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Interessenkollisionen bei der Bestellung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters beziehungsweise (vorläufigen) Sachwalters aus strafrechtlicher Sicht unter besonderer Berücksichtigung der unterlassenen Insolvenzanfechtung

von Helge Hölken (Autor:in)
©2022 Dissertation 456 Seiten

Zusammenfassung

Eine der Kernaufgaben des Insolvenzverwalters bzw. Sachwalters besteht in der Rückabwicklung von vorinsolvenzlichen Vermögensverfügungen nach den §§ 129 ff. InsO. Bei Interessenkollisionen kann indes ein Unterlassen der Insolvenzanfechtung für den Verwalter opportun erscheinen. Dann kommt zum einen eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht in Betracht. Zum anderen steht eine Untreue- und Bankrottstrafbarkeit im Raum. Der Autor setzt sich in dieser Publikation mit der Strafbarkeit des Verwalters aufgrund der pflichtwidrig unterlassenen Anfechtung – unter umfassender Berücksichtigung der insolvenzrechtlichen Hintergründe – auseinander. Im Anschluss an die materiell-rechtliche Beurteilung geht der Autor auf die strafprozessualen Schwierigkeiten bei der Beweisaufnahme und -würdigung ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Teil: Einleitung
  • 2. Teil: Insolvenzrechtlicher Hintergrund
  • A. Mitteilung an die Staatsanwaltschaft bei Verfahrenseröffnung/-ablehnung
  • B. Par conditio creditorum
  • C. Der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch aus §§ 143, 129 ff. InsO
  • I. Überblick über den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch
  • II. Funktion der Insolvenzanfechtung
  • 1. Mehrung der Insolvenzmasse
  • 2. Generalprävention
  • D. Die insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbestände im Überblick
  • I. Allgemeine Anfechtungsvoraussetzungen, § 129 InsO
  • II. Kongruenzanfechtung, § 130 InsO
  • III. Anfechtung inkongruenter Deckungen, § 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO
  • IV. Anfechtung unmittelbar benachteiligender Rechtshandlungen, § 132 InsO
  • V. Vorsatzanfechtung, § 133 InsO
  • VI. Anfechtung unentgeltlicher Leistungen, § 134 InsO
  • VII. Anfechtung bei Gesellschafterdarlehen, § 135 InsO
  • VIII. Anfechtung gegen einen Rechtsnachfolger, § 145 InsO
  • IX. Bargeschäftsprivileg, § 142 InsO
  • X. Rechtfolge, § 143 InsO
  • XI. § 144 InsO, Ansprüche des Anfechtungsgegners
  • E. Bestellung des Insolvenzverwalters
  • I. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Bestellungsentscheidung
  • II. Akt der Justiz
  • III. Die Unabhängigkeit
  • IV. Anzeigepflicht bei Interessenkollisionen
  • F. Einflussnahmemöglichkeiten der Insolvenzgläubiger
  • I. Gläubigerautonomie
  • II. Einflussnahmemöglichkeiten im Eröffnungsverfahren
  • 1. Vorschlagsrecht der Gläubiger, § 56 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 InsO
  • 2. Vorherige Beratung, § 56 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 InsO
  • 3. Vorläufiger Gläubigerausschuss, §§ 56 ff. InsO
  • a) Zusammensetzung
  • b) Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses
  • c) Einflussnahme bei der Verwalterbestellung
  • aa) „Beauty Contest“
  • bb) „Repeat-Player-Effect“
  • cc) „Ping-Pong-Spiel“ beziehungsweise Tandem oder Team-Building
  • dd) Family-and-Friends-Ausschüsse
  • ee) Verzicht auf Unabhängigkeit
  • d) Missbrauchsgefahren
  • III. Einflussnahmemöglichkeiten im eröffneten Verfahren
  • 1. Gläubigerausschuss, §§ 67 ff. InsO
  • 2. Gläubigerversammlung
  • a) Rechtsaufsicht des Insolvenzgerichts
  • b) Abwahl des Verwalters
  • c) Versagung der Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen
  • d) Missbrauchsgefahren
  • IV. ESUG Evaluation
  • V. Bewertung der ESUG Evaluation
  • G. Einflussnahmemöglichkeiten des Schuldners
  • I. Einflussnahmemöglichkeiten
  • 1. Im Regelinsolvenzverfahren
  • 2. Bei der Eigenverwaltung
  • 3. Im Schutzschirmverfahren
  • II. Missbrauchsgefahren durch unterlassene Insolvenzanfechtung
  • 1. Anfechtung gegenüber Organen des Schuldners
  • 2. Anfechtung bei Asset Protection Strategien
  • a) Asset Protection Strategien
  • b) Anfechtung
  • c) Missbrauchsgefahren
  • H. Interessenlage
  • I. Motive zur Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen
  • 1. Berufsrechtliche Folgen einer strafrechtlichen Verurteilung
  • a) Rechtlicher Überhang
  • b) Faktischer Überhang
  • II. Motive gegen die Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen
  • 1. Insolvenzverwalter als Täter von Straftaten
  • 2. Schnelle Verfahrensbeendigung
  • 3. „Klimapflege“
  • a) Berater, insbesondere Sanierungsberater
  • b) Mandanten etc.
  • c) Großgläubiger
  • d) Degressive Verwaltervergütung
  • e) Interessenkollisionen
  • aa) Sachwidrige Eigeninteressen
  • bb) Sachwidrige Fremdinteressen
  • (1) Querfinanzierungen ähnlich Masse-an-Masse Darlehen
  • (2) Bindungen
  • (3) Verwalterbestellung/-entlassung
  • f) Beeinflussung des Insolvenzverwalters
  • 4. Überkreuzbestellung im Gläubigerausschuss
  • 5. Unterlassene Anfechtung in Sanierungssituationen
  • a) Personengebundene Massedarlehen
  • aa) Zulässigkeit
  • bb) Zulässigkeit bei Unabhängigkeit
  • cc) Zulässigkeit bei offener Kommunizierung der Darlehensbedingungen
  • dd) Zulässigkeit bei üblichen Darlehensbedingungen
  • ee) Unzulässigkeit
  • b) Stellungnahme
  • 6. Anfechtung von Geldstrafen und Bußgeldern
  • a) Anfechtbarkeit
  • b) Vollstreckung
  • c) Geldbußen
  • 7. Anfechtung nachentrichteter Steuern, § 371 AO
  • 8. Legitime unterlassene Insolvenzanfechtung
  • III. Zwischenergebnis
  • I. Schwierige Zeiten für Insolvenzverwalter
  • I. Gestiegene Konkurrenz
  • 1. Rückläufige Verfahrenszahlen
  • 2. Geänderte Praxis der Verwalterbestellung
  • 3. Gesunkene Vergütung
  • II. Wettlauf um massereiche Verfahren
  • III. Nebentätigkeiten
  • J. Die Aufsicht über den Insolvenzverwalter
  • I. Insolvenzgerichtliche Kontrolle, § 58 InsO
  • II. Kontrolle durch den Gläubigerausschuss, § 69 InsO
  • K. Akteneinsicht und Auskunftsrechte der Gläubiger
  • I. Akteneinsicht
  • II. Auskünfte vom Verwalter
  • 1. Verfahrensrechtliche Auskunftspflichten
  • 2. Materiell rechtliche Auskunftspflichten
  • III. Zwischenergebnis
  • L. Fehlende Qualifikation der Insolvenzrichter und Rechtspfleger
  • M. Der Sonderinsolvenzverwalter
  • I. Voraussetzungen
  • II. Antragsbefugnis
  • III. Eignung zur Verhinderung von Untreuerisiken
  • N. Stand der Diskussion
  • 3. Teil: Missbrauchstatbestand
  • A. Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht
  • I. Verfügungs- oder Verpflichtungsbefugnis
  • II. Vermögensbetreuungspflicht
  • III. Pflichtverletzung/Befugnismissbrauch
  • 1. Wirksamkeit des Gebrauchs
  • a) Ermessensspielraum des Insolvenzverwalters
  • b) Immanente Schranken der Rechtsmacht des Insolvenzverwalters
  • c) Evidente Insolvenzzweckwidrigkeit
  • aa) Reichsgerichtliche Rechtsprechung
  • bb) Bundesgerichtshof bis 2002
  • cc) Lent
  • dd) Bundesgerichtshof ab 2002
  • ee) Lükes Kritik an der geänderten Rechtsprechung
  • ff) Die Ansicht von Klinck
  • gg) Die Ansicht von Löhnig
  • hh) Die Ansicht von Adam
  • ii) Stellungnahme
  • d) Die Voraussetzungen im Einzelnen
  • aa) Objektiver Zweckwidrigkeitsmaßstab
  • bb) Evidenz der Insolvenzzweckwidrigkeit
  • cc) Grobe Fahrlässigkeit des Geschäftsgegners
  • e) Interessenkonflikte
  • f) Abtretung des Anfechtungsanspruchs
  • g) Vergleich, Verzicht, Erfüllungssurrogate
  • h) Rechtsfolge
  • 2. Anwendbarkeit auf den Sachwalter im Eigenverwaltungsverfahren
  • B. Ergebnis zum Missbrauchstatbestand
  • 4. Teil: Treubruchstatbestand
  • A. Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht
  • I. Zivilrechtsakzessorietät/außerstrafrechtliche Pflichtwidrigkeit
  • 1. Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters
  • a) Pflicht zur Ermittlung von Anfechtungssachverhalten
  • b) Umfang der insolvenzrechtlichen Anfechtungspflicht
  • c) Erfüllung nichtiger Rechtsgeschäfte über Anfechtungsansprüche
  • d) Verstoß gegen die Insolvency Judgement Rule
  • aa) Business Judgement Rule
  • bb) Insolvency Judgement Rule
  • (1) Unternehmerische Entscheidung
  • (2) Angemessene Information des Insolvenzverwalters
  • (3) Handeln zum Wohle der Insolvenzmasse
  • (4) Ohne eigene Sonderinteressen
  • (5) Handeln in gutem Glauben
  • cc) Anwendung auf die unterlassene Insolvenzanfechtung
  • dd) Zwischenergebnis
  • II. Vermögensschützender Charakter der verletzten Norm
  • 1. Vermögensschützender Charakter
  • a) Zugunsten der Gläubiger
  • b) Zugunsten des Schuldners
  • 2. Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht
  • III. Anforderungen an die strafrechtsautonome Pflichtwidrigkeit
  • 1. Asymmetrische Akzessorietät
  • 2. Gewicht der Pflichtverletzung
  • a) Gravierende Pflichtverletzung in der Rechtsprechung
  • b) Gravierende Pflichtverletzung in der Literatur
  • c) Stellungnahme
  • d) Verstoß gegen die insolvency judgement rule
  • B. Vermögensschaden
  • I. Schadensberechnung
  • II. Verjährte Anfechtungsansprüche nach Erhebung der Einrede
  • 1. Verjährungsfristen
  • 2. Vermögensnachteil
  • III. Gefährdungsschaden
  • 1. Unterbliebene Geltendmachung einer Forderung als Gefährdungsschaden
  • a) Rechtsprechung
  • aa) Überschießende Innentendenz
  • bb) Bundesverfassungsgerichtliche Billigung
  • cc) Bezifferung anhand der handelsrechtlichen Bilanzierungsnormen
  • dd) Schadensbestimmung bei der unterlassenen Anfechtung
  • b) Literaturmeinungen
  • c) Stellungnahme
  • aa) Verjährte Anfechtungsansprüche vor Erhebung der Einrede
  • bb) Nicht verjährte Ansprüche
  • C. Subjektiver Tatbestand
  • I. Vorsatz bezüglich der Pflichtverletzung
  • II. Vorsatz bezüglich des Vermögensnachteils
  • 1. Bei der endgültigen Undurchsetzbarkeit des Anfechtungsanspruchs
  • 2. Bei Gefährdungsschäden
  • 5. Teil: Strafprozessrecht
  • A. Vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung zur Überzeugung des Gerichts
  • I. Grundstrukturen des zivilprozessualen Beweisrechts
  • II. Der Indizienprozess
  • III. Anfechtungsrechtliche Beweisführung
  • 1. Objektive Kriterien
  • a) Die objektive Zahlungsunfähigkeit
  • aa) Voraussetzungen der objektiven Zahlungsunfähigkeit
  • bb) Nachweis der objektiven Zahlungsunfähigkeit
  • cc) Zahlungseinstellung
  • 2. Subjektive Kriterien
  • a) Kenntnis
  • b) Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit
  • c) Kenntnis von Umständen nach § 130 Abs. 2 InsO
  • d) Kenntnis der Zahlungseinstellung
  • e) Benachteiligungsvorsatz des Schuldners
  • aa) Kenntnis der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit
  • bb) Kenntnis der Zahlungseinstellung
  • cc) Kenntnis der Inkongruenz
  • dd) Abwendung der Zwangsvollstreckung
  • ee) Zahlungserleichterungen, § 133 Abs. 3 Satz 2 InsO
  • ff) Gegenläufige Indizien
  • f) Kenntnis des Anfechtungsgegners
  • aa) Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO
  • bb) Kongruente Deckungshandlungen, § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO
  • cc) Kenntnis der Inkongruenz und weiterer Beweiserleichterungen
  • dd) Entgeltliche Verträge nach § 133 Abs. 4 Satz 2 InsO
  • ee) Gegenläufige Indizien
  • g) „Wissen müssen“
  • 3. Beweiswert der Beweisanzeichen
  • IV. Grundstrukturen des strafprozessualen Beweisrechts
  • V. Der Indizienprozess im Strafverfahren
  • VI. Indizien für ein untreuerelevantes Unterlassen
  • 1. Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen der §§ 129 ff. InsO
  • 2. Ermittlung von Anfechtungsansprüchen in der Praxis
  • a) Punktuelle juristische Methode
  • b) Zeitraumbezogene betriebswirtschaftliche Methode
  • c) Anforderungen an ordnungsgemäße Ermittlungsmaßnahmen
  • 3. Indizien für Kenntnis des Verwalters
  • VII. Der in dubio pro reo-Grundsatz im strafrechtlichen Indizienprozess
  • B. Zwischenergebnis
  • 6. Teil: Strafbarkeit des Verwalters nach § 283 StGB
  • A. Handeln für einen anderen, § 14 StGB
  • I. Rechtsgeschäftliches Handeln des Verwalters
  • II. Faktisches Handeln des Verwalters
  • B. Zwischenergebnis
  • 7. Teil: Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

