzlich freie Wahl des zuständigen Gerichts erlauben; vielmehr beschränken sie die Auswahl auf bestimmte Gerichte.51 Das Interesse an einer näheren Auseinandersetzung ist aber in erster Linie aus einem anderen Grunde begrenzt: Keine dieser Bestimmungen enthält eine besondere Kollisionsnorm für das auf Gerichtsstandsvereinbarungen anwendbare Recht.52 Für Regelungen zu Gerichtsstandsvereinbarungen in sonstigen speziellen völkerrechtlichen Verträgen, etwa Art. 31 Abs. 1 CMR,53 gilt Entsprechendes. Eine parallele Entwicklung der im Fokus dieser Arbeit stehenden Problematik ist somit für die genannten Spezialbereiche von vornherein ausgeschlossen.

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst die Konzeption der Gerichtsstandsvereinbarung vorangestellt und der Anwendungsbereich der verschiedenen vorhandenen Regelungen dargestellt werden, bevor vertieft auf die Frage der materiellen Gültigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen eingegangen wird. Am Schluss steht eine zusammenfassende Bewertung der geltenden Rechtslage nebst einer Stellungnahme zu möglichen weitergehenden gesetzgeberischen Lösungsvorschlägen.

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1 Vgl. Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 2010, 1, 11; Magnus, FS von Hoffmann, 664; Radicati di Brozolo, IPRax 2010, 121; Kröll, ZZP 113 (2000), 135.

2 Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Zusammenfassung der Folgenabschätzung, Begleitdokument zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), SEK (2010) 1548 endg., Abschnitt 2.3.1.

3 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000, ABl. 2001 L 12/1.

4 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), KOM(2010) 748 endg. (im Folgenden: „EuGVVO-E“), Abschnitt 3.1.3; Zusammenfassung der Folgenabschätzung (Fn. 2) Abschnitt 2.3.2.

5 Commission Staff Working Paper, Impact Assessment, Accompanying Document to the Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on Jurisdiction and the Recognition and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters (Recast), SEK (2010) 1547 endg., Abschnitt 2.3.1.1. (in deutscher Sprache ist nur die in Fn. 2 erwähnte Zusammenfassung verfügbar).

6 Vgl. Magnus, FS von Hoffmann, 664.

7 Magnus, FS von Hoffmann, 664.

8 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. 2012 L 351/1 (im Folgenden: „Brüssel Ia-VO“).

9 Vgl. Art. 81 Unterabs. 2 Brüssel Ia-VO.

10 S. Erwägungsgrund 41 der Brüssel Ia-VO; aufgrund einer entsprechenden Erklärung des Königreichs Dänemark vom 20. Dezember 2012 an die EU-Kommission finden die Bestimmungen der Brüssel Ia-VO aber auch dort über eine Umsetzung in nationales Recht Anwendung, s. ABl. 2013 L 79/4; dazu auch Reithmann/Martiny/Hausmann, Rn. 8.10.

11 ABl. 1972 L 299/32, in Kraft getreten in Deutschland am 1.2.1973, bekannt gemacht im BGBl. 1973 II S. 60.

12 EuGH 7.2.2013 – C-543/10, ECLI:EU:C:2013:62 Rn. 19 = EuZW 2013, 316 – Refcomp/Axa; EuGH 21.5.2015 C-322/14, ECLI:EU:C:2015:334 Rn. 27 = EuZW 2015, 565 – El Majdoub/CarsOnTheWeb; EuGH 21.5.2015 – C-352/13, ECLI:EU:C:2015:335 Rn. 60 = EuZW 2015, 584 – CDC/Akzo Nobel; EuGH 7.7.2016 – C-222/15, ECLI:EU:C:2016:525 Rn. 30 = EuZW 2016, 635 – Höszig/Alstom Power Thermal Services; dazu Backhaus, jurisPR-HaGesR 5/2017 Anm. 4; EuGH 28.6.2017 – C-436/16, ECLI:EU:C:2017:497 Rn. 31 = NJW 2018, 226 – Leventis und Vafeias/Malcon Navigation und Brave Bulk Transport.

13 EuGH 8.3.2018 – C-64/17, ECLI:EU:C:2018:173 Rn. 25 = BB 2018, 776 – Saey Home & Garden/Lusavouga-Máquinas e Accessórios Industrials; EuGH 18.11.2020 – C-519/19, ECLI:EU:C:2020:933 Rn. 41 = NZV 2021, 36 – Ryanair/DelayFix.

14 Vgl. hierzu Magnus, IPRax 2016, 521 ff.

15 Näher MüKo-BGB/v. Hein, Art. 4 EGBGB Rn. 166 f.

16 Verordnung Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom I“) vom 17.6.2008, ABl. 2008 L 177/6; im Folgenden: „Rom I-VO“.

17 Die entsprechende Vorläufervorschrift war Art. 1 Abs. 2 lit. d des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Übereinkommen von Rom) vom 19. Juni 1980, ABl. 1980 L 266/1 (im Folgenden: „EVÜ“).

18 Gesetz zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die VO (EG) Nr. 593/2008 v. 25. 6. 2009 (Rom I-Anpassungsgesetz), BGBl. I S. 1574.

19 Vgl. dazu Basedow, FS Magnus, 337, 344 mit zahlreichen Nachweisen.

20 ABl. 2009 L 133/3.

Details

Seiten
262
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631866641
ISBN (ePUB)
9783631866658
ISBN (MOBI)
9783631866665
ISBN (Hardcover)
9783631866627
DOI
10.3726/b19035
DOI
10.3726/b19063
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 262 S.

Biographische Angaben

Jeannette Hamm (Autor:in)

Jeannette Hamm studierte Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dort war sie anschließend als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung tätig. Seit einigen Jahren ist sie Richterin am Verwaltungsgericht in Köln.

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