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Romanische Sprachgeschichte und Sprachkontakt

Münchner Beiträge zur Sprachwissenschaft

von Roger Schöntag (Band-Herausgeber:in) Barbara Schäfer-Prieß (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 518 Seiten

Zusammenfassung

Der Sammelband hat sich zum Ziel gesetzt, neue Aspekte und Perspektiven in Bezug auf die historische Entwicklung der romanischen Sprachen und ihrer Varietäten darzustellen und dabei die verschiedensten Arten des Sprachkontaktes miteinzubeziehen. Die historische Bandbreite reicht dabei von der Genese der romanischen Sprachen über die Renaissance und das Zeitalter der Aufklärung bis in die aktuelle Gegenwart. Thematischer Schwerpunkt ist in diesem Zusammenhang der Kontakt von einzelnen diatopischen Varietäten, auch außerromanischen, untereinander und in Relation zu Standardsprachen. Ein weiterer Fokus liegt auf sprachhistorischen Konstellationen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gerade auch im Kontext der Schrift- und Verkehrssprache Latein. Ebenfalls prominent ist dabei die Frage nach der Verbreitung einer Norm- und Standardsprache und die diesbezügliche Kompetenz einzelner Sprechergruppen

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung und thematischer Überblick (Roger Schöntag/Barbara Schäfer-Prieß)
  • Das Vindelikische: Die vorrömische Sprache im bayerischen Voralpenraum. Ein Beitrag zur keltischen Substratforschung und zur Romania submersa (Roger Schöntag)
  • Romanisch-germanischer Sprachkontakt im späten Karolingerreich: Die Pariser Gespräche (Barbara Schäfer-Prieß)
  • Les plus anciens documents en langue vernaculaire dans la Galloromania. Inventaire et introduction (Constanze Neudek/Barbara Schäfer-Prieß)
  • Zum historisch-lateinischen Sprachkontakt: Die auf -(ĕr)rimus basierende Superlativbildung im Spanischen (Robert Hesselbach)
  • Semicolti e semi non colti nella Storia della Lingua: il Cinquecento (Davide Soares da Silva)
  • Zur Präsenz des Französischen am Dresdner Hof im 17. Jahrhundert am Beispiel des Manuskripts J.449. Ein Schreib- und Übungsheft als Quelle für die Sprachgeschichte (Laura Ulrike Rimmele)
  • Die Schriftlichkeit französischer Seefahrtsexperten im 17. und 18. Jahrhundert: „ungeübte“ Schreiber oder Experten der pragmatischen Schriftlichkeit? (Laura Linzmeier)
  • Das Prüfungsfach Französisch in der Oberpfalz: Zur Zensur durch das Bücherzensurkollegium in München gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Matthias Schöffel)
  • Geschichte des französischen Einflusses auf das Deutsche unter besonderer Berücksichtigung des Bairischen. Ein Überblick mit zeitgenössischen Quellen (Roger Schöntag)
  • Zur Idiomatizität von Sinn machen und faire sens im Rahmen eines varietätenlinguistischen Entlehnungsmodells (Stephanie Massicot)
  • Crowdsourcing als Verbindung zwischen diachroner Migrationslinguistik und gegenwärtiger Sprachraumgestaltung. Anforderungen an ein Sprach-Raum-Tagebuch für das Mobiltelefon (Anja Mitschke)
  • Sprachwandel und Sprachkontakt: Die Entstehung von o comer und flirtar – Konversion und lexikalische Hybridbildungen im Portugiesischen (Benjamin Meisnitzer)

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Roger Schöntag/Barbara Schäfer-Prieß

(Erlangen/München)

Einleitung und thematischer Überblick

Der vorliegende Sammelband mit der Thematik Romanische Sprachgeschichte und Sprachkontakt hat sich zum Ziel gesetzt, Beiträge zu vereinen, die neue Aspekte und Perspektiven auf die historische Entwicklung der romanischen Sprachen und ihrer Varietäten entfalten und dabei die verschiedensten Arten des Sprachkontaktes miteinbeziehen. Die historische Bandbreite in den einzelnen Artikeln reicht von der Vor- und Frühzeit der Genese der romanischen Sprachen über die Renaissance und das Zeitalter der Aufklärung bis in die aktuelle Gegenwart. Thematische Schwerpunkte sind in diesem Zusammenhang der Kontakt von einzelnen diatopischen Varietäten, auch außerromanischen, untereinander und in Relation zu Standardsprachen sowie sprachhistorische Konstellationen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gerade auch im Kontext der Schrift- und Verkehrssprache Latein. Ebenfalls prominent ist dabei die Frage nach der Verbreitung einer Norm- und Standardsprache und die diesbezügliche Kompetenz einzelner Sprechergruppen.

