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Das Konzept der Koranexegese bei Ibn ʿAšūr

Die zehn Prologemina zum Tafsīr at-Taḥrīr wa-t-Tanwīr

by Kathrin Klausing (Volume editor) Martin Kellner (Volume editor)
©2022 Others 268 Pages

Summary

Der Tafsīr des tunesischen Gelehrten Ibn ʿĀšūr ist einer der meistgelesenen Korankommentare, die im 20. Jahrhundert verfasst wurden. In diesem dreißigbändigen Werk wird versucht, eine Verbindung zwischen traditionellen islamischen Wissenschaften und den geistigen Errungenschaften der Moderne herzustellen. Die vorliegende Übersetzung der Einleitung zu diesem Tafsīr ist die erste Übertragung aus dem Werk Ibn ʿĀšūrs ins Deutsche. Der Text ist eine eigenständige Überblicksarbeit über die verschiedenen Zweige der koranischen Deutungswissenschaften. Ibn ʿĀšūr legt darin die aus seiner Sicht wesentlichsten Grundbegriffe der Koranexegese dar: Definitionen, verwendete Quellen, Rückgriff auf andere Disziplinen und Methoden, die er in seiner exegetischen Praxis verwendet. Damit liefert er wertvolle Informationen über die hermeneutischen Grundlagen, welche seinem Korankommentar zugrunde liegen und erhellt in vielen Elementen auch Fragestellungen zu exegetischen Herangehensweisen, welche die gesamte sunnitische Kommentarliteratur durchziehen.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort der Herausgeber
  • Einleitung zum Tafsīr at-taḥrīr wa-t-tanwīr
  • Erste Vorbemerkung: Über die Begriffe tafsīr und taʾwīl und die Frage, ob der tafsīr eine Wissenschaft (ʿilm) ist
  • Zweite Vorbemerkung: Über die Abhängigkeit des tafsīr von anderen Disziplinen
  • Dritte Vorbemerkung: Über die Zulässigkeit des tafsīr ohne Berufung auf Überlieferungen (bi-ġayr al-maʾṯūr) und was es bedeutet, sich beim tafsīr auf eigene Überlegungen (bi-r-raʾy) zu stützen
  • Vierte Vorbemerkung: Was das Ziel des tafsīr-Gelehrten sein sollte und was nicht
  • Fünfte Vorbemerkung: Von den Offenbarungsanlässen (asbāb an-nuzūl)
  • Sechste Vorbemerkung: Über die Lesarten (qirāʾāt)
  • Siebte Vorbemerkung: Die Erzählungen des Korans (qiṣaṣ al-qurʾān)
  • Achte Vorbemerkung: Über den Begriff ›Koran‹ (qurʾān), seine Verse und seine Suren, sowie deren Anordnung und Bezeichnungen
  • Neunte Vorbemerkung: Darüber, dass sämtliche Bedeutungen, die den Sätzen des Korans entnommen werden können, auch als intendiert zu betrachten sind
  • Zehnte Vorbemerkung: Über den Wundercharakter (iʿǧāz) des Korans
  • Personenindex
  • Stichwortindex
  • Suren- und Versindex
  • Reihenübersicht

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Vorwort der Herausgeber

Sag: Wenn das Meer Tinte für die Worte meines Herrn wäre, würde das Meer wahrlich zu Ende gehen, bevor die Worte meines Herrn zu Ende gingen, auch wenn Wir als Nachschub noch einmal seinesgleichen hinzubrächten.
(Sure al-Kahf, 18, Vers 109)

Das Genre der Korankommentare gehört zweifellos zu den umfangreichsten und prominentesten Fachgebieten islamischer Gelehrsamkeit. Der bloße Umfang eines einzelnen Korankommentars mag ein Grund dafür sein, dass so wenige Korankommentare ausreichend untersucht bzw. übersetzt sind. Von besonderem Interesse für die Exegeseforschung sind jene Texte, die in intellektuell dynamischen Umbruchszeiten entstanden sind. Ein Werk, welches in einer derartigen Zeitspanne verfasst wurde, ist der Tafsir des tunesischen Exegeten Ibn ʿĀšūr. Die Einleitung zur Methodik dieses Exegese-Werkes soll mit der vorliegenden Übersetzung auch in deutscher Sprache zugänglich gemacht werden.

