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Politische, mediale und kommunikative Dimensionen der Weblogs in Russland

von Daria Khrushcheva (Autor:in)
©2022 Dissertation 438 Seiten

Zusammenfassung

In der Informationsgesellschaft bilden Massenmedien und verschiedene Kanäle der Massenkommunikation zusammen das wichtigste Öffentlichkeitsforum. Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft bedeutet neue Strukturen und Formen der Interaktion, neue Möglichkeiten für mehr Teilhabe, neue Chancen für kritische Gegenöffentlichkeit und Alternativbewegung(en). Die vorliegende Publikation untersucht die heutige Medienlandschaft in Russland, die von einer monopolartigen Kontrolle der klassischen Medien durch den Staat geprägt ist. Diese Medien gehen sukzessive in den Besitz regierungsfreundlicher Unternehmen über und sind einer rigiden Gesetzgebung ausgesetzt, die sich zudem rapide ändert. Die Untersuchung versucht die Fragen zu beantworten, wie das wachsende Misstrauen gegenüber den staatlichen Strukturen und den traditionellen Medien sowie der Mangel an sozialer Kommunikation offline die Entwicklung von Online-Angeboten und ihre inhaltliche Agenda im Lande prägen, wie neue Medien und das Social Web die öffentliche Meinung in Russland beeinflussen, wie sie von Vertretern der Zivilgesellschaft und unabhängigen sozialpolitischen Akteuren genutzt werden, welche Möglichkeiten neue Technologien für sie bieten und welche Perspektiven dadurch eröffnet werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Ausgangslage
  • 1.2 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
  • 1.3 Forschungsstand
  • 2. Klassische Informationsquellen, traditionelle Massenmedien und computervermittelte Kommunikation
  • 2.1 Information, Kommunikation, Medium: Begriffserklärung
  • 2.2 Funktionen der Massenmedien und ihre Bedeutung für die Öffentlichkeit
  • 2.3 Funktionen des Internets und neuen Medien
  • 2.4 Die Ära des Web 2.0: Neue Art der Kommunikation und ‚alternative Medien‘
  • 2.4.1 Neue Formen der Kommunikation und der journalistischen Arbeit im digitalen Raum
  • 2.4.2 Social Web, seine Formen und Merkmale
  • 2.4.3 Weblogs: Definitionskriterien und Charakteristika
  • 2.4.3.1 Weblog: Genre oder Format? Versuch einer Definition
  • 2.4.3.2 Arten der Weblogs
  • 2.4.3.3 Formale Eigenschaften und Funktionen der Weblogs
  • 2.4.4 Qualitätssicherung in neuen Medien und Weblogs
  • 3. Russland auf dem Weg zur Informationsgesellschaft: Entstehung und Entwicklung des heutigen Mediensystems
  • 3.1 Medien als Instrument des Staates und der Opposition: Historischer Hintergrund
  • 3.2 Russische Medien nach 1991
  • 3.2.1 Periodisierung der russischen Mediengeschichte: Von der Perestrojka bis heute
  • 3.2.2 Informationssystem Russlands: Struktur und Politik des Staates
  • 3.2.3 Gesetzliche Ebene des Mediensystems
  • 3.3 Zur Geschichte des Runets
  • 3.3.1 Die Verbreitung des Internets: Technologische Hintergründe, Modernisierung, Wachstum
  • 3.3.2 Sprache und Literaturzentrismus des Runets
  • 4. Social Web und neue Medien im Runet
  • 4.1 Online-Medien in Russland
  • 4.1.1 Die staatlichen Online-Medien
  • 4.1.2 Die ‚unabhängigen‘ russischen Online-Medien
  • 4.1.3 Erfolgsraten und Finanzierung der Online-Medien in Russland
  • 4.2 Weblogs im Runet
  • 4.2.1 LiveJournal: Živoj žurnal als das russische Synonym für Weblog
  • 4.2.2 Blog als ein Teil des Massenmediums
  • 4.2.3 Blog als ein (Massen-)Medium
  • 4.2.4 Bloggergesetz und ‚Standortwechsel‘
  • 4.3 Soziale Netzwerke in Russland
  • 5. Politische Nutzung des Internets: Neue Medien, neue Formate, neue Akteure
  • 5.1 Politisierung des Runets
  • 5.2 Politische Dimension der Weblogs im Runet
  • 5.3 Perspektive der politischen Online-Kommunikation im Runet
  • 5.4 Politische Nutzung des Runets: Akteure der Zivilgesellschaft und des Dritten Sektors
  • 5.4.1 Das Internet und die Massenmobilisierung am Beispiel der Wahlkampagne 2011/2012
  • 5.4.1.1 Die Struktur und Hauptfiguren der Opposition in Russland vor den Dumawahlen 2011
  • 5.4.1.2 Die Dumawahlen 2011: Massive Wahlfälschungen als Katalysator der Protestwelle
  • 5.4.1.3 Das Social Web als Plattform für Protestkampagnen und die Aktivität von neuen Akteuren
  • 5.4.1.4 Die Reaktion des Staates auf die Proteste
  • 5.4.1.5 Die Bedeutung der Proteste für die Entwicklung der oppositionellen Bewegung
  • 5.4.2 Das Internet und karitative Organisationen in Russland
  • 5.4.2.1 Sozialpolitik in Russland: Historischer Hintergrund
  • 5.4.2.2 Wohltätigkeitsorganisationen in Russland und ihre neue Medienpräsenz
  • 5.4.2.3 Takie dela: Sozialer und Fundraising-Journalismus
  • 5.4.2.4 Soziales Kapital und Vertrauen in der Online-Kommunikation
  • 6. Ausblick: Neue Formen der Meinungspublizistik
  • 6.1 Autorenjournalismus: Von Blogs bis zu multimedialen Formaten
  • 6.2 Blogger und Journalisten: Gemeinsame Zukunft?
  • 7. Fazit
  • Anhang
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der Internetadressen
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Register
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen.