Die Beiträge entstanden in zahlreichen Einzeldiskussionen und dezentralen Kleinstsymposien, meist in München, da fast alle Mitwirkenden einen Bezug zu München oder der LMU aufweisen, was den Untertitel Münchner Beiträge zur Sprachwissenschaft begründet. Ein besonderer Dank im Rahmen der Publikationsvorbereitung geht dabei an Constanze Neudek für die zahlreichen und sorgfältigen Korrekturarbeiten.

Die einzelnen Beiträge lassen sich nun in chronologischer Anordnung thematisch wie folgt skizzieren:

In seinem Artikel Das Vindelikische: Die vorrömische Sprache im bayerischen Voralpenraum beleuchtet Roger Schöntag einen Teil der Romania submersa sowie ein spezifisches Substratvolk, nämlich das der keltischen Vindeliker. Der nördliche Voralpenraum wurde zur Zeit der römischen Eroberung im Wesentlichen von Kelten besiedelt, deren archäologisch fassbare Kultur sich in mehreren Phasen herausgebildet hatte (cf. Hallstatt- und La-Tène-Kultur). Von römischen Autoren sind in der dann eingerichteten Provinz Raetia vor allem die gentes der Räter, der Vindeliker und Noriker überliefert sowie zahlreiche weitere, die meist als Teilstämme jener Großverbände gelten, aber nicht immer klar zuzuordnen sind. Der Beitrag versucht nun, die spärlichen ←7 | 8→archäologischen, toponomastischen und inschriftlichen Hinweise auf die Vindeliker mit denen aus der römisch-griechischen Überlieferung abzugleichen, um ein Bild von ihrem Siedlungsgebiet und ihrer Sprache zu gewinnen. Dazu wird auch eine Übersicht über das Festlandkeltische und seine mutmaßlichen Varietäten wie das Keltiberische, das Gallische und das Lepontische gegeben sowie über weitere Varietäten wie das Galatische und Lusitanische. Das anzunehmende keltische Vindelikisch kann dabei wohl als Subvarietät des Gallischen gelten und ist damit wichtigstes Substrat im bayerisch-rätischen Voralpenraum. Es prägt somit das Lateinische bzw. später Romanische dieser Region, welches in Sprachreliktzonen noch bis ins frühe Mittelalter fortlebt, und über dieses Voralpenromanisch schließlich auch das Bairische.

Barbara Schäfer-Prieß behandelt in ihrem Beitrag Romanisch-germanischer Sprachkontakt im späten Karolingerreich die Pariser Gespräche, einen bisher in der Romanistik wenig beachteten, im 9. Jh. in Nordfrankreich entstandenen althochdeutsch-lateinischen Paralleltext mit Auffälligkeiten sowohl im Althochdeutschen als auch im teilweise volkssprachlich beeinflussten Latein. Speziell werden einige morphosyntaktische Phänomene betrachtet, bei denen Konvergenzen zwischen Althochdeutsch und Altfranzösisch festzustellen sind, die sich in den größeren Zusammenhang des Karolingischen Sprachbundes (und des Standard Average European) einordnen lassen, für dessen Entstehung die spezifischen kulturellen und sprachlichen Bedingungen des Karolingerreichs identifiziert werden.