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1. Teil: Einleitung

Eine der Kernaufgaben des Insolvenzverwalters beziehungsweise Sachwalters besteht in der Rückabwicklung von Vermögensverfügungen nach den insolvenzanfechtungsrechtlichen Normen. Der Anfechtungsanspruch ist aber nicht stets vom Verwalter (gerichtlich) geltend zu machen; vielmehr kann der Anspruch auf vielfältige Weise verwertet werden. Dem Verwalter steht insoweit ein unternehmerischer Ermessenspielraum zu, wobei das Ermessen pflichtgemäß auszuüben ist. Spätestens seit der Entscheidung des BGH in der Sache Mannesmann/Vodafone1 ist auch der Öffentlichkeit bekannt, dass unternehmerische Ermessensentscheidungen eine strafrechtliche Dimension aufweisen können. Unternehmerische Ermessensentscheidungen werden im operativen Geschäft eines Unternehmens von dessen Geschäftsleitern getroffen. In der Insolvenz eines Unternehmens tritt beim fremdverwalteten Verfahren an deren Stelle der Insolvenzverwalter. Wie zuvor die Geschäftsleiter hat der Insolvenzverwalter eine Vielzahl unternehmerischer Ermessenentscheidungen zu treffen, die gleichermaßen eine strafrechtliche Relevanz aufweisen können. Beim Eigenverwaltungsverfahren hingegen werden jene Entscheidungen weiterhin weitgehend von den Geschäftsleitern getroffen, allerdings unter der Aufsicht eines Sachwalters. Daneben hat aber auch der Sachwalter selbst unternehmerische Ermessensentscheidungen zu treffen, insbesondere bei der ihm obliegenden Insolvenzanfechtung, so dass insoweit eine strafrechtliche Relevanz des Sachwalterhandelns in Betracht kommt. Aufgrund der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens handelt es sich dann um Insolvenzdelikte. Jene sind in besonderem Maße strafwürdig, weil sie die Volkswirtschaft schwerwiegend schädigen können.2 Gläubiger des Schuldners können durch die ausbleibenden Forderungen aufgrund der Insolvenz des Schuldners selbst in Vermögensverfall geraten, wenn die ausfallenden Forderungen nicht durch Erträge auf anderem Wege ausgeglichen werden können; Insolvenzen können insoweit Folgeinsolvenzen auslösen und so zu einem Dominoeffekt führen.3 Mit der Insolvenzanfechtung können die ←17 | 18→negativen Folgen einer Insolvenz zwar nicht beseitigt werden, sie sorgt aber mit der Mehrung der Insolvenzmasse dafür, dass jeder Insolvenzgläubiger gleichmäßig nur einen prozentualen Anteil am Verlust zu tragen hat und die negativen Auswirkungen für alle Gläubiger in gleichem Maße möglichst gering gehalten werden können. Der Strafbarkeit des Verwalters aufgrund der unterlassenen Insolvenzanfechtung kommt vor diesem Hintergrund als ultima ratio eine erhebliche Bedeutung zu. Das insolvenzrechtliche Regelungskonzept enthält trotz der gesetzlich geforderten Unabhängigkeit, der insolvenzspezifischen persönlichen Haftung, der Aufsicht sowie der Möglichkeit der Entlassung, der Einsetzung eines Sonderinsolvenzverwalters und der Versagung der Vergütung kein ausreichendes Regelungskonzept, das den Verwalter systematisch von einem pflichtwidrigen Unterlassen abhalten kann. Die strafrechtliche Sanktionierung dient daher auch der Verwirklichung der ordnungsgemäßen Verfahrensabwicklung, insbesondere der Verwirklichung des das gesamte Insolvenzverfahren beherrschenden Grundsatzes der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung. Mit der Insolvenzanfechtung soll aufgrund der damit verbundenen Mehrung der Insolvenzmasse auch die Anzahl mangels Masse abgewiesener Insolvenzverfahren verringert werden. Insoweit kommt dem Strafrecht Bedeutung im Hinblick auf die Ordnungsfunktion des Insolvenzrechts zu. Zu beachten ist darüber hinaus, dass das Insolvenzverfahren mit der Durchsetzung berechtigter Forderungen auch ein Element zur Verwirklichung des Justizgewährungsanspruchs ist. Die Garantie effektiven Rechtsschutzes ist wiederum ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.4 Dieser Anspruch des Rechtssuchenden auf Justizgewähr kann von Seiten des Staates nur erfüllt werden, wenn der Verwalter sein Amt pflichtgemäß ausübt.5