Zuallererst gilt mein herzlicher Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Garstka, der zu jeder Zeit an das Projekt geglaubt und es in jeder Phase gefördert hat. Seinem jahrelangen Vertrauen und seiner nachhaltigen Unterstützung verdanke ich sehr viel. Prof. Dr. Gasan Gusejnov hat die Dissertation für das Promotionsverfahren begutachtet. Für seine Kommentare und wertvollen Ergänzungen möchte ich ihm danken. Den Herausgebern und dem Peter Lang Verlag danke ich für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe Heidelberger Publikationen zur Slavistik.

Mein herzlicher Dank gilt zudem meinen Kollegen des Seminars für Slavistik / Lotman-Instituts für Russische Kultur, der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität zu Köln, und des Kölner Mnemosina-Vereins für ihre fachlichen Anmerkungen, kritischen Rückfragen und freundliche Aufmunterung. Für wertvolle analytische Ideen und Hinweise auf einige, für diese Arbeit wichtige, Fallbeispiele möchte ich mich bei Dr. Jaroslav Skvorcov bedanken. Emma Schönfeld, Julia Golbek, Viktor Berg und Irina Varfolomeeva haben umfangreiche Hilfe bei Korrekturen, Übersetzungen und stilistischen Vorschlägen geleistet und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Herzlich gedankt sei außerdem allen meinen Studierenden, welche meine Lehrveranstaltungen in Bochum und Heidelberg besucht und mir einige wichtige Impulse für meine weitere Forschung gegeben haben.

Ein gesondert großer Dank gebührt Anna Artemeva, die mir nicht nur das Bild für den Umschlag dieses Buches geschenkt hat, sondern auch eine geduldige, inspirierende und motivierende Gesprächspartnerin war und ist. Vom ganzen Herzen danke ich meiner Familie und meinen Freunden – meiner zweiten treuen und mir immer zur Seite stehenden Familie – in Deutschland und Russland, und mittlerweile in anderen Ländern unserer schönen großen Welt.

Schließlich danke ich meiner Mutter, Elena. Sie ist 2015 verstorben und konnte meine Promotion nicht bis zum Ende begleiten. Ich weiß aber ganz genau, sie wäre sehr stolz auf mich. Ihr widme ich dieses Buch voller Dankbarkeit und Liebe.

