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Leib und Seele

Identität und Differenz

von Helmut Schneider (Band-Herausgeber:in) Renate Schröder-Werle (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 402 Seiten

Zusammenfassung

Die Publikation bietet einen geschichtlichen Überblick über die Auseinandersetzung bedeutender Philosophen mit dem ältesten Problem der Philosophie: dem Leib-Seele-Problem. Wenn auch philosophischen Ursprungs, reflektieren die ausgewählten Philosophen die Bezüge zu theologischen, psychologischen, psychosomatischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Dimensionen dieses Problems. Im Vordergrund steht dabei die Herausarbeitung aller Aspekte des Leib-Seele-Problems. So beschäftigen sich die Herausgeber dieses Bandes mit den Fragen, ob Leib und Seele wirklich verschieden oder identisch sind, wie sie aufeinander einwirken und ob die Seele nach dem Tod weiter bestehen kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung der Herausgeber.: Geschichte und Stand des Leib-Seele-Problems (Helmut Schneider & Renate Schröder-Werle)
  • Bibliographie der Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Leib-Seele-Problems
  • Beiträge I. Antike Philosophie
  • Zum Leib-Seele-Verhältnis im frühen Griechentum (Homer, Pythagoreer, Vorsokratiker) (Georg Rechenauer)
  • Soma und Sema. Platons Bestimmung des Grundverhältnisses von Leib und Seele (Harald Seubert)
  • Leib und Seele bei Aristoteles (Hellmut Flashar)
  • Stationen der Verhältnisbestimmung von Seele und Leib im Neuplatonismus* (Dirk Cürsgen)
  • Zur Frage nach ›Leib‹ (›Körper‹) und ›Seele‹ (›Geist‹) bei Augustinus.: Mit besonderer Beachtung der frühen Schrift »De libero arbitrio« und der »Confessiones« (Norbert Fischer)
  • II. Philosophie der Neuzeit
  • Dualität und Einheit: Descartes’ Substanzdualismus (Peter Schulte)
  • Leibniz’ Lösungsversuch des Leib-Seele-Problems gegenüber Malebranches Okkasionalismus (Michael-Thomas Liske)
  • Wissenschaft, Individualität, Religion und Seele bei Schelling um 1800 (Christian Danz)
  • Leib und Seele – Leben und Geist.: Hegels Denken eines traditionellen Verhältnisses (Annette Sell)
  • Friedrich Paulsens Kritik des Kortikozentrismus.: Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie des Gehirns (Udo Reinhold Jeck)
  • III. Philosophie der Gegenwart
  • Lebendiger Leib oder physikalischer Datensatz?: Das ganzheitliche Menschenbild von Antonio Damasio und Thomas Fuchs als Gegenposition zu reduktionistischen Modellen1 (Marcus Knaup)
  • Geist und Gehirn in der anglo-amerikanischen Philosophie (Uwe an der Heiden)
  • IV. Außereuropäische Philosophie
  • Über das Verhältnis von Körper und Seele in der arabisch-islamischen Philosophie (Mohamed Turki)
  • Haben Chinesen eine Seele, wenn ja, wie viele und wenn nicht, warum? (Gudula Linck)
  • Verzeichnis der Autoren