In dem Artikel Les plus anciens documents en langue vernaculaire dans la Galloromania. Inventaire et introduction von Constanze Neudek und Barbara Schäfer-Prieß – die französische Übersetzung von Neudek/Schäfer-Prieß (2019) – werden die 14 galloromanischen Texte, die aus der Zeit bis 1100 überliefert sind, im Einzelnen beschrieben. Dabei zeigt sich, dass eine Zuordnung zu spezifischen regionalen Varietäten und auch zu den später definierten Sprachgebieten Französisch und Okzitanisch vielfach problematisch ist, weshalb dafür plädiert wird, diese Unterscheidung für den genannten Zeitraum noch nicht vorzunehmen. Dennoch lassen sich deutliche Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden Frankreichs identifizieren, was den kulturhistorischen Hintergrund sowie das Verhältnis zum Latein angeht. Demnach geht das Okzitanische einerseits mit der südlichen Romania konform, nämlich was die Verwendung eines romanisierten Lateins in Urkunden angeht, andererseits mit Nordfrankreich, wo nach der Karolingischen Renaissance eine Verschriftung der Volkssprache mit Ansätzen zu einer Literatursprache erfolgt war.

Einen Beitrag zur Diachronie der Wortbildung liefert Robert Hesselbach mit dem Artikel Zum historisch-lateinischen Sprachkontakt: die auf -(ĕr)rimus ←8 | 9→basierende Superlativbildung im Spanischen, einer vergleichenden Untersuchung der spanischen Superlativsuffixe -ísimo und -érrimo, die beide in der Renaissance aus dem Lateinischen bzw. Italienischen entlehnt wurden, anhand des CORDE (CORpus Diacrónico del Español) der Real Academia Española. Es zeigt sich dabei, dass -érrimo nicht bei Adjektiven mit eindeutig erbwörtlicher Basis vorkommt, also vermutlich nie produktiv wurde; die Wörter auf -érrimo setzen direkt die lateinischen Ausgangsformen fort und sind bis heute als gelehrt markiert. Dagegen ist -ísimo bald produktiv geworden und hat diese Markierung verloren.

Davide Soares da Silva beschäftigt sich in seinem Beitrag Semicolti e semi non colti nella Storia della Lingua: il Cinquecento mit zwei klassischen Fragen der italienischen Philologie und der Sprachwissenschaft, nämlich der sogenannten Sprachenfrage (questione della lingua) und der Problematik um die ungeübten Schreiber (semicolti). Beide Problemkreise verdichten sich in der Phase der Herausbildung der italienischen Schrift-, Literatur- und Standardsprache im 16. Jh., als man versuchte, auf Basis des Toskanischen (Florentinischen) eine Norm zu konstituieren. Allerdings war gerade zu dieser Zeit zunächst noch alles offen und die Selektion von Varianten erst am Anfang, so dass gerade auf regionaler Ebene zahlreiche Möglichkeiten verbreitet waren, sich durchaus adäquat auszudrücken. In der bisherigen Forschung wurde der Schwerpunkt auf eine Art teleologische Entwicklung der Normsprache gelegt und die Existenz von Phänomenen wie einer nicht-literarischen lingua mista zur Kommunikation auf regionaler Ebene – die von zeitgenössischen Gelehrten wie Mario Equicola, Giovanni Filoteo Achillini und Claudio Mario Arezzo durchaus befürwortet wurde – weitgehend vernachlässigt, was in diesem Kontext einer Neuevaluierung bedarf.

Die Rolle des Französischen am Dresdner Hof im 17. Jh. ist Thema des Beitrags von Laura Ulrike Rimmele: Zur Präsenz des Französischen am Dresdner Hof im 17. Jahrhundert am Beispiel des Manuskripts J.449. Ein Schreib- und Übungsheft als Quelle für die Sprachgeschichte. Nach einem Überblick zur Verbreitung des Französischen, das nach dem Dreißigjährigen Krieg in Europa immer mehr an Bedeutung gewann, und zum Französischunterricht an deutschen Höfen dieser Zeit erfolgt die Analyse eines bisher unveröffentlichten Schreibheftes mit Sprach- und Gesprächsübungen auf Deutsch und in mehreren Fremdsprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Latein), das wahrscheinlich von einem nicht genau zu identifizierenden Prinzen Ende des 17. Jahrhunderts unter Anleitung eines Sprachmeisters verfasst wurde, wobei das Französische unter den Fremdsprachen bereits den größten Raum einnimmt. Die Analyse betrifft sowohl inhaltliche als auch sprachliche Aspekte. ←9 | 10→Ein ausführlicher Teil ist den Romanismen und insbesondere Gallizismen im deutschen Textteil gewidmet, die mit den einschlägigen lexikographischen Referenzwerken abgeglichen werden.