Das Verwalteramt erfordert insoweit eine Person, die das Vermögen unabhängig von einer umfassenden Kontrolle in der gesetzlich vorgesehenen Weise verwaltet. Aus diesem Grund ist als Verwalter eine von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige Person zu bestellen, die ausschließlich im Interesse der Verwirklichung der Ziele des Insolvenzverfahrens tätig wird. Trotz der gesetzlichen Normierung des Unabhängigkeitsgebotes in § 56 InsO kommt es auch im Kreis der Verwalter zu Interessenkollisionen, die Veranlassung sein können, in strafbarer Weise gegen die ihm nach der InsO obliegenden ←18 | 19→(insolvenzspezifischen) Pflichten zu verstoßen. So hat es immer einzelne Verwalter gegeben, die Gelder aus der Insolvenzmasse veruntreut haben oder Vermögensgegenstände aus der Insolvenzmasse ohne angemessene Gegenleistung entnommen oder auf nahestehende Personen übertragen haben. Gerade in Situationen, in denen der Verwalter selbst in finanzielle Schwierigkeiten gerät, kann die Versuchung groß sein, Gelder oder andere Vermögensgegenstände der Insolvenzmasse zu veruntreuen. Über diese recht eindeutigen Fälle strafbaren Verwalterhandelns hinaus kann sich der Verwalter auch in weniger leicht zu überblickenden beziehungsweise zu erkennenden Situationen strafbar machen, wenn er in besonders schwerwiegender Weise gegen insolvenzspezifische Pflichten verstößt. Als ein solcher Verstoß kann ein Unterlassen der Geltendmachung von werthaltigen Anfechtungsansprüchen zu werten sein. Da die Anfechtungsrechte der §§ 129 ff. InsO ausschließlich dem Zweck dienen, eine Schmälerung der Insolvenzmasse zugunsten der Insolvenzgläubiger auszugleichen, hat sich der Verwalter bei der Entscheidung, ob er mögliche Anfechtungsrechte ausüben will, allein von dem Interesse der Gläubiger leiten zu lassen.6

Auf den ersten Blick scheint es sich bei der Verletzung der Pflicht zur Ermittlung und Geltendmachung werthaltiger Anfechtungsansprüche allein um die Verletzung einer zivilrechtlichen Pflicht mit der Folge einer zivilrechtlichen Haftung zu handeln. Verletzt der Verwalter seine Pflicht zur Mehrung der Masse, kommt insoweit zunächst eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht gem. § 60 InsO in Betracht.7 Neben diese insolvenzspezifische Haftung können Ansprüche aus §§ 823 ff. BGB treten.8 Bei genauerer Betrachtung fällt überdies ←19 | 20→aber auf, dass auch abseits der bekannten Fälle strafbaren Verwalterhandelns eine Strafbarkeit solcher Handlungen in Betracht zu ziehen sein kann, bei denen der Verwalter seine insolvenzspezifischen Pflichten vorsätzlich verletzt und dadurch den Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung nicht mehr vollumfänglich verwirklichen kann.

Unter gewöhnlichen Umständen wird der Verwalter zwar schon im eigenen Interesse nicht bereit sein, auf die Durchsetzung eines werthaltigen Anspruchs zu verzichten. Schließlich hängt die Höhe seiner Vergütung von der Höhe der Insolvenzmasse ab. Dazu kann es aber kommen, wenn der Verwalter einer Interessenkollision erlegen ist. Jene können sich insbesondere daraus ergeben, dass der spätere Anfechtungsgegner bei der Bestellung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters oder im Eigenverwaltungsverfahren bei der Bestellung des (vorläufigen) Sachwalters mitwirkt, und seinen Vorschlag oder seine Zustimmung zu einem Verwalter von dessen Bereitschaft abhängig macht, im Falle der Bestellung auf die Geltendmachung der Anfechtungsansprüche zu verzichten.

Unterlässt der Verwalter die Durchsetzung von werthaltigen Anfechtungsansprüchen, steht das, was der Verwalter bei ordnungsgemäßem Verwalterhandeln auf Grundlage der anfechtungsrechtlichen Normen zur Masse hätte ziehen müssen, nicht zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger zur Verfügung. Diesen gegenüber trifft den Verwalter kraft seines Amtes eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne der Untreue. Unter der Voraussetzung, dass die Vermögensbetreuungspflicht eine Anfechtung erfordert hätte, steht bei einem entsprechenden Unterlassen daher eine Untreuestrafbarkeit im Raum. Daneben kann – insbesondere seit der BGH die Interessentheorie aufgegeben hat9 – eine Bankrottstrafbarkeit aufgrund des Beiseiteschaffens einer Forderung treten; nach dem BGH können Untreue und Bankrott mittlerweile tateinheitlich verwirklicht werden10.

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Bislang wurde in Bezug auf die strafrechtlichen Konsequenzen der unterlassenen Insolvenzanfechtung § 266 StGB in allgemeinerer Form – ohne tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung – in Erwägung gezogen. So könne in seltenen Fällen durch das Unterlassen der Anfechtung der Treubruchstatbestand der Untreue in Betracht kommen11, etwa bei einem kollusivem Zusammenwirken von Verwalter und Anfechtungsgegnern12. Eine umfassende Auseinandersetzung steht daher noch aus. In dieser Abhandlung soll die Strafbarkeit des Verwalters unter Berücksichtigung der insolvenzrechtlichen Hintergründe einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Im Anschluss an die materiell-rechtliche Beurteilung der unterlassenen Anfechtung soll auf die strafprozessualen Schwierigkeiten bei der Beweisaufnahme eingegangen werden.

Als Ergebnis soll herausgearbeitet werden, dass der Zweck des Insolvenzanfechtungsrechts nur bei einer effektiven strafrechtlichen Sanktionierung der unterlassenen Anfechtung erreicht werden kann. Das insolvenzrechtliche Regelungskonzept bietet keinen ausreichenden Schutz der Insolvenzgläubiger vor Pflichtverletzungen des Verwalters sowie der Verwirklichung der Ordnungsfunktion des Insolvenzrechts. Eine umfassende Untersuchung der Strafbarkeit des Verwalters bei der unterlassenen Anfechtung erscheint in rechtstatsächlicher Hinsicht insbesondere vor dem Hintergrund als erforderlich, dass in Gesetzgebungsverfahren und in der Literatur immer wieder auf erhebliche Missbrauchsgefahren hingewiesen wird, dennoch aber aus der Rechtsprechung keine Verurteilung eines Verwalters aufgrund der unterlassenen Anfechtung bekannt ist. Dies kann zwar auch daran liegen, dass es zu strafbarem Verwalterhandeln in der Praxis gar nicht kommt; naheliegender erscheint es aber, dass tatsächliche ←21 | 22→und rechtliche Schwierigkeiten schon der Ermittlung entsprechender Verhaltensweisen entgegenstehen. Nur wenn Verwalter aber auch in rechtstatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung aufgrund der unterlassenen Anfechtung zu befürchten haben, kann das Strafrecht seine das Insolvenzrecht flankierende Funktion, Verwalter zu einer ordnungsgemäßen Anfechtung zu veranlassen, wirksam entfalten.