Muammad a-āhir Ibn ʿĀšūr kann mit Sicherheit als einer der einflussreichsten Koranexegeten des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. In seinem dreißigbändigen Korankommentar „Tafsīr at-tarīr wa t-tanwīr“ versucht er als ein im traditionellen islamischen Bildungssystem sozialisierter Gelehrter, einerseits das zu sammeln, was ihm aus dem verfügbaren geistigen Erbe der Kommentarliteratur erhaltenswert erschien und zugleich neue koranexegetische Akzente zu setzen: „In ihm ist also das Beste, das sich in den Korankommentaren finden lässt, zusammengetragen, wie sich in ihm auch Dinge finden lassen, die die bisherigen Korankommentare übertreffen.“

In diesem Zitat kommt zum Ausdruck, welchen Anspruch Ibn ʿĀšūr an seinen eigenen Tafsir stellt und umschreibt zugleich auch die charakteristischen Merkmale seines Opus Magnum, nämlich die Verbindung von Kontinuität und Erneuerung, von Reproduktion und Originalität, „representing a unique approach in modern typologies of tafsīr, in that it seeks change through continuity with the tradition.1←9 | 10→

Muammad a-āhir b. Muammad a-āhir b. Muammad b Muammad aš-Šāilī b. ʿAbd al-Qādir b. Muammad Ibn ʿĀšūr wurde 1879 in Tunis geboren. Seine Familie stammt von spanischen Muslimen ab, die nach dem Ende der islamischen Herrschaft in Andalusien im 15. Jahrhundert nach Marokko flüchteten und im 17. Jahrhundert in das heutige Tunesien übersiedelten.2 Die Familie etablierte sich dort innerhalb einiger Generationen als angesehene Gelehrtenfamilie, die im 19. Jahrhundert Teil der geistlichen Elite im Umfeld der angesehenen Zaytūna-Universität wurde. A-āhir Ibn ʿĀšūr erhielt seine Grundlagenausbildung an einer der traditionellen tunesischen Koranschulen, und zwar zunächst in arabischer Grammatik und Koranrezitation. Er begann seine Gelehrtenausbildung an der berühmten Zaytūna-Universität im Jahr 1892.3 Dort studierte er bei einer Reihe angesehener malikitischer Gelehrter in den Bereichen arabische Grammatik, Rhetorik, Rechtsmethodologie, Philosophie und Theologie, Logik und Prophetenbiographie. Ibn ʿĀšūr stieg in der Hierarchie der Zaytūna-Universität und in der damaligen Bildungsverwaltung auf, bis er Šay der Zaytūna-Moschee und mālikitischer Großmuftī wurde. Ab den 1960ern zog sich Ibn ʿĀšūr zunehmend aus gesellschaftlichen Debatten zurück und konzentrierte sich auf das Verfassen von Büchern. Er verfasste mehr als vierzig Bücher und unzählige Kurzessays und Fatwas. Die darin behandelten Fachgebiete erstrecken sich von Recht, Rechtstheorie, Exegese, arabische Sprache bis hin zu Poesie und Literatur.4

Der Tafsīr at-tarīr wa t-tanwīr5 („Kommentar der Befreiung und Erleuchtung“) wird zu den „wichtigsten Werken der islamischen Wissenschaften auf internationalem Niveau“6 gezählt. Der akademische Nachhall, zumindest in der muslimischen Welt, scheint dies zu bestätigen: Immer wieder erscheinen Artikel, Abschlussarbeiten und Dissertationen zu Ibn ʿĀšūrs Gesamtwerk.←10 | 11→

Ibn ʿĀšūrs Tafsīr at-tarīr wa t-tanwīr ist sein letztes großes Werk. Der erste Band erschien 1956. Die beiden ersten Teile des Korankommentars wurden in einem Kairiner Verlag7 veröffentlicht, die restlichen Teile dann in den Folgejahren in einem tunesischen Verlag. Erst 1970 wurde die komplette Ausgabe aller Teile zum ersten Mal herausgegeben.8