In ihrem Artikel Die Schriftlichkeit französischer Seefahrtsexperten im 17. und 18. Jahrhundert: „ungeübte“ Schreiber oder Experten der pragmatischen Schriftlichkeit? beschäftigt sich Laura Linzmeier mit einem bisher in diesem Kontext wenig beachteten Phänomen, nämlich der Frage nach einer spezifischen Sprache der maritimen Gesellschaft. Dabei geht es keineswegs allein um die Fachsprache der Seefahrt, sondern ganz allgemein um die Sprache derjenigen, die auf See oder an Land in den Hafenstädten Teil einer durch das Meer verbundenen Sprachgemeinschaft sind (z.B. Seefahrer, Soldaten, Fischer, Händler, Hafenarbeiter, Reeder). In vorliegender Studie präsentiert die Autorin eine erste Einordnung von Logbüchern (journaux de navigation), die eine wenig homogene Textsorte darstellen, da sie die verschiedensten Strukturteile enthalten und zudem in ihrem Entstehungsprozess einige Besonderheiten aufweisen. Die Gruppe der Schreiber dieser Textsorte ist ebenfalls als heterogen einzustufen und umfasst diverse Bildungsgrade. Der vorliegende Beitrag analysiert demnach in einer ersten Annährung die funktional-pragmatische Schriftlichkeit der französischen Navigationsexperten des 17. und 18. Jhs., ihre Ausbildung, die zugehörigen Modelltexte sowie die sprachlichen Merkmale dieser Textsorte im Hinblick auf eine Gebrauchsnorm.

Einen in gewisser Weise singulären Fall aus der Geschichte des Unterrichtswesens stellt Matthias Schöffel in seinem Beitrag Das Prüfungsfach Französisch in der Oberpfalz: Zur Zensur durch das Bücherzensurkollegium in München gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor. Es handelt sich dabei um zwei gedruckte Prüfungsdokumente des Freiherrn von Spiering, die auf die Jahre 1797 und 1798 datiert sind. Diese beinhalten einen Anforderungskatalog für verschiedene Schulfächer, darunter auch die potentiell abzuprüfenden Kenntnisse für das Französische. Im Rahmen von diversen Schulreformen nach der Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 1773 war es durchaus üblich, dass im Zuge der geforderten Transparenz Prüfungen veröffentlicht wurden. Das Besondere in vorliegendem Fall ist jedoch, dass das zweite Prüfungsdokument des Freiherrn von Spiering aus dem Jahre 1798 von dem sogenannten Bücherzensurkollegium geprüft und genehmigt wurde. Aufgrund fehlender Detailinformationen zum Bildungsweg des Prüflings konnte zwar nicht eruiert werden, ob es sich um zwei Fassungen derselben Prüfung handelt oder aber um zwei sukzessive Prüfungen, dennoch ist ein Vergleich der beiden Dokumente äußerst fruchtbar. Zum einen konnte dadurch die mutmaßliche Wirkung der zahlreichen bayerischen Bildungsreformen zwischen 1774 und 1830 sichtbar gemacht werden, ←10 | 11→zum anderen konnten Rückschlüsse auf die Art des Französischunterrichts und seine Stellung im Fächerkanon gezogen werden.