1 BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331.

2 Ogiermann/Weber, wistra 2011, 206 (207) m. w. N.

3 Zeuner, in: Rattunde/Smid/Zeuner-InsO, § 104 Rn. 3; Lüer, in: Uhlenbruck-InsO, 14. Aufl. 2015, § 104 Rn. 35; Ogiermann/Weber, wistra 2011, 206 (207) m. w. N.; vgl. BGH, Urt. v. 10.07.2014 – IX ZR 192/13, BGHZ 202, 59 (68) Rn. 27.

4 BVerfG, Beschl. v. 12.01.2016 − 1 BvR 3102/13, BVerfGE 141, 121 (134 f.) Rn. 44.

5 BVerfG, Beschl. v. 12.01.2016 − 1 BvR 3102/13, BVerfGE 141, 121 (135) Rn. 45.

6 BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325 (328); Schoppmeyer, in: MüKo-InsO, § 60 Rn. 12.

7 LG Krefeld, Urt. v. 06.02.2014 − 3 O 271/13, NZI 2014, 410 (411); Keramati/Klein, NZI 2018, 421 (422, 426); Buchalik/Hiebert, ZInsO 2014, 109 (110); Knospe, ZInsO 2009,2276 (2278); genauso etwa bei einem Verstoß gegen die Pflicht, im Rahmen einer Betriebsfortführung Geschäfte, die die Masse ohne sonderlichen Aufwand und ohne großes Risiko erheblich vermehrt hätten, abzuschließen, BGH, Urt. v. 16.03.2017 – IX ZR 253/15, BGHZ 214, 220 (224) Rn. 15, sowie bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur zinsgünstigen Anlage von zur Insolvenzmasse gehörenden Geldern, BGH, Urt. v. 26.06.2014 – IX ZR 162/13, NZI 2014, 757 (757 ff.) Rn. 10 ff.; vgl. allg. Trams, NJW-Spezial 2019, 149 (149 f.)

8 Soweit eine deliktische Handlung zugleich eine insolvenzspezifische Pflicht verletzt besteht Anspruchskonkurrenz zu § 60 InsO, Schoppmeyer, in: MüKo-InsO, § 60 Rn. 75; Thole, in: K. Schmidt-InsO, § 60 Rn. 48; Keramati/Klein, NZI 2018, 421 (422), vorausgesetzt in BGH, Urt. v. 09.05.1996 – IX ZR 244/95, NJW 1996, 2233 (2234 f.).

9 Angekündigt in BGH, Urt. v. 10.02.2009 – 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225 (2227) Rn. 22; auf Anfrage des 3. Strafsenats in BGH, Anfrage-Beschl. v. 15.09.2011 – 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89 (90 f.) haben alle Strafsenate mitgeteilt, an der Interessentheorie nicht festhalten zu wollen, s. etwa BGH, Beschl. v. 29.11.2011 – 1 ARS 19/11, ZInsO 2012, 650 (650); BGH, Beschl. v. 10.01.2012 – 4 ARs 17/11, wistra 2012, 191 (191), so dass der 3. Strafsenat die Interessentheorie aufgegeben hat, BGH, Beschl. v. 15.05.2012 − 3 StR 118/11, BGHSt 57, 229 (233 ff.) Rn. 12 ff.

10 BGH, Urt. v. 10.02.2009 – 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225 (2228) Rn. 24; BGH, Beschl. v. 30.08.2011 – 3 StR 228/11, NStZ-RR 2012, 80 (80); BGH, Beschl. v. 15.05.2012 − 3 StR 118/11, NJW 2012, 2366 (2369) Rn. 31; für ein Exklusivitätsverhältnis dagegen Hoyer, in: SK-StGB, § 283 Rn. 122 m. w. N.; ders., FS-Rogall, 159 (165 ff.); Rogall, FS-Paeffgen, 363 (368 ff.).

11 Keramati/Klein, NZI 2017, 421 (421 ff.); Biermann, Die strafrechtlichen Risiken der Tätigkeit des (vorläufigen) Insolvenzverwalters, S. 204; Pelz, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Rn. 379; Weyand/Diversy, Insolvenzdelikte, Rn. 226; Buchalik/Hiebert, ZInsO 2014, 109 (110); Weyand, ZInsO 2014, 1934 (1938 f.); Weyand/Diversy, in: Haarmeyer/Huber/Schmittmann, Teil VIII Rn. 17; Köllner/Cyrus, NZI 2017, 521 (524); dies., NZI 2018, 514 (516); Bittmann, wistra 2018, 425 (426); Zeuner, in: Rattunde/Smid/Zeuner-InsO, § 129 Rn. 16; Wittig, in: BeckOK-StGB, § 266 Rn. 44.5; Perron, in: Schönke/Schröder-StGB, § 266 Rn. 35a; Borries/Hirte, in: Uhlenbruck-InsO, § 143 Rn. 17; Seier/Lindemann; in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil 2. Kapitel Rn. 77.

12 Keramati/Klein, NZI 2017, 421 (421 ff.).

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2. Teil: Insolvenzrechtlicher Hintergrund

Mit Inkrafttreten der InsO zum 01.01.1999 wurden die VerglO, die GesO und die KO zugunsten eines einheitlich geregelten Insolvenzverfahrens abgelöst. In Abkehr von dem zuvor weitgehend gerichtlich dominierten Verfahren zur Bestellung des Konkursverwalters sollte nach dem Willen des InsO-Reform-Gesetzgebers die Gläubigerautonomie in den Vordergrund gerückt werden. Schließlich müsse in einer Marktwirtschaft grundsätzlich das Urteil derjenigen Personen maßgeblich sein, deren Vermögenswerte auf dem Spiel stünden und die deshalb die Folgen von Fehlern zu tragen hätten.13 War der Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl und Bestellung des Insolvenzverwalters auch nach Inkrafttreten der InsO dennoch zunächst noch sehr begrenzt, führten weitere Gesetzesänderungen zu einer erheblichen Stärkung der Gläubigerautonomie. Insbesondere mit den Änderungen der InsO durch das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)14 hat die Gläubigerautonomie an vielen Stellen erheblich zugenommen. Nach Ansicht des ESUG-Gesetzgebers ist der Umstand, dass der Ablauf eines deutschen Insolvenzverfahrens für Schuldner und Gläubiger nicht berechenbar sei und vor allem von den Gläubigern kaum Einfluss auf die Auswahl des Insolvenzverwalters genommen werden könne, einer der Gründe, aufgrund derer gerade ausländische Investoren die deutsche Rechtsordnung als weniger geeignet für Sanierungen ansähen.15 Das ESUG hat vor diesem Hintergrund das Merkmal der Unabhängigkeit in seinem Wesen grundlegend verändert; es kann geradezu von einem Paradigmenwechsel bei der Praxis der Bestellung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters im Regelinsolvenzverfahren beziehungsweise des (vorläufigen) Sachwalters bei der Eigenverwaltung gesprochen werden.16 Ein wesentliches Anliegen war dabei die Ausdehnung des Gläubigereinflusses auf das Eröffnungsverfahren. Schließlich würden die Weichen für eine erfolgreiche Unternehmensfortführung regelmäßig bereits in den ersten Wochen nach dem Eröffnungsantrag und nicht erst nach Verfahrenseröffnung gestellt.17 Kennzeichnend für das Insolvenzverfahren ←23 | 24→ist daher mittlerweile eine erheblich weitergehende Gläubigerautonomie unter Überwachung durch das Insolvenzgericht zur Wahrung der Rechte der Beteiligten.18 Durch diesen Paradigmenwechsel wurden den Gläubigern bei der Verwalterbestellung allerdings verschiedene Möglichkeiten eröffnet, ihre spezifischen Eigeninteressen rechtsmissbräuchlich durch Einflussnahmen bei der Bestellung des (vorläufigen) Verwalters zu verwirklichen. So sind mittlerweile Großgläubiger und insbesondere Banken häufig weit mehr als zu Zeiten der KO, der VerglO, und der GesO an der Mitwirkung bei der Bestellung eines (vorläufigen) Verwalters interessiert und können in bestimmten Konstellationen nahezu frei über die Bestellung eines bestimmten Kandidaten entscheiden.