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1. Einleitung

Bereits im Jahr 2003 bezeichnete der kanadische Medienforscher Marcelo Vieta die rasche Entwicklung von Blogs als „grassroots communication and civic engagement revolution“.1 In seinem Artikel „What’s Really Going On With the Blogosphere?“ schrieb er: Blogs schaffen „a new online ‚public sphere‘ that has returned the Web to ‚the people‘“.2 Drei Jahre später behauptete das britische Wochenmagazin The Economist: „The era of mass media is giving way to one of personal and participatory media. […]. That will profoundly change both the media industry and society as a whole“.3 Es ging um das Internet und die so genannten ‚neuen Medien‘.4 Schon bald war also zu beobachten, wie neue Formate und Genres im digitalen Umfeld gebildet, entwickelt und aktiv genutzt wurden, und wie schnell und interaktiv die Verbreitung neuer Informationsweitergabe- und Kommunikationsformen sein kann. Diese Sichtweise ergänzte der russische Internetforscher Evgenij Gornyj.5 Er nannte die ←11 | 12→russische Blogosphäre „not only a space for individual self-expression but also a powerful instrument for community-building or a social network software“.6 Nichtdestotrotz ist politisches Blogging in Russland ein bislang zu wenig beachteter Forschungsgegenstand, der jedoch zum Verständnis der politischen Kommunikation im Lande von großer Bedeutung ist.

Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit besteht darin, die politischen, medialen und kommunikativen Dimensionen des russischsprachigen Weblogs umfangreich und differenziert zu beschreiben und ihre Funktionen, Mechanismen, Einflüsse und mögliche Probleme zu analysieren. Die Arbeit soll deutlich machen, dass die Nutzung von Technologien, ihre Bedeutung, Qualität und Folgen immer vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext abhängen. Dabei werden mehrere Ziele verfolgt: Erstens soll das Wachstum der Blogosphäre als Teil der raschen Modernisierung des Telekommunikationssektors in Russland erforscht und beschrieben werden. Zweitens soll der Aufstieg der Blogs in Russland historisch eingeordnet und nach ihrem Charakter kategorisiert werden. Drittens werden Blogger7 als zeitgenössische Vertreter der russischen Intelligenzija untersucht, die in der Tradition vom Samizdat und Dissidententum der Sowjetzeit agieren. Zusammenfassend gesagt: Es soll eine Vielzahl von miteinander verbundenen historischen, kulturellen, politischen, gesellschaftlichen Schnittstellen herausgearbeitet werden. All diese Aspekte und die im Internet entstehenden und sich immer weiter entwickelnden kreativen (Widerstands)praktiken im Sinne der Cultural Studies können sehr anschaulich untersucht werden.

1.1 Ausgangslage

Nicht erst seit dem Internetzeitalter haben Medien eine markante politische und gesellschaftliche Bedeutung, schon immer haben sie eine wichtige Rolle in politischen Umstürzen und gesellschaftlichen Veränderungen gespielt. ←12 | 13→Flugblätter und Zeitungen galten als Träger von Öffentlichkeit während der Französischen Revolution, durch die Kontrolle über die Теlegraphenleitungen wurden die revolutionären Kräfte von 1917 koordiniert, durch Radioansprachen wurde die Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg mobilisiert und informiert, wichtige Rolle spielte das Fernsehen während des Kalten Krieges, und der Vietnam Krieg wurde dadurch als „the living-room-war“8 bezeichnet.9 Waren also früher Presse, Hörfunk und Fernsehen maßgebliche Informationsquellen, so bieten heute zusätzlich das Internet und Social-Web-Anwendungen vielfältige Möglichkeiten, neue bzw. alternative Informationen zu erhalten und zu verbreiten. Diese neuen Medien und Informationskanäle funktionieren häufig auch dann noch, wenn die klassischen Medien von dem Staat oder gewissen Interessengruppen zensiert oder blockiert wurden. In Analogie zu den ‚dicken Zeitschriften‘ (russ. tolstye žurnaly) und Publikationen im Samizdat der Sowjetzeit ist das Social Web zu einem zentralen Forum herangewachsen, in dem die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Positionen vorgestellt und (sehr rasch) kommentiert und polemisiert werden.