In seinem Artikel zur Geschichte des französischen Einflusses auf das Deutsche unter besonderer Berücksichtigung des Bairischen liefert Roger Schöntag einen Überblick zum französisch-deutschen Sprachkontakt seit dem frühen Mittelalter mit entsprechenden Beispielen unter Heranziehung zahlreicher Quellen der jeweiligen Epoche. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Situation der bairischen Varietät und deren Beeinflussung durch die dominante Kultursprache Französisch. Auch wenn man den Kultur- und Sprachkontakt zwischen Frankreich und den deutschsprachigen Herrschaftsgebieten schon sehr früh ansetzen kann, also in romanisch-germanischer Zeit, werden dann üblicherweise zwei Hochphasen definiert, in denen das Französische als lingua franca Europas auftritt, und zwar im 12.–13./14. Jh. und im 17.–18. Jh. mit einem Ausklang im 19. und frühen 20. Jh. Entsprechend diesen Phasen des intensiven Kontaktes, der zwar auch an der französisch-deutschen Sprachgrenze sowie durch Migrantengruppen (z.B. Hugenotten) stattfindet, können auch zahlreiche Lehnwörter im Deutschen belegt werden, oft in den Bereichen von Konsum- und Luxusgütern, aber auch in den Bereichen der Politik, der Gesellschaft und des Militärs. Die Gallizismen treten dabei in den einzelnen Varietäten des Deutschen meist als sogenanntes gesunkenes Kulturgut auf, da sie über die oberen Gesellschaftsschichten vermittelt werden. In verschiedenen metasprachlichen Textdokumenten werden zudem das Prestige und der Erwerb des Französischen dokumentiert.

In ihrem Beitrag Zur Idiomatizität von Sinn machen und faire sens im Rahmen eines varietätenlinguistischen Entlehnungsmodells geht Stephanie Massicot der Frage nach, wie Interferenzen bei Kollokationen zu bewerten sind und wie sich Entlehnungen in den Varietätenraum einer Sprache eingliedern. In ihrer Untersuchung stützt sie sich dabei zunächst auf die in der Öffentlichkeit und populärwissenschaftlicher Literatur viel kritisierte Wendung dt. Sinn machen, für deren Entstehung das engl. (to) make sense verantwortlich gemacht wird. Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch ein weitaus differenzierteres Bild, da diese Kollokation auch schon früh für das Deutsche belegt ist und es womöglich nur zu einer Bedeutungsverschiebung und Frequenzänderung durch englischen Einfluss gekommen ist. Ähnliches gilt für das gleichermaßen proskribierte faire sens im Französischen. Anhand beider Beispiele lässt sich gut belegen, dass interner Sprachwandel und externe Beeinflussung Hand in Hand gehen können. Eine weitere Problematik, die in dieser Analyse neu beleuchtet und womöglich erstmals systematisch aufgearbeitet wird, ist die Tatsache, dass Lehnwörter und Lehnkonstruktionen nicht nur phonologisch und ←11 | 12→morphologisch in die Zielsprache integriert werden, sondern dort auch einen bestimmten Platz im Diasystem belegen. Im Laufe der Zeit kann sich dabei auch eine Verschiebung im Sinne eines Aufstieges entlang der Varietätenkette ergeben, so dass auch für Entlehnungen eine gewisse Variabilität innerhalb des Diasystems postuliert werden kann. Dies schließt auch ihr Verhältnis zur Leitvarietät, der Normsprache, mit ein.

Anja Mitschke gibt in ihrem Beitrag Crowdsourcing als Verbindung zwischen diachroner Migrationslinguistik und gegenwärtiger Sprachraumgestaltung. Anforderungen an ein Sprach-Raum-Tagebuch für das Mobiltelefon einen Einblick in ihr aktuelles Projekt zu den Sprachen und Varietäten rund um das Mont-Blanc-Massiv. Ziel der Untersuchung ist es, die Situationskontexte und Frequenz des Gebrauchs einzelner Idiome bei mehrsprachigen Individuen herauszuarbeiten. Der Fokus liegt hierbei speziell auf dem Frankoprovenzalischen, das in dieser abgesteckten Region im Dreiländerdreieck Frankreich-Schweiz-Italien die ursprüngliche Sprache darstellt. Die Methode, die zugrunde gelegt wird, ist das sogenannte Crowdsourcing. Im vorliegenden Fall soll dazu ein Sprach-Raum-Tagebuch benutzt werden, welches auf der Basis eines Smartphones funktioniert. Die Sprecher können somit – unter Beachtung aller datenschutzrechtlichen Bestimmungen – freiwillig an dem Projekt teilnehmen und steuern somit die notwendigen Informationen bei, wann, wo und unter welchen Umständen sie die Minderheitensprache verwenden (cf. Bewegungsprofile). Hierdurch wird zudem ein Schnittpunkt zwischen Forschung und Sprachgemeinschaft generiert, da die Probanden, die ihre Daten anonymisiert zur Verfügung stellen, die Option haben, sich bewusster für die Kommunikation in der Minderheitensprache zu entscheiden, da ihnen eine gewisse Mitgestaltung obliegt und sie auf diese Weise auch in ihrem Sprachbewußtsein gestärkt werden können. Die Forschungsskizze des laufenden Projektes gibt dabei exakte Informationen zu den technischen Möglichkeiten sowie zum wissenschaftlichen Nutzen der Exploration für eine synchrone und gegebenenfalls auch diachrone Analyse zum Sprachgebrauch des Frankoprovenzalischen in actu und in situ.