Haben Dritte in bestimmten Zeiträumen vor Insolvenzeröffnung noch Leistungen vom Schuldner erhalten, müssen sie diese bei Erfüllung einer der insolvenzanfechtungsrechtlichen Vorschriften der §§ 129 ff. InsO der Insolvenzmasse zurückgewähren. Mit der Rückgewähr ihrer Leistung lebt ihre Forderung gegen den Schuldner regelmäßig im Rang einer Insolvenzforderung wieder auf (§ 144 InsO). Da für die Insolvenzforderung meist nur eine eher geringe Insolvenzquote zu erwarten ist, haben Anfechtungsgegner im Allgemeinen zur Reduzierung des eigenen Verlustes ein erhebliches Interesse daran, die Geltendmachung der Anfechtungsansprüche zu verhindern. Zum Unterlassen der Geltendmachung von werthaltigen Anfechtungsansprüchen wird der Verwalter aber aufgrund der damit verbundenen erheblichen Risiken nur unter besonderen Umständen ausnahmsweise bereit sein. Diese können seit der Stärkung der Gläubigerautonomie eintreten, wenn ein Gläubiger, der über ein hohes Beeinflussungspotential verfügt, die Bestellung des Verwalters davon abhängig macht, dass Anfechtungsansprüche gegen ihn nicht geltend gemacht werden, und der Verwalter in die Interessenkollision, entweder nicht Verwalter zu werden oder sein Amt nicht ordnungsgemäß ausführen zu können, gerät. Insoweit ist die durch das ESUG gestiegene Gläubigerautonomie anfällig für eine missbräuchliche Einwirkung auf den Verwalter, gerade bei regelmäßig an Insolvenzverfahren beteiligten Gläubigern wie Banken.

In Insolvenzverfahren hat es der Verwalter mit einer Vielzahl sich teilweise entgegenstehender Interessen verschiedener Verfahrensbeteiligter zu tun. Kraft seines Amtes ist er verpflichtet, Interessenkollisionen im Rahmen seines unternehmerischen Ermessensspielraums angemessen zu lösen. Auch im Kreis der Verwalter gibt es jedoch Einzelne, die ihr Amt nicht ordnungsgemäß ausüben. In der Regel lassen sich diese Verwalter dabei von Interessenkollisionen ←24 | 25→manipulieren und verfolgen sachwidrige Eigen- oder Fremdinteressen. Mittlerweile wird selbst von Richtern des für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenats des BGH davon gesprochen, zu oft werde das Insolvenzverfahren von Verwaltern als Mittel zur Selbstbedienung verstanden.19 Das ist gerade vor dem Hintergrund problematisch, dass das derzeit geltende Insolvenzrecht keine über eine Selbstauskunft hinausgehenden Vorkehrungen enthält, um Befangenheiten des Verwalters im Rahmen der insolvenzgerichtlichen Amtsermittlung festzustellen und systematisch zu unterbinden.20 Da in nahezu jedem Insolvenzverfahren naturgemäß eine Vielzahl verschiedener Interessenkollisionen auftreten, erscheint eine solche Vorkehrung auf der anderen Seite auch in rechtstatsächlicher Hinsicht kaum vorstellbar. Zu vielseitig sind die Erscheinungsformen persönlicher Befangenheiten. Schließlich lassen sich Loyalitäten, ökonomische und persönliche Abhängigkeiten (Familie, Freundschaft, Vereinsmitgliedschaft, Kredite, Anwaltsmandate, Empfehlungen, Netzwerk usw.) kaum mit Anspruch auf Vollständigkeit abstrakt erfassen.21

Die Bestimmung einer Untreue- bzw. Bankrottstrafbarkeit kann nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des insolvenzrechtlichen Regelungskonzeptes und der damit verbundenen speziellen Interessenlage erfolgen. Insoweit sollen im Folgenden zunächst die für eine Untreue- oder Bankrottstrafbarkeit aufgrund der unterlassenen Insolvenzanfechtung relevanten insolvenzrechtlichen Hintergründe und insbesondere die Interessenkollisionen, aufgrund derer der Verwalter überhaupt zu einem missbräuchlichen Unterlassen der Anfechtung bereit sein kann, dargestellt werden.

A. Mitteilung an die Staatsanwaltschaft bei Verfahrenseröffnung/-ablehnung

Zu berücksichtigen ist zunächst, dass die Ermittlungsbehörden oft keine Kenntnis ausreichender Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen erlangen. In Insolvenzverfahren erfolgen zwar verschiedene Mitteilungen an die Staatsanwaltschaft. So erfolgen gem. Teil 2, Abschnitt 3, Ziffer IX der Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen (MiZi) Mittelungen über die Anordnung und Aufhebung von Verfügungsbeschränkungen (Nr. 1), bei Ablehnung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (Nr. 2), über die Eröffnung des ←25 | 26→Insolvenzverfahrens (Nr. 3), über weitere Entscheidungen in Insolvenzverfahren (Nr. 4) und über vorzeitige Löschungen im Schuldnerverzeichnis (Nr. 5). Die Staatsanwaltschaft hat dann zu beurteilen, ob und inwieweit Ermittlungen aufgenommen werden.22 Praktisch gestalten sich Ermittlungen im Zusammenhang mit Insolvenzen schon im Allgemeinen häufig aber schwierig.23 Noch schwieriger sind in vielen Fällen Ermittlungen gegen den Insolvenzverwalter oder Sachwalter durchzuführen. Dies gilt auch und in besonders hohem Maße für eine Strafbarkeit aufgrund der unterlassenen Ermittlung oder Geltendmachung von werthaltigen Insolvenzanfechtungsansprüchen. Die Begründetheit und Durchsetzbarkeit dieser Ansprüche kann zumeist nur anhand der Buchhaltungsunterlagen und von Zeugenbefragungen bestimmt werden; dies ist häufig schon für den Insolvenzverwalter schwierig, regelmäßig aber noch schwieriger für die Staatsanwaltschaft, die nicht ohne weiteres auf die Beweismittel zurückgreifen darf und ein Ermittlungsverfahren erst bei einem Anfangsverdacht im Sinne der §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 Satz 1 StPO einleiten muss (Legalitätsprinzip),24 allerdings zu Vorermittlungen, ob aufgrund vorliegender tatsächlicher Anhaltspunkte die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens veranlasst ist, berechtigt ist25. Die Ermittler sind zunächst auf die Auswertung der Insolvenzakten und sonstiger Informationsquellen angewiesen.26 Dadurch kann der Verwalter weitere ←26 | 27→ermittlerische Aktivitäten in großem Maße beeinflussen. Bezüglich Straftaten im Zusammenhang mit der Insolvenz, die andere Täter als der Insolvenzverwalter begangen haben, decken sich die gegenseitigen Interessen meist und es kann ein kooperatives Verhältnis zwischen Insolvenzverwalter und Ermittlungsbehörden entstehen.27 Bei Straftaten des Verwalters sieht dies naturgemäß anders aus; hier können Ermittlungen in der Regel meist nur aufgrund von Anzeigen von Gläubigern oder anderer Betroffener aufgenommen werden.28 Diese verfügen in vielen Fällen aber nicht ohne weiteres über ausreichende Informationen, um überhaupt Kenntnis von dem strafrechtlich relevanten Verhalten durch die unterlassene Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen zu erlangen. In der Praxis wird eine Strafbarkeit des Insolvenzverwalters daher häufig schon aufgrund des Fehlens von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten und damit aufgrund eines mangelnden Anfangsverdachts beziehungsweise aufgrund mangelnder Vorermittlungen nicht ohne weiteres hinreichend ermittelt werden können. Umso bedeutsamer ist es, dass die Ermittlungsbehörden bei Verdachtsmomenten jedenfalls Vorermittlungen im Hinblick auf einen etwaigen Anfangsverdacht im Sinne der §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 Satz 1 StPO durchführen.