Die Jahre 2010–2012 werden als der Beginn einer neuen, globalen politischen Protestkultur weltweit in Erinnerung bleiben. Die Politisierung der Gesellschaft während dieser Zeit ist an Intensität und Emotionalität vergleichbar mit dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er Jahre. Während des Arabischen Frühlings gingen in insgesamt 17 Staaten des Nahen Ostens und ←13 | 14→Nordafrikas die Menschen auf die Straßen. Die Occupy-Bewegung besetzte, beginnend mit der Wall Street in New York, weltweit Straßen und Plätze auf allen fünf Kontinenten an fast 1.000 Orten. Es gab Straßenproteste in Lateinamerika, in Russland, in der Ukraine und in Westeuropa. Als Folge dieser Massenphänomene wurde der Protestler vom Time Magazine zur Person des Jahres 2011 erklärt.10 Trotz der politischen, kulturellen und religiösen Unterschiede, trotz der Verschiedenheit der Motive und aktuellen Anlässe, war diesen Protestbewegungen eines gemeinsam: Sie organisierten sich aus sich selbst heraus, sie hatten keine heroischen Anführer und ihr zentrales kommunikatives Instrument, mit Hilfe dessen die Bevölkerung mobilisiert und neue Formen der Organisation und Zusammenarbeit ermöglicht wurden, waren das Internet, neue Medien und soziale Netzwerke. Dies kann „Web 2.0-Revolution“, „digitale Revolution“ oder „Twitter-Revolution“ genannt werden.11 Die Verbreitung von Smartphones und digitalen Kаmeras erhöht die Chance, dass Bilder von Demonstrationen, Protesten oder Übergriffen aufgezeichnet werden und diese Informationen dann auch nahezu in Echtzeit in Netzwerkplattformen und Weblogs verbreitet und offen zugänglich gemacht werden. Wie diese jüngsten Entwicklungen deutlich zeigten, haben all diese digitalen Anwendungen ein enormes politisches Potenzial: Durch diese neuen Medien ist eine Belebung bürgerschaftlichen politischen Engagements und zivilgesellschaftlicher Beteiligung möglich geworden. Das Internet als ein ‚neutrales‘ Medium, das idealerweise allen politischen Akteuren gleichermaßen offensteht, kann aber auch dazu beitragen, eine engere Kommunikation zwischen (offizieller) Politik und Bürgern herzustellen, zu Zwecken der Information, der Selbstdarstellung, der Bildung von horizontalen Beziehungen und der Stärkung des sozialen Kapitals oder auch, um als Instrument des Machtkampfs und der Propaganda benutzt zu werden.

Neue Publikationsmöglichkeiten haben zur Verbreitung einer Form des Journalismus beigetragen, des sogenannten Graswurzel-Journalismus (auch partizipativer Journalismus, Bürgerjournalismus, russ. graždanskaja žurnalistika), bei der Bürger durch eigene Medien am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen ←14 | 15→können.12 Dabei nehmen sie eine aktive Rolle im Prozess der Recherche, des Berichtens, des Verbreitens von Informationen sowie des Analysierens ein. Der traditionelle Journalismus verliert damit immer mehr an dem Monopol, Nachrichten für die breite Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ziel dieser Partizipation ist die Bereitstellung von unabhängigen, verlässlichen, ausführlichen und genaueren Informationen. Der Begriff Graswurzel-Journalismus lehnt sich an die Graswurzelbewegung an (auch Basisbewegung, russ. iniciativa snizu), stammt aus dem Bereich der anglo-amerikanischen Publizistik und bezeichnet eine politische oder gesellschaftliche Initiative, die aus der Basis der Bevölkerung entsteht. Im russischsprachigen Raum war seit den 1960er Jahren das Konzept der Gegenöffentlichkeit verbreitet, deren Hauptkennzeichen Dissidententum und Samizdat waren. Die Defizite der gesellschaftlichen Kommunikation, der Mangel an Solidarität und Unterstützung im ‚Offline‘-Leben, das Misstrauen gegenüber den professionellen klassischen Medien haben die Entwicklungsdynamik der Blogosphäre in Russland geprägt. Das Internet wird hier für die Organisation von (oppositionellen) Protestkundgebungen, Demonstrationen und Flashmobs genutzt. Social Web erfüllt die Rolle der politischen Koordination. Es trägt erheblich dazu bei, über diese Aktionen zu berichten, Fotos und Abbildungen der Dokumente zu verbreiten, Situationen zu analysieren und zu besprechen. Die Blogosphäre reagiert auf aktuelle Neuigkeiten, erarbeitet sich einen Standpunkt und strebt Lösungen an. Die Funktion der Blogs besteht nicht nur darin, die Vergangenheit zu archivieren und die Gegenwart zu dokumentieren, sondern auch darin, eine Zukunft zu entwerfen. Allerdings gehen in den letzten Jahren diese unter Umständen von Weblogs angestoßenen Tendenzen wesentlich stärker von sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter aus. Blogs verlieren an Popularität, aber die in Blogs erarbeiteten Mechanismen zur Mediatisierung von Öffentlichkeiten werden auch weiterhin auf diesen Plattformen verwendet und modifiziert. Das immer wachsende Online-Angebot hat auch Konsequenzen für den professionellen Journalismus, für den die neuen Medien einerseits zur Konkurrenz geworden sind und andererseits zusätzliche Betätigungsfelder anbieten. Die Zukunft ist konvergent und crossmedial.