In dem Beitrag von Benjamin Meisnitzer wird das Wortbildungsverfahren der Konversion in Abgrenzung von dem der Derivation (und Komposition) im Rahmen des Portugiesischen diskutiert. In diesem Zusammenhang wird das Konzept der rigiden Abgrenzung von Wortarten kritisch hinterfragt. Gleichzeitig wird das bisher zum Teil vernachlässigte, aber in der Alltagssprache durchaus präsente Phänomen der Konversion mit seinen verschiedenen Subtypen (nominale, adjektivale, verbale, adverbiale) als wichtiger Transferprozess hervorgehoben und im strukturalistischen Kontext des Problems der ←12 | 13→Nullderivation diskutiert. Weitere Punkte sind die stilistische Markiertheit von Neologismen, die durch Konversion entstehen, sowie die Rolle der Konversion bei der Integration von Anglizismen und hybriden Derivationen in die portugiesische Sprache.

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Roger Schöntag

(Erlangen)

Das Vindelikische: Die vorrömische Sprache im bayerischen Voralpenraum

Ein Beitrag zur keltischen Substratforschung und zur Romania submersa

Abstract: The present contribution focuses on the celtic gentes who settled in the plaines of the Alpine foreland in the former province Raetia et Vindelicia in Preroman and Roman times, as well as their possible linguistic influence on the later societies in this area, namely the Roman (Latin, Romance) and the Bavarian (Romance, Bavarian). Therefore this overview starts with the history of the Roman conquest of the Alps and the adjacent regions, to continue with the linguistic situation under roman sovereignty (e.g. romanization, multilingualism, migration, and alphabetization). In a second step, an outline of the spread of the celtic culture in the first millennium B.C. should give an impression of the perspective of the substrate culture, which includes a classification of the different celtic languages and dialects, as well as their most important written records. The third part of the investigation contains an analysis of the celtic relicts which can be detected in Roman and Bavarian toponymie, hydronymie, anthroponymie and other parts of the Latin, Romanic or Bavarian lexicon. To conclude, it is necessary to question how plausible it might be, that this celtic substrate of the local Romania subermersa can be attributed to the Vindelici, the major celtic tribe in this region.

Keywords: Language Contact, Romania submersa, Celtic languages, Vindelici, Latin, Romance, Bavarian

1. Hinführung

In der vorliegenden Untersuchung soll versucht werden, den bayerischen Voralpenraum als Teil der Romania submersa näher zu beleuchten. Im Fokus steht dabei das keltische Substrat dieser Region und damit verbunden die Frage, was unter Vindelikisch zu verstehen ist.

Die einzelnen Schritte, um diese spezifische Vor- und Frühgeschichte der Romanität genauer darzulegen, wären die folgenden: Zunächst soll der historische Hintergrund beschrieben werden, d.h. vor allem die Situation der Kelten in Süddeutschland vor der Ankunft der Römer, dann der Alpenfeldzug unter Augustus und die sich anschließende Phase der Romanisierung (cf. Kap. 2). Im zweiten ←15 | 16→Schritt geht es dann darum, einen Blick auf die Gliederung des Keltischen zu werfen und im Besonderen, die in der Forschung diskutierte Verbreitung des Festlandkeltischen und der ihm zugerechneten Sprachen bzw. Varietäten darzulegen (cf. Kap. 3). Anschließend soll der Fokus erneut auf die Situation im bayerischen Voralpenraum verengt werden und die umstrittenen historischen und sprachlichen Zeugnisse des dort vor der Ankunft der Römer dominierenden keltischen Volkes der Vindeliker und ihrer Teilstämme (Vindelicorum gentes) erörtert werden (cf. Kap. 4). In einem letzten Kapitel wird versucht, direkten sprachlichen Einfluß auf die nachfolgende romanische bzw. dann germanische Varietät in dieser Region auszumachen (cf. Kap. 5). In einem Resümee sollen schließlich alle Einzelaspekte zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden, das es erlaubt, vorsichtige Rückschlüsse auf die Substratkonstellation zu ziehen (cf. Kap. 6).