Ibn ʿĀšūr geht in seinem Korankommentar in Reihenfolge der Anordnung der Verse vor, wobei er auch Verse zu kleineren Gruppen zusammenfasst und diese dann geschlossen kommentiert. Ibn ʿĀšūr macht ausführlichen Gebrauch von der schon vorhandenen Tafsīr- und anderer Fachliteratur. Seine Vorgehensweise lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Er teilt die Suren zunächst in Abschnitte ein, er beginnt dann seinen Kommentar mit der Erläuterung der inneren Zusammenhänge (al-munāsaba)9 der Sure, darauf folgt die Erläuterung ästhetischer und rhetorischer Aspekte, eine Diskussion der verschiedenen Meinungen der Gelehrten zur Interpretation des jeweiligen Abschnitts, dann fügt er die Erläuterung und Genese seiner eigenen Meinung basierend auf rhetorischen, sprachlichen und grammatischen Argumentationen hinzu. Darauf folgen rechtliche Diskussionen, historische Ereignisse und verschiedene Rezitationsarten als Quellen der Exegese.10

In seinem Vorwort gibt Ibn ʿĀšūr durch eine Aufzählung der für ihn wichtigsten Korankommentare auch eine Kurzevaluation der Tafsīrtradition wieder. Al-Bayāwīs (gest. ca. 716/1316) Korankommentar ist Teil der wichtigsten Kommentare nach Ibn ʿĀšūrs Analyse eine Zusammenfassung des Kaššāf von Zamašarī (gest. 538/1144) und Mafātī al-Ġayb von ar-Rāzī (gest. 606/1210). Insgesamt besteht das Vorwort aus zehn Teilen, die verschiedene Themenbereiche beleuchten, welche laut Ibn ʿĀšūr Grundlage des Werkzeugkastens eines Exegeten, im Sinne von beherrschten Methoden, sind. Zu den Hilfswissenschaften des Tafsīrs gehören z.B.: das Arabische, die Wissenschaft der Überlieferungen (ʿilm al-āār), die Geschichte und Begebenheiten der frühen ←11 | 12→Araber (abār al-ʿarab), Grundlagen des Rechts (uūl al-fiqh), Theologie (ʿilm al-kalām) und die Wissenschaft der Rezitationsarten (ʿilm al-qirāʾāt).11

Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften dieses Werkes ist die methodische: Johanna Pink weist in ihrer Untersuchung des sunnitischen Tafsir in der modernen islamischen Welt darauf hin, dass das Verhältnis zwischen Hermeneutik und Exegese im Genre des Korankommentars höchst vielfältig ist: Manche Autoren legen hermeneutische Prinzipien dar und befolgen diese, andere betreiben Exegese, ohne ihre Methodik erkennbar zu machen, während manche Exegeten wiederum einen bestimmten Zugang zum Koran darlegen, ohne ihn im Tafsir zu befolgen.12 Das besondere am Tafsir von Ibn ʿĀšūr ist, dass er seinem Korankommentar eine Einleitung voranstellt, in welcher er auf ca. 130 Seiten die von ihm verwendete hermeneutische Methode darlegt: Definitionen, verwendete Quellen, Rückgriff auf andere Disziplinen und Methoden, die er in seiner exegetischen Praxis verwendet hat, um den Tahrīr zu verfassen. Diese Einleitung in zehn Abschnitten liefert wertvolle Informationen über die hermeneutischen Grundlagen, welche dem Tahrīr zugrundeliegen und erhellen in vielen Elementen auch Fragestellungen zu exegetischen Herangehensweisen, welche die gesamte sunnitische Kommentarliteratur durchziehen.

Im Tahrīr wird der Koran nicht als eine holistische Struktur von Bedeutungen, sondern in erster Linie als ein sprachliches Werk aus Worten und Aussagen gesehen, welches in erster Linie linguistisch erklärt werden müsse.13 So steht die Darlegung des sprachlichen Wunders des Koran im Mittelpunkt Ibn ʿĀšūrs Interesse.

Die Einleitung, deren Übersetzung hier vorliegt, besteht aus zehn Unterkapiteln, die folgendermaßen strukturiert sind14:

Erste Vorbemerkung: Über die Begriffe tafsīr und taʾwīl und die Frage, ob der tafsīr eine Wissenschaft (ʿilm) ist:

In diesem Abschnitt wird die ideengeschichtlich vielfältige und exegetisch bedeutsame Verwendung dieser beiden Begriffe dargelegt. Dies führt ihn zu ←12 | 13→weiteren Analysen des epistemologischen Stellenwerts von Tafsir als Wissenschaft und der Divergenz zwischen skripturaler und normativer Geltung in Hinblick auf Abrogierung.