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Grundlegende inspirierende Anstöße für die vorliegende Arbeit gaben besonders die folgenden zwei Bücher: Die umfangreiche Studie Blogistan. Politik und Internet im Iran (2010) von Annabelle Sreberny und Gholam Khiabany und die Monografie How the Internet is Changing the Practice of Politics in the Middle East: Political Protest, New Social Movements, and Electronic Samizdat (2009) von Joseph Roberts. Beide Publikationen sind faszinierende und nicht zu unterschätzende Beiträge über die Auswirkungen und die Eingebundenheit neuer Medien in gesellschaftliche und politische Prozesse ausgewählter Regionen. Eine strukturierte Forschung mit dem geografischen Schwerpunkt Russland fehlt jedoch noch.

Stellt also das Runet tatsächlich eine neue öffentliche Sphäre dar? Ist es ein Ort alternativer Gemeinschaftsbildung, ein Ort der Gegenöffentlichkeit für Informationen und Kultur? Sehen sich seine User, ob als Online-Medienproduzenten, Blogger oder auch Leser in der Tradition des Samizdat? Wer gilt in der russischsprachigen Medienwelt als ‚professioneller Blogger‘? Welche Auswirkungen auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse haben das Internet und die neuen Medien? Welche Rolle spielen all diese neuen Anwendungen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und des Dritten Sektors im Lande?

1.2 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit

Eines der Ziele dieser Arbeit ist es, die Rolle der computervermittelten Kommunikation – des Internets als Medium, der neuen Medien als alternative Plattformen, der Blogs und Social-Web-Anwendungen als neue Formate – für die gesellschaftspolitische Praxis, Entwicklung von Zivilgesellschaft, horizontalen Beziehungen, neuen Formen der Informationsverbreitung und Kooperation in Russland zu untersuchen. Dabei sollen die Texte an sich, ihre Autoren (Blogger, Online-Journalisten), das Medium, welches die Botschaften übermittelt (Internet, Blogs) und das Subjekt/die Subjekte der Betrachtung (Leser, Zielgruppen) analysiert werden.

Die Frage, wie neue Medien und Kommunikationskanäle die Gesellschaft, soziale Praktiken und Wahrnehmungen verändern, soll auf der Basis von programmatischen Publikationen zur Mediengeschichte und -theorie beantwortet werden. Dies sind Werke von Jürgen Habermas, Jürgen Gerhards, Elisabeth Noelle-Neumann, Werner Faulstich, und das Kommunikationsmodell von Claude Elwood Shannon und Warren Weaver. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen, was Öffentlichkeit, Teilöffentlichkeit(en) und Gegenöffentlichkeit sind, wer an der öffentlichen Kommunikation teilnehmen kann, wie ‚alte‘ Medien funktionierten, wie neue Medien die Kommunikation und soziale Praktiken ←16 | 17→beeinflussen, welche Folgen dies für soziale und politische Gruppenbildung hat. Das Ganze soll forschungsorientiert am Beispiel der jüngsten gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Russland und an der sich wandelnden Medienlandschaft im Lande dargestellt und analysiert werden.