B. Par conditio creditorum

Die Beurteilung strafrechtlichen Verhaltens des Insolvenzverwalters kann nicht unabhängig von dem das gesamte Insolvenzverfahren beherrschenden Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung erfolgen. Das GG bindet die Staatsgewalt in Art. 14 GG, den Eigentumsschutz durch ein diesem Grundrecht entsprechendes Verfahren zu gewährleisten. Naturgemäß treffen in jedem Gesamtvollstreckungsverfahren Grundrechtpositionen verschiedener Grundrechtsträger aufeinander. Zum einen genießt der Schuldner grundrechtlichen Schutz, wenn durch das staatliche Gesamtvollstreckungsverfahren in sein Eigentum eingegriffen wird. Zum anderen sind die Inhaber der Forderungen des Schuldners, die Insolvenzgläubiger, grundrechtlich geschützt. Dieser Schutz geht dahin, dem Insolvenzgläubiger ein gerichtliches Verfahren zur effektiven Durchsetzung seines Rechts zur Verfügung zu stellen. Dieser mehrseitige Grundrechtsschutz verpflichtet den Staat, bei der Ausgestaltung eines Vollstreckungs-Verfahrensrechts auf einen effektiven Grundrechtsschutz für alle Verfahrensbeteiligten hinzuwirken.29 Diese Vorgaben ergeben sich auch aus dem ←27 | 28→Rechtsstaatsprinzip.30 Das Insolvenzverfahren ist mit der Durchsetzung berechtigter Forderungen auch ein Element zur Verwirklichung des Justizgewährungsanspruchs. Die Garantie effektiven Rechtsschutzes ist wiederum ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.31 Jener Anspruch des Rechtssuchenden auf Justizgewähr kann von Seiten des Staates nur erfüllt werden, wenn der Insolvenzverwalter sein Amt pflichtgemäß ausübt.32 Zur Sicherstellung der pflichtgemäßen Erfüllung der Aufgaben des Insolvenzverwalters und zur Sicherung eines gesetzmäßigen Ablauf des Insolvenzverfahrens hat das Insolvenzgericht nach § 58 Abs. 1 InsO das Recht, aber auch die Pflicht, den Insolvenzverwalter bei seiner Amtsführung zu überwachen.33 Insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der Überwachung des Insolvenzverwalters wurde auch juristischen Personen der Zugang zum Amt des Insolvenzverwalters verwehrt.34 Schließlich ist die Befähigung und Zuverlässigkeit der konkreten natürlichen Person, die das Insolvenzgericht aufgrund seiner persönlichen Reputation und nach seiner fachlichen Qualifikation als vertrauenswürdig erachtet und entsprechend laufend beaufsichtigt, entscheidend für eine sachdienliche Durchführung und Erledigung des Insolvenzverfahrens.35 Die Geeignetheit der konkreten Person des Verwalters ist vor dem Hintergrund besonders bedeutsam, dass die Folgen seiner Entscheidungen nur in sehr gegrenztem Umfang korrigiert und gegebenenfalls kompensiert werden können.36 Im Gegensatz zu Berufen wie für dem des Notars und anderen vergleichbar qualifizierten Freien Berufen gibt es für den Beruf des Insolvenzverwalters weder spezielle gesetzlich geregelte Qualifikationsnachweise noch Bestimmungen zur berufsrechtlichen Organisation.37 Zudem gibt es keine unterstützende Aufsicht durch eine eigene Berufskammer.38 Da der Insolvenzverwalter, vor allem, wenn er zuvor als Sachverständiger beauftragt wurde, stets auch in erheblichem Umfang als Ermittlungsorgan des Gerichts bei der von Amts wegen zu leistenden Aufklärung des maßgeblichen ←28 | 29→Sachverhalts (§ 5 Abs. 1 InsO) fungiert, und sich seine Ermittlungstätigkeit auch und gerade auf Vorgänge und Verhaltensweisen bezieht, die häufig gläubigerschädigend sind und deshalb vom Schuldner oder seinen Geschäftsführungsorganen nicht freiwillig aufgedeckt werden, ist das Insolvenzgericht mangels anderer Möglichkeiten zur Überprüfung oft in besonderer Weise auf die Richtigkeit, Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit der von den Verwaltern und Sachverständigen erstellten Berichte angewiesen.39

Die Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips wurde auf gesetzgeberischer Ebene primär durch den in § 1 Satz 1 InsO normierten Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung realisiert. So folgt sämtliches Verwalterhandeln dem Grundsatz der „par conditio creditorum“, also dem Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung.40 Die Beurteilung von Handlungen des Insolvenzverwalters muss daher stets an der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung ausgerichtet sein; als oberstes Verfahrensziel muss der Insolvenzverwalter sein Handeln an dieser Zielrichtung ausrichten.

Die par conditio creditorum kontrastiert das für die Einzelzwangsvollstreckung geltende Prioritätsprinzip zugunsten einer Gesamtvollstreckung und soll, obwohl auch sie im Einzelfall nicht immer vollumfänglich gerecht sein kann, größere Ungerechtigkeiten, die sich bei Anwendung anderer Verteilungssysteme ergäben, vermeiden, um eine annehmbare gemeinsame Vollstreckung zu ermöglichen.41 Gleichwohl meint der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung keine uneingeschränkte Gleichbehandlung aller gesicherten wie ungesicherten Gläubiger. Vielmehr bedeutet der Grundsatz zum einen, dass in der Insolvenz alle Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich aus dem Haftungsvermögen beziehungsweise dem Verwertungserlös befriedigt werden, und zum anderen, dass die Befriedigung gleichmäßig, ohne die Bevorzugung einzelner Gläubiger oder ←29 | 30→Gläubigergruppen, erfolgt.42 Das Gebot der Gläubigergleichbehandlung wird auch als „Magna carta des Insolvenzrechts“ bezeichnet und ist als übergeordnete Verfahrensmaxime grundsätzlich auch im Rahmen der Insolvenzanfechtung zu beachten.43 Es wird daher verletzt, wenn einzelne anfechtbar begünstigte Insolvenzgläubiger bevorzugt werden.44 Der anfechtbar begünstigte Insolvenzgläubiger hat keinen Anspruch auf seinen anfechtbar erlangten Sondervorteil und hat das Erhaltene daher den im Rahmen der Verlustgemeinschaft mithaftenden Insolvenzgläubigern wieder zur Verfügung zu stellen, so dass eine wechselseitige Forderungs- und Haftungsverrechnung erfolgt.45 So wird der gleichmäßige Zugriff der Gläubiger im Anfechtungszeitraum gewahrt, indem die Bevorzugungen einzelner Gläubiger beseitigt werden.46 Durch die Insolvenzanfechtung wird also im Sinne des Gerechtigkeitsgebots das Ausfallrisiko solidarisch und gleichmäßig auf alle Gläubiger verteilt.47

Die besondere Bedeutung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung zeigt sich auch daran, dass mit Einführung der InsO die umfangreichen Konkursvorrechte des § 61 KO48 zugunsten der Verteilungsgerechtigkeit generell abgeschafft wurden49 und im Grundsatz nun die Insolvenzgläubiger gleich behandelt werden.50 Selbst nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit wirkt dieser ←30 | 31→Grundsatz fort. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit ist für die Anfechtung daher grundsätzlich bedeutungslos.51 Lediglich die in § 39 Abs. 1 InsO aufgezählten nachrangigen Forderungen werden nun erst nach Begleichung der Insolvenzforderungen – praktisch also nie – beglichen. Eine weitere Privilegierung ist nicht mehr vorgesehen.52 Hin und wieder wird seitens der Bundesregierung versucht, Fiskusprivilegien (wieder) einzuführen,53 wie etwa durch den Vorschlag, Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nicht mehr als inkongruente Deckungen zu behandeln und dem Anwendungsbereich der Inkongruenzanfechtung nach § 131 InsO zu entziehen.54 Der Fiskus kann sich seine Titel selbst schaffen und ist daher der weit häufigste Vollstreckungsgläubiger. Bislang konnte durch massive Kritik55 aber die Einführung solcher Privilegien noch verhindert werden.56

Erkennbar ist die besondere Bedeutung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung rechtsvergleichend schließlich auch daran, dass nach dem deutschen Insolvenzrecht, anders als in anderen Rechtsordnungen, insbesondere der U.S.-amerikanischen, der Französischen und der Englischen, die Haftungsverwirklichung priorisiert ist und der Erhalt betroffener Unternehmen nur in Betracht kommt, wenn dadurch die Haftungsverwirklichung in gleichem Maße wie bei der Liquidation verwirklicht werden kann.57

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C. Der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch aus §§ 143, 129 ff. InsO

Mit dem Insolvenzanfechtungsrecht wird das Ziel verfolgt, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens sachlich ungerechtfertigt aus dem Vermögen des Insolvenzschuldners ausgeschiedene Vermögenswerte nach Verfahrenseröffnung zurückzuführen.58 Mit der Insolvenzanfechtung soll der Interessenkonflikt zwischen den Insolvenzgläubigern, die ein Interesse an der Mehrung der Masse haben, und dem Anfechtungsgegner, der den erlangten Vermögensvorteil behalten möchte, gelöst werden.59 Gerade wenn der spätere Schuldner aufgrund der drohenden Insolvenz Vermögen auf Dritte – z. B. an Angehörige, Freunde, Strohmänner – überträgt, es verschleudert oder ihm nahestehende oder ihn besonders bedrängende Gläubiger befriedigt, soll das Anfechtungsrecht nach InsO die Privatautonomie zum Schutz der Gläubiger begrenzen.60 Auf diesem Wege wird die gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung über die Bestandskraft insolvenzbeeinflusster Rechtshandlungen gestellt.61 Der InsO liegt ein einheitliches, verfahrensunabhängiges Insolvenzanfechtungsrecht zugrunde. Inwieweit das Vermögen des Schuldners im Rahmen einer Liquidation verwertet und verteilt wird, das Unternehmen letztendlich in der Hand des Schuldners erhalten bleibt, reorganisiert, veräußert oder in einem Insolvenzplan (§§ 217 ff. InsO) einer abweichenden Regelung unterworfen wird, ist für die Anfechtungstatbestände nicht von Bedeutung. Es kommt stets das materielle Insolvenzanfechtungsrecht der §§ 129 ff. InsO zur Anwendung.62