Helmut Schneider & Renate Schröder-Werle

Einleitung der Herausgeber.
Geschichte und Stand des Leib-Seele-Problems

Das Leib-Seele-Problem gehört zu den ältesten philosophischen Problemen der abendländischen Philosophie und der weltweiten philosophischen Auseinandersetzung mit dieser Philosophie, beginnend mit Homer und den Vorsokratikern. Die Unterscheidung von Leib und Seele sowie ihr Zusammenhang und ihr Zusammenwirken zieht sich also seit 2800 Jahren bis heute durch die Geschichte der Philosophie. Entsprechend sei, so die Annahme insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, alles zu dieser Frage gesagt, sie sei als „Problem“ gelöst. Echte philosophische Probleme werden jedoch niemals ein für alle Mal gelöst, sondern werden immer wieder Gegenstand des Denkens. Bei unserem Problem führte diese scheinbare Erfolglosigkeit des Denkens sogar zu dem skeptischen Zweifel an der Lösbarkeit überhaupt, der in dem bekannten Ausspruch „ignoramus et ignorabimus“ (Du Bois- Reymond) seinen Ausdruck fand. Der Ertrag der ungemein langen Diskussion liegt nicht in der Lösung des Problems, sondern in der Vertiefung der Fragestellung und Herausarbeitung aller Aspekte des Problems, z. B. durch die Reflexion neuer Erkenntnisse der an der Diskussion beteiligten Wissenschaften und Philologien. Es gibt in der Entwicklung des Problems sich durchhaltende Fragestellungen:

Sind Leib und Seele wirklich verschieden oder identisch?

Wie wirken sie aufeinander ein?

Kann die Seele nach dem Tod weiter bestehen?

Herausragende und besonders wirkmächtige Vertreter in der Geschichte des Problems waren Platon und Aristoteles sowie Descartes und Leibniz. Die Gegenwartsphilosophie ist geprägt durch drei Tendenzen, die sich teilweise verbinden. Die Philosophie bezieht verstärkt die Neurowissenschaften mit ein; das führt teilweise zu einem philosophisch unreflektierten ←7 | 8→Materialismus. Man ist von vornherein davon überzeugt, dass es die Seele gar nicht gibt. Seelische Phänomene sind körperliche Phänomene von Nerven und Gehirn. Auffallend ist ferner die dabei auftretende Geschichtsvergessenheit. Die Geschichte des Problems wird nur selektiv und ohne genaue Kenntnis wahrgenommen.

Auch wenn die jeweiligen neurowissenschaftlichen Projekte sehr wertvolle Bausteine und auch zuweilen Korrektive zu philosophischen Fragestellungen lieferten und liefern, ist die Herkunft aus den lokalisationstheoretischen Fragestellungen der letzten 200 Jahre immer noch zu spüren, vergleichbar mit dem Einfluss von Fragestellungen, die auf der anderen Seite aus der theologischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele in die Philosophie gekommen sind.

Als Umwege für unsere Frage haben sich unserer Ansicht nach die Ausrufung der „Dekade des Gehirns“ mit ihrer Flut an populärwissenschaftlichen Beiträgen sowie die Abstecher einiger Philosophen in die KI-Forschung erwiesen. Uns erscheint der Widerspruch von Thomas Fuchs gegen diese Entwicklung, in drei Thesen pointiert zusammengefasst, plausibler: „Die Welt ist nicht im Kopf. Das Subjekt ist nicht im Gehirn. Im Gehirn gibt es keine Gedanken.“ (Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. In: Information Philosophie, Nr. 5/2010, S. 14). Insofern interessiert auch nicht ein didaktisches Bemühen um Anschaulichkeit, das letztlich auf falsche Fährten führen kann. Wie „die Welt in den Kopf“ kommt, ist für die Leib-Seele-Frage nicht weiterführend. Unverzichtbar ist dagegen, an prägnanten Beispielen das Ringen um Kommunikation, auch mit jeweiligen Gegenpositionen, in einem Aneignungs- oder Abgrenzungs- bzw. Verwerfungsprozess über die Jahrhunderte zu zeigen, wie er in einigen unserer versammelten Beiträge zum Ausdruck kommt. So z. B. in der muslimischen Auseinandersetzung mit der Antike oder Leibniz’ Abgrenzung von den Okkasionalisten. Der Fragestellung in der chinesischen Philosophie nachzugehen, offenbart in deren Begrifflichkeit ein völlig anderes Verständnis vom Menschen, als es die abendländische Philosophie tradierte und mahnt, auch den beteiligten Philologien Beachtung zu schenken, die durch Übersetzungen wertvolle Hilfe leisten.