Einer der ersten Forscher, der das Thema Internet als eine gesamtgesellschaftliche Erscheinung untersucht hat, war der spanische Soziologe und Medientheoretiker Manuel Castells. Sein dreibändiges Werk The Information Age: Economy, Society, and Culture13 und die Monografie The Internet Galaxy. Reflections on Internet, Business, and Society14 liefern einen wichtigen Beitrag über die Geschichte des Internets, die Rolle der Identität im Cyberspace und die Zukunft der Netzwerkgesellschaft. In seinen Publikationen spricht Castells auch die Rolle des Internets in russischer Medienentwicklung und in der sozialpolitischen Praxis an.15

Da es über das Social Web und speziell über die Blogs in Russland bisher nur wenig wissenschaftliche Literatur gibt, müssen für die Arbeit primäre Quellenmaterialien ausgewertet werden. Überwiegend handelt es sich um einzelne Blogs bzw. Blogeinträge. Da der Begriff ‚Weblog‘ sehr weit gefasst werden kann, wird sich die Arbeit vor allem auf die Weblogs beschränken, die sich mit gesellschaftlich-politisch relevanten Themen beschäftigen, welche in den traditionellen Massenmedien starke Berücksichtigung finden bzw. mit den klassischen Medien kooperieren. Insbesondere zählen hierzu Fachblogs, journalistische Blogs und private Weblogs, welche durchaus einen analytischen, meinungsbildenden Anspruch erheben können (z. B. auf LiveJournal.com, Snob.ru, Takiedela.ru, Echo.msk.ru, Novayagazeta.ru usw.). Verwendet werden ←17 | 18→auch Quellen wie Online-Medien, -Archive, -Chroniken, -Datenbanken, Nachrichtenportale und Internet-Communitys.16

Nach einer kurzen Einleitung und einem Forschungsüberblick werden in Kapitel 2 (Klassische Informationsquellen, traditionelle Massenmedien und computervermittelte Kommunikation) zunächst die wichtigsten Begriffe des zentralen Themas der Arbeit geklärt. Dabei soll ein Verständnis davon geschaffen werden, wovon in der Arbeit gesprochen wird, wenn solche Begriffe wie ‚Information‘, ‚Kommunikation‘, ‚Medien‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚Gegenöffentlichkeit‘, ‚computervermittelte Kommunikation‘ erwähnt werden. Nach einer kurzen theoretischen Betrachtung des Verhältnisses von Öffentlichkeit, Gegenöffentlichkeit, politischer Beteiligung, klassischen Medien und neuen Informations- und Kommunikationskanälen werden ‚alternative‘ Medien, Social-Web-Anwendungen und im Einzelnen Weblogs detailliert auf ihre nützlichen Eigenschaften, Funktionen, Besonderheiten ihrer Kommunikationsstruktur und Verwendungsmöglichkeiten untersucht. Hier sollen die unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Blogs als Textsorte und Datenquelle einerseits und als soziokommunikative Praxis andererseits diskutiert werden.

Am Anfang des darauffolgenden dritten Kapitels (Russland auf dem Weg zur Informationsgesellschaft: Entstehung und Entwicklung des heutigen Mediensystems) wird die Rolle der Medien als Instrument der unterschiedlichen politischen Akteure aus der historischen Perspektive kurz beleuchtet. Danach wird die Entwicklung der Medienlandschaft in Russland in den letzten Jahrzehnten genauer betrachtet. Es wird der Versuch einer Periodisierung der jüngsten russischen Mediengeschichte (von Perestrojka bis heute) und der Darstellung ihrer Korrelation mit den wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Ereignissen im Lande unternommen. In diesem Kapitel wird außerdem eine Betrachtung der Geschichte des Runets im Kontext von technischer Modernisierung, inhaltlicher Vielfalt und Gesetzgebung angestellt.