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I. Überblick über den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch

Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gilt in der Einzelzwangsvollstreckung grundsätzlich das Prioritätsprinzip. Der Gesetzgeber hat sich für das Prioritätsprinzip als dem beherrschenden einzelvollstreckungsrechtlichen Strukturprinzip entschieden und es insbesondere in § 804 Abs. 3 ZPO und § 11 Abs. 2 ZVG einer Positivierung unterzogen.63 In der Einzelzwangsvollstreckung kommt es beim Zusammentreffen mehrerer Gläubiger daher nicht zu einer Kollektivierung. Vielmehr wird derjenige Gläubiger vor den anderen Gläubigern vorweg voll befriedigt, der an einem schuldnerischen Vermögensobjekt zuerst Rechtspositionen erwirkt hat, insbesondere ein Pfändungspfandrecht im Sinne von § 804 Abs. 1 ZPO.64 Durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen können sich Gläubiger so ein Privileg verschaffen.65 Das Prioritätsprinzip zielt damit grundsätzlich auf Verteilungsgerechtigkeit ab, ist aufgrund der Befriedigungsreihenfolge aber nur unter der Voraussetzung gerecht, dass alle Gläubiger vollständig befriedigt werden.66 Bei Eintritt der materiellen Insolvenz des Schuldners reicht die Haftungsmasse allerdings nicht mehr aus, um sämtliche Gläubiger vollständig zu befriedigen, so dass ein Verteilungskonflikt entsteht.67 So werden im eröffneten Insolvenzverfahren in aller Regel nicht alle Gläubiger vollständig befriedigt. Das Prioritätsprinzip führte in diesen Fällen zu dem nicht gerechten Ergebnis, dass nur die zuerst vollstreckenden Gläubiger vollständig befriedigt würden.68 Dieses auch vom Gesetzgeber als nicht gerecht angesehene Ergebnis soll mit dem Insolvenzverfahren zugunsten einer Gläubigergleichbehandlung vermieden werden. Gem. § 1 Satz 1 InsO findet im eröffneten Insolvenzverfahren daher der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung Anwendung. Letztendlich handelt es sich dabei um ein Auffangprinzip materieller Verteilungsgerechtigkeit, das nur eingreift, wenn eine andere Verteilungsordnung materiell-rechtlich nicht geboten ist.69 Anders als in der Einzelzwangsvollstreckung kommt es daher ←33 | 34→zu einer Kollektivierung, also gleichmäßigen Verteilung der Vollstreckungsobjekte und einer Verlustgemeinschaft.70 Dadurch wird die Einzelinitiative der Gläubiger weitgehend verdrängt und durch eine kooperative Gesamtinitiative der Gläubigergemeinschaft, die durch ihre Organe (Gläubigerversammlung und Gläubigerausschuss) im Verfahren repräsentiert wird, ersetzt.71 Bei dieser Gesamtvollstreckung geht es also um die quotale Befriedigung sämtlicher Gläubiger mit der Gesamtheit ihrer Forderungen aus dem gesamten Vermögen des Schuldners, während bei der Einzelzwangsvollstreckung einzelne Gläubiger mit ihren Forderungen aus einem oder mehreren Vermögengegenständen des Schuldners befriedigt werden.72 Zu beachten ist dabei aber, dass es bei beiden Prinzipien um ein gesetzlich geregeltes Verfahren der Zwangsvollstreckung durch hoheitlichen Eingriff in privatrechtlich organisierte Vermögensallokationen handelt. Während bei der Einzelzwangsvollstreckung dem Vermögen des Vollstreckungsgläubigers durch die Pfändung und Verstrickung von Geld, Rechten oder beweglichen und unbeweglichen Sachen durch den Gerichtsvollzieher oder das Vollstreckungsgericht Vermögensgegenstände des Schuldners zugeordnet werden, wird bei der Gesamtvollstreckung durch den Insolvenzbeschlag die Insolvenzmasse durch den Eröffnungsbeschluss des Insolvenzgerichts den Insolvenzgläubigern zugeordnet.73

Auch wenn der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung an sich erst mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens Anwendung findet, gibt es zahlreiche Normen, die Verhaltensweisen des Schuldners und seiner Gläubiger schon im Vorfeld der materiellen Insolvenz regeln. So wird etwa dem Prinzip des Gläubigerschutzes bereits vor der eigentlichen Insolvenz durch zahlreiche Regelungen wie etwa dem Rückzahlungsverbot hinsichtlich des Stamm- oder Aktienkapitals (§ 30 GmbHG,74 § 62 AktG75) oder dem Verbot der Einlagenrückgewähr ←34 | 35→(§ 57 AktG76) Geltung verschafft. Genauso wird der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung durch zahlreiche Vorschriften vorverlagert.77 Während die §§ 80 - 91 InsO vorrangig für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Verkürzung der Aktivmasse und eine Vermehrung der Passivmasse zu verhindern suchen, betrifft die sogenannte Rückschlagsperre des § 88 InsO die Zeit vor Verfahrenseröffnung.78 Danach werden im letzten Monat vor Antragstellung durch Zwangsvollstreckung erlangte Sicherungen an einem zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögen des Schuldners mit Verfahrenseröffnung unwirksam. Genauso ermöglichen die Anfechtungsvorschriften der §§ 129 - 147 InsO eine Korrektur von bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommenen Schmälerungen der Insolvenzmasse.79 Durch die Anfechtung soll mithin die gleichmäßige Befriedigung der Insolvenzgläubiger zu einem früheren Zeitpunkt als dem der formellen Eröffnung des Insolvenzverfahrens sichergestellt werden.80 Schließlich kann der Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz nur vollständig verwirklicht werden, wenn vorinsolvenzlich geleistete Zahlungen unter einheitlichen Voraussetzungen angefochten werden können.81 Vor Verfahrenseröffnung aufgrund überlegenen Wissens oder anderer Umstände noch befriedigte Gläubiger haben das Erhaltene bei Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der jeweiligen Anfechtungsnormen zurückzugewähren. Gläubiger, die über besonders gute Beziehungen zum Schuldner verfügen oder über dessen wirtschaftliche Verhältnisse eingehend informiert sind und sich zu Lasten ←35 | 36→der Gläubigergesamtheit Sondervorteile verschafft haben, werden damit in den Kreis der Insolvenzgläubiger eingereiht. Dadurch soll der Bestand des haftenden Schuldnervermögens wieder hergestellt werden.82 Insbesondere soll auch ein Wettlauf der Gläubiger um die knapp gewordenen Vermögensgegenstände des Schuldners verhindert werden.83

Die Anfechtbarkeit knüpft dabei entweder an die Art des Erwerbs, etwa die Unentgeltlichkeit (§ 134 InsO), oder an seine Motivation, etwa die vorsätzliche Benachteiligung (§ 133 InsO), an. Erkennbar hatte der Gesetzgeber daher nicht nur den unredlichen Schuldner vor Augen. Häufig ist auch ein redlicher Schuldner bei drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu kurzfristigen unwirtschaftlichen Transaktionen gezwungen. Anders kann ein Minimum an Liquidität oder wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit nicht erhalten werden und es drohte ein vollständiger Ausschluss vom Geschäftsverkehr. Daher ist insbesondere nach Eintritt der materiellen Insolvenz der Masseverlust häufig weit überproportional hoch. Die spätere Insolvenzmasse wird in diesem Zeitraum häufig sehr stark reduziert. Das führt in vielen Fällen zu erheblichen Schäden für die uninformierten Insolvenzgläubiger.84 Mit der Insolvenzanfechtung sollen diese Vermögensverschiebungen rückgängig gemachen werden, wenn sie in zeitlicher Nähe zur Verfahrenseröffnung oder unter Bedingungen erfolgt sind, die eine Rückgewähr an die Masse und ein Zurückstehen der Rechtssicherheit und des Verkehrsschutzes als gerechtfertigt erscheinen lassen.85 Das System dieser Anfechtungsregeln verdrängt in dem von ihnen abgedeckten zeitlichen Bereich das die Einzelzwangsvollstreckung beherrschende Prioritätsprinzip, wenn für die Gesamtheit der Gläubiger nicht mehr die Aussicht besteht, aus dem Vermögen des Schuldners volle Deckung zu erhalten. Dann tritt die Befugnis des Gläubigers zur zwangsweisen Durchsetzung seiner Ansprüche hinter dem Schutz der Gläubigergesamtheit zurück.86