Etliche gewichtige Versuche und Antworten von abendländischen Philosophen, Kant z. B. oder Spinoza, kommen in diesem Band noch nicht zum Zuge, ebenso wenig wie die jüdische Philosophie, die indische, die ←8 | 9→afrikanische. In diesem Band geht es zunächst darum, die Diskussion aus der Verengung herauszuholen, in die sie durch reduktionistische Fragestellungen getrieben worden ist, nicht etwa um repräsentative Überblicke, gar Vollständigkeit. An den hier versammelten Beiträgen wird hingegen exemplarisch erkennbar, wie spannend und reichhaltig die Auseinandersetzung über die Jahrhunderte geführt worden ist.

Um einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des philosophischen Leib-Seele-Problems anhand interessanter Stationen zu geben, werden die ausführlichen Beiträge zu den im Buch behandelten geschichtlichen Positionen kurz zusammengefasst. Die verwendeten Zitate stammen aus diesen Beiträgen.

Vorsokratiker

Im frühgriechischen Denken finden sich bereits viele Vorstellungen und Ideen über die Seele und das Verhältnis von Leib und Seele, die in der Geschichte der Philosophie bis heute immer wieder auftauchten. Alle überlieferten Quellen kennen einen Unterschied zwischen Leib, soma, und Seele, psyché. Bei Homer und Hesiod ist die Seele Lebenskraft und Lebenshauch, die nach dem Tode im Hades ein schattenhaftes Dasein führt. Die Vorstellung einer über den Tod hinaus im Jenseits fortdauernden unsterblichen Seele stammt vermutlich aus dem Bereich der Mysterienkulte und der Orphik. In der Philosophie ist die Unsterblichkeit der Seele bei Pythagoras und seiner Schule belegt. Dieses erstmals dualistische Konzept von Leib und Seele verband sich jedoch mit einer Bindung der Seele an die materiellen Elemente der Welt und des Leibes in einer Mischung. Bei Empedokles gibt es zwei nicht harmonisierende Richtungen seines Denkens. Einerseits vertrat er in seinen Physika die Seele als materialistische Mischung der Elemente ohne Fortleben nach dem Tode, andererseits in den Katharmoi eine Unsterblichkeit der Seele und eine Lehre von der Seelenwanderung. Die Seele inkarniert sich in Tieren, Pflanzen und Menschen, bis sie den Weg zurück in die ursprünglich göttliche Harmonie erlangt. Vielleicht handelt es sich bei diesen unterschiedlichen Konzeptionen um zwei unterschiedliche Phasen seiner Denkentwicklung. Bei den ionischen Naturphilosophen Thales von Milet, Heraklit, Anaximander, Anaximenes, Anaxagoras wurde die Seele in engerer Beziehung zu den Elementen gesehen mit einem ←9 | 10→Zurücktreten der religiös-mystischen Tradition, die ein Weiterleben der Seele nach dem Tode annahm. Die Seele ist Lebenskraft mit materieller Substantialität. Thales von Milet sah die Seele in Verbindung mit dem Wasser, andere sahen sie in Verbindung mit der Luft und dem pneuma im Kosmos.

Bei Anaximenes scheint das Wort psyché zum ersten Mal als „Seele“ verstanden worden zu sein, nicht nur als Hauch oder Lebenskraft. Bei Heraklit wird dann die Seele als Lebenszentrum verstanden, als einheitlich seelisch-geistiger Innenraum des Menschen im Unterschied zum Körper. Die Seele ist eingebunden in den Kreislauf der Elemente und nicht unsterblich.

Auch Anaxagoras und Demokrit kreisen um die Fragestellung, ob und wie sich die seelisch-geistige Seite der Psyché zu einer physikalischen Basis im Körper verhält. Der nous des Anaxagoras steht über den stofflichen Substanzen und bewirkt in den Seelen Bewegung und Erkenntnis. Ein Dualismus zweier Bereiche ist jedoch nicht gegeben.