Kapitel 4 (Social Web und neue Medien in Russland) beschäftigt sich mit Medienwandel, damit verbundenen Veränderungen und der wachsenden Rolle der neuen Medien und des Web 2.0. Hier wird die besondere Rolle der Weblogs (vor allem der Seite LiveJournal (LJ), auf Russisch Živoj žurnal oder abkürzend ŽŽ genannt) für die russische Medienlandschaft, die Entstehung ←18 | 19→der ‚professionellen Blogger‘ und die Anerkennung des Weblogs als Massenmedium beschrieben und analysiert. Dabei wird der Kauf der Seite LiveJournal durch eine russische Firma, die massenhafte Verbreitung zahlreicher sozialer Netzwerke und die Verabschiedung des sogenannten Gesetzes „Über die Blogger“ als ein Wendepunkt mit dem anschließenden Rückgang der Popularität der Weblogs im Runet gesehen.

Im fünften Kapitel (Politische Nutzung des Internets: Neue Medien, neue Formate, neue Akteure) wird die Nutzung des Internets und seiner Anwendungen, wie Blogs und Social Web, im Einzelnen durch Opposition, Zivilgesellschaft, den Dritten Sektor, die neuen Protest- bzw. sozialen Bewegungen und Gemeinschaften in Russland anhand der wichtigsten (alternativen) Dimensionen näher untersucht und beschrieben. Die neuen sozialen und technologischen Regeln und Mechanismen, mit denen Plattformen das Entstehen politischer Öffentlichkeiten prägen, und die Schaffung neuer Räume durch den Einsatz neuer Medien und die Möglichkeiten der elektronischen Mobilisierung werden hier diskutiert. Aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive wird die Nutzung der Blogs und sozialen Netzwerke einerseits als eine wichtige Möglichkeit horizontaler Kommunikation und Entwicklung der horizontalen Beziehungen in der heutigen russischen Gesellschaft, andererseits als neue (alternative) Plattform für den sogenannten Autorenjournalismus (russ. avtorskaja žurnalistika) mit seinen Experten, Analytikern und Meinungsbildnern dargestellt. Davon ausgehend wird dies an zwei Beispielen erläutert: die Rolle des Social Web in den politischen Protestbewegungen 2011–2012 und die Auswirkungen der neuen Medien auf den sozialpolitischen bzw. karitativen Sektor in Russland.

Ein Ausblick auf mögliche zukünftige Forschungsfelder und -perspektive wird im sechsten Kapitel (Ausblick: Neue Formen der Meinungspublizistik) gegeben. In einer kurzen Beschreibung werden hier solche neuen Formate der computervermittelten Kommunikation und des digitalen Journalismus wie Longread und multimediale Geschichten und Projekte vorgestellt.

Schließlich werden im siebten Kapitel (Fazit) die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst. Der Anhang beinhaltet die im Laufe der Arbeit erwähnten Tabellen, die den Überblick über die Social Web-Dienste im Allgemeinen, über das heutige Mediensystem und die Gesetzgebung im Bereich Massenmedien in Russland präziser darstellen und strukturieren.

1.3 Forschungsstand

Beim Themenbereich Internet, neue Medien und Social Web handelt es sich um einen relativ jungen Forschungsgegenstand, der aber inzwischen in vielen ←19 | 20→wissenschaftlichen Disziplinen –auch interdisziplinär – diskutiert wird. Dabei kann eine grobe Aufteilung zwischen inhalts- und akteursbezogener Forschung gemacht werden: Soziologen, Psychologen, Kommunikationswissenschaftler beschäftigen sich mit qualitativen und quantitativen Befragungen der Akteure, Informatiker und Informationswissenschaftler befassen sich mit Statistiken und technischen Entwicklungen, Sprach- und Literaturwissenschaftler konzentrieren sich auf den generierten Inhalt all der digitalen Dienste und Anwendungen. Zahlreiche englisch- und deutschsprachige Publikationen beschäftigen sich mit dem Phänomen der neuen Medien aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive, dabei geht es meist um die allgemeine Nutzung und individuelle Ausgestaltung dieser neuen Kommunikationsumgebung.