2. Historischer Hintergrund: Kelten und Römer im Voralpenland

2.1. Römische Eroberung und Romanisierung Rätiens

Das einschneidende Ereignis der Antike im nördlichen Voralpenland war der Alpenfeldzug unter Augustus (63 v.-14 n. Chr., Ks. 27 v.-14 n. Chr.) im Jahre 15 v. Chr., geleitet von seinen Stiefsöhnen Drusus (38–9 v. Chr.) und Tiberius (42 v.-37 n. Chr., Ks. 14–37 n. Chr.), der dazu führte, daß das Imperium Romanum sich maßgeblich nach Norden ausdehnte. Dieser letztlich für die Römer so erfolgreiche Sommerfeldzug ist dabei nur der Höhepunkt verschiedener Auseinandersetzungen mit den Alpenvölkern, die eine ständige Bedrohung des damaligen kernrömischen Gebietes darstellten und deshalb gewissermaßen auch präventiv unterworfen wurden.1 Der nach römischem Recht notwendige „gerechte Kriegsgrund“ (bellum iustum) bestand in der Tatsache, daß nicht nur die historischen Großereignisse wie der Galliereinfall 387 v. Chr. sowie der Zug der Kimbern und Teutonen (113–101 v. Chr.), sondern zahlreiche einzelne Plünderungszüge der Alpenstämme (Gallier, Noriker, Vindeliker, Räter) ←16 | 17→im 1. Jh. v. Chr. (cf. z.B. Zerstörung von Como 95/94 v. Chr.) eine konkrete Gefahrenlage für Norditalien darstellten. Zudem konnte durch die Eroberung eine deutliche Pufferzone errichtet werden – die Alpen als Bollwerk Italiens (lat. claustra Italiae; cf. Winckler 2012:62, FN 1) – und gleichzeitig der orbis romanus ausgedehnt werden (cf. Dietz 1995:21–22, 37–42; Dietz 2009:9–11).2

Zunächst wurden nur einzelne Feldzügen im Alpenraum durchgeführt: z.B. 57 v. Chr. Versuch der Unterwerfung des Wallis (vallis Poenina) unter Servius Sulpicius Galba; 43 v. Chr. Feldzug von Lucius Munatius Plancus gegen die Räter zwischen der späteren römischen Kolonie Kaiseraugst (Augusta Raurica, Colonia Augusta Rauricorum) bzw. dem vicus Basel (Basilia) und dem Bodensee (lacus Raetiae Brigantinus, lacus Brigantiae bzw. Obersee: lacus Venetus, Untersee: lacus Acronius); 25. v. Chr. Krieg gegen die Salasser (Salassi) im Tal der Duria Maior unter Aulus Terentius Varro Murena; 16 v. Chr. Feldzug des Publius Silius Nerva gegen die Kamunner (Camunni) und Vennoneten (Vennonetes bzw. Vennones) (cf. Overbeck 1976:663–664).