Zweite Vorbemerkung: Über die Abhängigkeit des tafsīr von anderen Disziplinen.
Hier geht der Autor auf einige jener Wissenschaften ein, die traditionellerweise als notwendig erachtet werden, damit man Koranexegese betreiben kann. Er erwähnt damit ein wesentliches Spannungsfeld innerhalb der sunnitischen Gelehrsamkeit hinsichtlich der Gestaltung intertextueller Herangehensweise in der Erläuterung des koranischen Texts.

Dritte Vorbemerkung: Über die Zulässigkeit des tafsīr ohne Berufung auf Überlieferungen (bi-ġayr al-maʾūr) und was es bedeutet, sich beim tafsīr auf eigene Überlegungen (bi-r-raʾy) zu stützen.
In diesem Abschnitt diskutiert Ibn ʿĀšūr die konstruierte Dichotomie zwischen überlieferungsorientierten und rationalen Tafsir und distanziert sich zugleich von bestimmten Strömung des tafsīr išārī.

Vierte Vorbemerkung: Was das Ziel des Koranexegeten sein sollte und was nicht:
Hier legt der Autor dar, dass die Ziele des Exegeten auf die Bewahrung grundlegender religiöser Grundprinzipien (maqāid ad-dīn) ausgerichtet sein sollten; in der Orientierung an diesen Prinzipien erläutert er die Bedeutung und Stellung der arabischen Sprache. Des Weiteren betont Ibn ʿĀšūr, wie wichtig es sei, dass Exegeten mit den Wissenschaften ihrer Zeit vertraut sind; dabei definiert er einen Kanon an notwendigen Hilfswissenschaften für die Exegese des Korans, unter denen auch Naturwissenschaften zu finden sind.

Fünfte Vorbemerkung: Von den Offenbarungsanlässen (asbāb an-nuzūl):
In diesem Abschnitt diskutiert Ibn ʿĀšūr einen weiteren intertextuellen Ansatz der Koranexegese, nämlich die Verwendung von Überlieferungen, die als Darelegung von Offenbarungsanlässen verwendet werden. Hier kritisiert er einerseits die unvorsichtige Verwendung wenig authentischer Belege aus der Hadithliteratur, zugleich bemängelt er die zu starke historische Kontextualisierung der koranischen Aussagen, die dazu führe, dass man die allgemeine Geltung der entsprechenden Ausdrücke aus dem Blick verliere. Hierbei schlägt er eine fünfteilige Kategorisierung von asbāb al-nuzūl vor, welche für die Koranexegese sinnvoll wäre.←13 | 14→

Sechste Vorbemerkung: Über die Lesarten (qirāʾāt)
Ibn ʿĀšūr vertritt in diesem Kapitel die Positon, dass die Bedeutung der qirāʾāt für die Exegese des Korans von vielen Autoren überschätzt worden sei. Diese Rezitationsvarianten seinen lediglich für die Erforschung linguistischer Besonderheiten, nicht aber für das Verständnis des Korans an sich wesentlich. Des Weiteren diskutiert er den Stellenwert von mutawātir-Überlieferungen für die Geltung der Lesevarianten und die Frage der Kongruenz zum ʿumānischen Schriftzug.

Details

Pages
268
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631861202
ISBN (ePUB)
9783631861219
ISBN (Hardcover)
9783631779699
DOI
10.3726/b18833
Language
German
Publication date
2022 (April)
Keywords
Koranhermeneutik Islamwissenschaft Koranexegetik Textegese im Islam Koranwissenschaft
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 268 S.

Biographical notes

Kathrin Klausing (Volume editor) Martin Kellner (Volume editor)

Kathrin Klausing studierte Islamwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache an der Technischen Universität Berlin und der Freien Universität Berlin. Ihre Promotion erfolgte am arabistischen Seminar der Freien Universität Berlin im Bereich Koranexegese. Martin Kellner studierte Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und islamische Theologie in Damaskus. Er ist als Vertretungsprofessor für Koranexegese am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück tätig.

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