Eine noch stärkere Beziehung der Seele auf den materiellen Bereich lehrte Demokrit in seinem atomistischen System. Leib und Seele bestehen aus materiellen Atomen, die aufeinander einwirken auch ohne Bewegungen. Die Seele löst sich im Tod wieder in ihre Seelenatome auf, es gibt kein Weiterleben nach dem Tode. Der Körper erhält durch die Seele Leben und Bewegung, die Seele durch den Körper Schutz. Es besteht zwischen Leib und Seele kein substantieller Dualismus, sondern ein differenziertes Verhältnis der Wechselwirkung.

Überblickt man das frühgriechische Denken über die Seele und das Leib-Seele-Verhältnis, stehen sich zunächst zwei große Denkrichtungen gegenüber. Von Anfang an gibt es die noch undifferenzierte Unterscheidung eines körperlichen und seelischen Bereichs. Eine an den Funktionen orientierte Richtung versteht den Menschen immanent in der Welt und im Leben. Ein Fortleben der Seele nach dem Tode findet nur in einer eingeschränkten Schattenexistenz oder vereinzelt in einer Seelenwanderung statt. Die von den Mysterienkulten geprägte Seelenvorstellung dagegen kennt ein Weiterleben der Seele nach dem Tode und verbindet damit eine ethische Lebensführung bereits im Diesseits. Der überwiegende Teil der Philosophen wurde davon jedoch nicht beeinflusst, sondern orientierte ←10 | 11→sich an der innerweltlichen Auffassung von Leib und Seele ohne ein Fortleben nach dem Tode. Die zentrale Fragestellung ist dabei die Verbindung der Seele mit den materiellen Elementen, Wasser, Feuer, Luft. Wiederkehrende Grundbegriffe sind die Bewegung von Leib und Seele, das Leben und die Lebenskraft, der Hauch und die Atmung. Das Denken und der Geist werden in ersten Versuchen einbezogen.

Platon

In Platons Dialog Phaidon wird im Gespräch mit Sokrates die mögliche Trennung der Seele vom Leib und ihr Überleben ohne den sterblichen Leib thematisiert. Ein strenger Beweis für das Weiterleben der Seele erfolgt zwar nicht, aber immerhin eine Plausibilisierung. Während sich hier das Leib-Seele-Verhältnis bei der Betrachtung des Todes zeigte, wurde es im Symposion Gegenstand der Untersuchung einer zweiten Daseinsmacht, des Eros. Leib und Seele durchdringen sich in der Schönheit des Leibes, die in der Idee der Schönheit sublimiert wird. Die drei Seelenteile, die Platon unterscheidet, stehen in unterschiedlichen Beziehungen zum Leib. Es gibt eine enge leiblich-seelische Verflechtung. Platon trennt Leib und Seele nicht abstrakt und weist sie nicht zwei unterschiedlichen Welten zu. „Der Platonismus kann schlechterdings nicht für einen Proto-Cartesianismus beansprucht werden, aber auch nicht für eine gnostisch-neuplatonische Konzeption.“ Es besteht eine methaxis, eine Teilhabe, zwischen der sinnlichen und der noetischen Welt. Die gängigen Klischees vom leibfernen Platonismus werden zusätzlich durch die Kosmologie im Dialog Timaios widerlegt. Die Seele geht der Existenz der Welt voraus. Die Verflochtenheit von Leib und Seele ist ein harmonisches Ineinander wie in einem vollkommenen Kunstwerk. Weltseele und Weltkörper sind Modell für das Leib-Seele-Verhältnis im Menschen und in der Polis, die der erweiterte Leib der Seele ist. Die Teilhabe von Leib und Seele wird im Philebos näher entwickelt in der Theorie der Mischung und der stufenweisen Übergänge zwischen dem Einen und dem Vielen, Leib und Seele. Ein strenger Dualismus zwischen Leib und Seele ist mit Platons Seelenbegriff, der viele Verbindungen, Korrespondenzen und Analogien zwischen Leib und Seele kennt, nicht vereinbar.←11 | 12→

Aristoteles

Nachdem Platon im Phaidon mit einer Trennung von Leib und Seele im Tode noch ein Überleben der Seele vertreten hatte, entwickelte Aristoteles mit seiner Seelenlehre eine Vorstellung von Seele, die eine völlige Absage an alle Theorien einer möglichen Trennung von Leib und Seele oder einer Prä- und Postexistenz der Seele bildete. Die Seele ist Entelechie, erste Erfüllung und Vollendung der im Körper gegebenen Möglichkeiten (Hylemorphismus). Die Lehre von der Seele ist Bestandteil einer von der konkreten Erfahrung ausgehenden Naturwissenschaft.