Der entscheidende Eroberungszug erfolgte schließlich im Jahre 15 v. Chr. und wurde mutmaßlich von Drusus das Etschtal entlang über Reschenpaß und Brenner (Truppen gesplittet) geführt, dann weiter das Inntal durchquerend, den Fernpaß und den Seefelder Sattel nutzend sowohl über Scharnitz (Scarbia) und Garmisch-Partenkirchen (Parthanum) als auch über Füssen (Foetes) ins Alpenvorland. Die Route des Tiberius hingegen ist strittiger, wahrscheinlich kam er ebenfalls aus Oberitalien und gelangte weiter westlich über den Julier- oder Septimerpaß ins Rheintal an den Bodensee, den er überquerte (cf. Cass. rom. hist. 54, 22) und dabei evtl. in einer Seeschlacht auch bereits gegen die ansässigen Vindeliker siegreich war (cf. Strab. geogr. VII, 1, 5).3 Im Weiteren wurde von beiden Feldherren das Alpenvorland zwischen den neu entdeckten Donauquellen und den ←17 | 18→Ausläufern des Bayerischen Waldes (Hercynia silva) erobert. Ob es im Rahmen dieses Feldzuges eine größere Entscheidungsschlacht gab (evtl. bei Augsburg, Manching etc.), wie es Horaz (65–8 v. Chr.) suggeriert (cf. grave proelium; Hor. carm. IV, 14, 14), der vom Krieg am Fuße der rätischen Alpen spricht (cf. Videre Raetis bella sub Alpibus / Drusum gerentem Vindelici; Hor. carm. IV, 4, 17–18), bei dem auch andere Alpenstämme besiegt wurden (cf. Milite nam tuo / Drusus Genaunos, inplacidum, genus, / Breunosque velocis et arcis / Alpibus inpositas tremendis // Deiecit acer plus vice simplici; Hor. carm. IV, 14, 9–13), oder ob es eher zahlreiche einzelne Kriegshandlungen waren, ist nicht abschließend geklärt.4

Andere Quellen, die auf die Vindeliker Bezug nehmen, berichten eher allgemein von der Eroberung des Alpenraumes und der Einrichtung neuer Provinzen unter Augustus, so beispielsweise Velleius Paterculus (20/19 v.-31 n. Chr.) in seiner Historia Romana (Raetiam autem et Vindelicos ac Noricos Pannoniamque et Scordiscos novas imperio nostro subiunxit provincias; Vell. hist. II, 29, 3),5 Florus (1./2. Jh. n. Chr.) in seiner römischen Geschichte (sed omnes illius cardinis populus, Breunos, Vcennos atque Vindelicos, per privignum suum Claudium Drusum pacavit; Flor. epit. II, 22, 4) und Sueton (ca. 70–122 n. Chr.) in seinen Kaiserbiographien im Kapitel zu Augustus (Domuit autem partim ductu partim auspiciis suis Cantabriam, Aquitaniam, Pannoniam, Dalmatiam cum Illyrico omni, item Raetiam et Vindelicos ac Salassos, gentes Inalpinas; Suet. Aug. 21).

In jedem Fall unterlagen die einheimischen Stämme der Raeter (Raeti) und Vindeliker (Vindelici), die Grenze des römischen Reiches verschob sich daraufhin von der Poebene (Gallia Cisalpina) bis hin zur Donau im Norden, später auch teilweise darüber hinaus (cf. rätische Limes). Im Westen bildete seit der Eroberung Galliens (58–51/50 v. Chr.) durch Caesar (100–44 v. Chr.) der Rhein (Rhenus) die Grenze, entlang der Provinz Germania (später geteilt in Germania inferior und Germania superior). Im Osten wurden ebenfalls im Zuge der augusteischen Eroberungs- und Konsolidierungspolitik innerhalb kurzer Zeit die Gebiete bis zur Donau (Danubius, Danuvius) erobert und als Provinzen etabliert (cf. Noricum, Pannonia, Moesia, Thracia) (cf. Overbeck 1976:688; Dietz 1995:22–34; Dietz 2009:14–16).

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Abb. 1:Die Provinz Rätien, ihre Völker, Städte und Straßen (Schön 2001:751–752)

Details

Seiten
518
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631873083
ISBN (ePUB)
9783631873090
ISBN (Hardcover)
9783631872970
DOI
10.3726/b19423
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 518 S., 6 farb. Abb., 16 s/w Abb., 7 Tab.

Biographische Angaben

Roger Schöntag (Band-Herausgeber:in) Barbara Schäfer-Prieß (Band-Herausgeber:in)

Roger Schöntag ist Privatdozent am Institut für Romanistik der Friedrich-AlexanderUniverstät Erlangen-Nürnberg (FAU). Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachgeschichte, Sprachkontakt, Diachrone Migrationslinguistik, und Geolinguistik. Barbara Schäfer-Prieß ist Privatdozentin am Institut für Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Farbwortforschung, Grammatikographie, Sprachgeschichte und Morphosyntax.

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Titel: Romanische Sprachgeschichte und Sprachkontakt
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