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Die Rechtsnatur des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs ist seit jeher umstritten.87 Mit § 143 InsO ist diese Frage allerdings weitgehend geklärt. Danach muss, was durch die anfechtbare Rechtshandlung zu Lasten der Masse veräußert, weggeben oder aufgegeben worden ist, zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden. Die verschiedenen Theorien spielen deshalb zumindest in der Praxis nur noch eine untergeordnete Rolle.88 Jedenfalls kommt es für diese Arbeit auf die Unterschiede der Theorien nicht an und es wird mit der h. M. von dem Entstehen eines schuldrechtlichen Rückgewähranspruchs ausgegangen.89

Anfechtungsberechtigt ist gem. § 129 Abs. 1 InsO grundsätzlich allein der Insolvenzverwalter.90 Allerdings werden die Eigentumsrechte an den zur Insolvenzmasse (§ 35 InsO) gehörenden Gegenständen vom Verlust der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gem. § 80 InsO nicht berührt, so dass grundsätzlich der Schuldner Eigentümer der insolvenzbefangenen Sachen und Inhaber der in die Masse fallenden Rechte und Forderungen bleibt.91 Der Schuldner verliert lediglich die Prozessführungsbefugnis hinsichtlich des insolvenzbefangenen Vermögens. Diese geht mit Verfahrenseröffnung insoweit auf den Insolvenzverwalter über.92 Daher ist Gläubiger des Rückgewähranspruchs als Rechtsinhaber der Massegegenstände auch allein der Insolvenzschuldner, obwohl das Recht ←37 | 38→der Anfechtung in der Person des Insolvenzverwalters als Aktivum des Sondervermögens Insolvenzmasse entsteht und nur vom Insolvenzverwalter ausgeübt werden kann.93

Bei Anordnung der Eigenverwaltung verbleibt die Verfügungsbefugnis nach § 270 InsO indes beim Schuldner und ein Insolvenzverwalter wird nicht bestellt. Durch § 280 InsO wird jedoch dem Schuldner das Recht, über Anfechtungsansprüche zu verfügen, entzogen. Die Befugnis zur Geltendmachung der Insolvenzanfechtungsansprüche steht bei Anordnung der Eigenverwaltung daher allein dem anstelle des Insolvenzverwalters bestellten Sachwalter zu.94 In Anfechtungsprozessen klagt der Sachwalter genauso wie im Regelinsolvenzverfahren der Insolvenzverwalter als Partei kraft Amtes, weil er durch § 280 InsO insoweit die Rechte eines Insolvenzverwalters erlangt.95 Genauso wie der Schuldner im Regelinsolvenzverfahren gem. § 97 InsO ist auch der eigenverwaltende Schuldner gem. §§ 274 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. 22 Abs. 3 InsO verpflichtet, dem Verwalter Auskunft über anfechtungsrelevante Tatsachen zu erteilen und den Verwalter bei der Ermittlung der Anfechtungsansprüche umfassend zu unterstützen.96 Liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Anfechtbarkeit vor, begründen diese daher eine Pflicht des Schuldners, den Sachverhalt zu offenbaren, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen einer Insolvenzanfechtung tatsächlich vorliegen.97 Bei der Eigenverwaltung gibt es spezielle Situationen, in denen aufgrund der Eigenart der Verfahrensabwicklung bei Eigenverwaltung eine unterlassene Geltendmachung von Insolvenzanfechtungsansprüchen besonders naheliegt. Die Konstellationen können gleichermaßen auch bei Regelinsolvenzverfahren in Sanierungssituationen auftreten. Bei Anordnung der Eigenverwaltung ist die Gefahr von Interessenkollisionen aufgrund der Nähe von eigenverwaltendem Schuldner, Sachwalter und Darlehensgeber von Sanierungsdarlehen indes besonders hoch.

Dem vorläufigen Insolvenzverwalter im Antragsverfahren stehen derartige Rechte nicht zu. Er muss die Verfahrenseröffnung abwarten.98 Auch in ←38 | 39→Verbraucherinsolvenzverfahren, die nach dem 30.06.2014 eröffnet wurden, wird das Anfechtungsrecht nunmehr durch den Insolvenzverwalter ausgeübt und nicht mehr nach § 311 Abs. 2 InsO a. F.99 durch die Insolvenzgläubiger.100

Für die Ausübung des Anfechtungsrechts ist keine Anfechtungserklärung im engeren Sinne erforderlich.101 Die Anfechtungsabsicht muss nur erkennbar sein. Ausreichend für die Ausübung des Anfechtungsrechts ist nach dem BGH jede erkennbare Willensäußerung, dass der Insolvenzverwalter eine Gläubigerbenachteiligung in der Insolvenz nicht hinnehme, sondern zur Masseanreicherung wenigstens wertmäßig auf Kosten des Anfechtungsgegners wieder auszugleichen suche.102 Dabei braucht die Anfechtungsnorm nicht ausdrücklich genannt werden; erforderlich ist lediglich, dass der erforderliche Sachverhalt unterbreitet wird.103

Während nach dem AnfG außerhalb des Insolvenzverfahrens104 das Anfechtungsrecht dem einzelnen Gläubiger zusteht, entsteht das Anfechtungsrecht mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens originär in der Person des Verwalters.105 Es handelt sich beim Anfechtungsrecht nicht um eines derjenigen Rechte, über die der Schuldner bei Verfahrenseröffnung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verliert und der Insolvenzverwalter diese Befugnis erlangt, sondern um ein eigens für das Insolvenzverfahren geschaffenes Recht.106 Der Verwalter übt das Anfechtungsrecht kraft seines Amtes aus.107 Ein Erlöschen des Anfechtungsrechts kommt insbesondere in Betracht durch die Einstellung des ←39 | 40→Insolvenzverfahrens mangels Masse (§ 207 Abs. 1 Satz 1 InsO)108, die Aufhebung des Insolvenzverfahrens109 (§ 200 InsO, § 258 InsO) oder einen Verzicht des Verwalters.110

Soweit der Insolvenzverwalter, gegebenenfalls auch nach entsprechender Aufforderung durch die Gläubigerversammlung oder einzelne Gläubiger, die Geltendmachung eines werthaltigen Anfechtungsanspruchs unterlässt, kommt als Gegenmaßnahme der Gläubiger nur die Anrufung des Insolvenzgerichts nach §§ 58 f. InsO in Frage.111 Da der Insolvenzverwalter allerdings vom Gericht nur im Rahmen der gerichtlichen Aufsicht nach § 58 InsO weisungsabhängig112 und von den Gläubigern überhaupt nicht weisungsabhängig ist, bleibt den Gläubigern regelmäßig nur die Schadensersatzpflicht des Verwalters nach § 60 InsO, wofür die Gläubiger in vollem Umfang beweispflichtig sind. Schließlich kann das Gericht aufgrund der Unabhängigkeit des Verwalters lediglich die für die Prüfung erforderlichen Unterlagen herausverlangen und ihn in Ausnahmefällen gem. § 59 InsO entlassen. Dabei muss das Gericht indes das dem Verwalter zustehende Ermessen in vollem Umfange berücksichtigen. Weitergehende Weisungsrechte im Einzelfall in Bezug auf die Anfechtung bestimmter Rechtshandlungen hat das Gericht nicht.113

Details

Seiten
456
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631873144
ISBN (ePUB)
9783631873151
ISBN (Hardcover)
9783631844175
DOI
10.3726/b19421
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Interessenkollisionen Insolvenzverfahren Gläubigerautonomie Insolvenzverfahren Untreue Insolvenzverwalter Untreue Sachwalter Bankrott Insolvenzverwalter Bankrott Sachwalter Unterlassene Insolvenzanfechtung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 456 S.

Biographische Angaben

Helge Hölken (Autor:in)

Helge Hölken ist Rechtsreferendar im Landgerichtsbezirk Kiel. Er studierte Rechtswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der Universität Stockholm und der Universität Speyer. Während der Anfertigung dieser Arbeit war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie in einer auf die Insolvenzverwaltung spezialisierten Rechtsanwaltskanzlei in Hamburg. Helge Hölken ist zudem Autor einer Vielzahl von Aufsätzen und Entscheidungsanmerkungen.

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