In den letzten zehn bis zwölf Jahren wurde im englisch- und deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von Publikationen zur explizit politischen Nutzung des Social Web veröffentlicht. Sie beschäftigen sich mit solchen Themen wie z. B. politische und gesellschaftliche Entwicklungen im digitalen Zeitalter, die Rolle der Blogs und sozialen Netzwerke in diesen Prozessen, Auswirkungen der neuen Medien auf den Alltag, ihre Einflüsse auf Sprache(-n), Bildung, das öffentliche Verhalten.17

Zum russischen Internet und den russischen (bzw. russischsprachigen) sozialen Netzwerken gibt es bisher kaum internationale Forschungsliteratur. Allerdings versuchen zahlreiche Online-Publikationen, einige Sammelbände in Form von Erinnerungen der Hauptfiguren, die am Anfang der ‚Bewegung‘ standen, und einzelne Monografien, die Geschichte des Runets chronologisch darzustellen und kritisch zu analysieren. Zum Beispiel bietet das Buch Oščupyvaja slona. Zametki po istorii russkogo Interneta des Journalisten Sergej Kuznecov eine Sammlung der Texte des Autors zu den Themen Internet, Blogs, neue Kommunikationsmodelle, die er in den Jahren 1996–2003 für unterschiedliche Zeitungen, Zeitschriften und Online-Ressourcen verfasst hat. In einer etwas nostalgischen Weise kommentiert der Autor seine alten Beiträge, erklärt einige Realien der Zeit, gibt einen umfassenden Überblick rund um ←20 | 21→das Thema Anfänge des russischen Internets. Ein weiteres Beispiel ist das Buch Bitva za Runet. Kak vlast’ manipuliruet informaciej i sledit za každym iz nas von Andrej Soldatov und Irina Borogan, den russischen investigativen Journalisten und „Geheimdienst- und Propagandaexperten“.18 Die beiden sind Mitgründer und Herausgeber der Webseite Agentura.ru, die eine Sammlung der Informationen und Analysen über die Geheimdienste in Russland darstellt und regelmäßig über die Entwicklungen im Sicherheitswesen berichtet. Das Buch analysiert die Praktiken der Geheimdienste in Russland und das Internet als eine Technologie, die man im Lande unter Kontrolle bringen möchte. Das Buch wurde inzwischen ins Englische übersetzt und erschien 2015 in New York unter dem Titel The Red Web: The Struggle Between Russia’s Digital Dictators and the New Online Revolutionaries. Ein weiteres Beispiel ist der Sammelband Digital Russia. The language, culture and politics of new media communication von Michael S. Gorham, Ingunn Lunde und Martin Paulsen. Der Sammelband und einige weitere Publikationen entstanden im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts The Future of Russian. Das Ziel des Projekts war die Analyse der postsowjetischen neuen Medien und die Erforschung der neu entwickelten Sprach(kultur)en im Runet.19

Ein gutes Beispiel für die Untersuchung der russischen Blogosphäre ist das Buch von Julija Idlis Runet: Sotvorennye kumiry, das in Form von „dokumental’nyj roman-frendlenta“ (einem Dokumentarroman im Stil eines für Blogs typischen Newsfeeds oder einer virtuellen Freundesliste)20 geschrieben ist. Das Buch beschäftigt sich mit den renommiertesten Bloggern des Runets21 (Anton ←21 | 22→Nosik (dolboeb22), Artemij Lebedev (tema), Rustem Adagamov (drugoi), Vera Polozkova (vero4ka), Linor Goralik (snorapp) u. a.), und diskutiert die Einflüsse der Blogger auf die Leser, die Privatheit im Netz, die politische Rolle der Blogs und ihre Konkurrenz für die klassischen Massenmedien.

Details

Seiten
438
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631868935
ISBN (ePUB)
9783631868942
ISBN (Hardcover)
9783631868164
DOI
10.3726/b19149
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
Massenmedien Runet Neue Medien Zivilgesellschaft Dritter Sektor Zensur Protest
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 438 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Daria Khrushcheva (Autor:in)

Daria Khrushcheva hat Journalismus, Politikwissenschaften und Osteuropastudien an den Universitäten Moskau, Köln und Heidelberg studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Slavistik / Lotman-Institut für Russische Kultur der Ruhr-Universität Bochum, an der sie auch promoviert wurde.

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Titel: Politische, mediale und kommunikative Dimensionen der Weblogs in Russland
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