Neuplatonismus

Im Neuplatonismus wird zwischen den Faktoren Leib, Seele und Geist unterschieden. Grundlegend wurde das System Plotins. Die einzelnen menschlichen Seelen bilden zusammen mit der Weltseele eine Einheit. Dem einzelnen Leib der Einzelseele entspricht der ewige Kosmos als Leib der Weltseele. In Plotins Gesamtentwurf gehen Geist und Seele aus dem Einen hervor, der Geist als Abbild des Einen und die Seele als Abbild des Geistes. Der Geist enthält die Totalität des intelligiblen Seins, die Ideen. Der Mensch ist seine Seele als Lebensprinzip.

Durch Plotin erfolgten ein Neubeginn und ein Wendepunkt in der Leib-Seele-Beziehung. „Vor Descartes hat kein Denker den eigenen Leib als einen Teil der Außenwelt begriffen, sondern als Moment der Eigensphäre. Das Verhältnis von Leib und Seele wird bei Plotin, jenseits sowohl des einseitigen stoischen Materialismus als auch des Hylemorphismus, zum ersten Mal in der Philosophiegeschichte deutlich auf eine Weise konzipiert, die auf den Cartesischen Substanzendualismus vorausdeutet.“ Eine tiefere Verbindung, die einen wechselseitigen Einfluss zwischen Leib und Seele annimmt, gibt es nicht. Der Leib ist in der Seele, nicht die Seele im Leib, auch wenn beide kooperieren, ähnlich wie im Hylemorphismus.

In der Seele bleibt jedoch der Trieb zum Wiederaufstieg zum Einen, dem sie entstammt. Die Lösung der Seele vom Leib und den sinnlichen Eindrücken vollzieht sich durch ein philosophisches Leben. Eine abgewandelte Form einer Lehre vom Abstieg und Aufstieg der Seele findet sich bei Porphyrios. Nach ihm hat die Seele eine vorgeburtliche Existenz und entscheidet frei über ihren Eintritt in einen Körper. Nach einem Durchgang ←12 | 13→durch verschiedene Körper – auch Tierkörper – löst sich die Seele auf ihrer Seelenwanderung wieder aus der Verstrickung in den materiellen Körper zur Rückkehr in die intelligible Welt in einer philosophischen Lebensform mit moralischer Katharsis und Askese. Es ist eine Heimkehr der Seele zu sich selbst in der intelligiblen Welt. Porphyrius vergleicht die freiwillige, flüchtige Verbindung von Leib und Seele mit einem Liebespaar.

Bei Proklos erfolgen Abstieg und Aufstieg der Seele im Geist. Die Seelen steigen aus dem Geist in die Körper und kehren wieder zu ihrem Ursprung, dem Geist, zurück. Das Seelische steht zwischen dem Geist und der Materie. Die Rückkehr der Seele zum Geist erfolgt im Denken, der Teilhabe am Geist. Dem Leib-Seele-Verhältnis inhärieren die Momente der Rationalität und Freiheit, der Sphäre des Seelischen sind drei Weisen des Leiblichen, drei „Seelenwagen“ (ochema) zugeordnet, die Verbindungen mit der Seele eingehen. Der sichtbare Leib ist ein solches Fahrzeug. Auch Damaskios kennt einen Abstieg der Seele in den Körper. Er bestreitet jedoch die Unsterblichkeit der Einzelseele.

Das allen Neuplatonikern gemeinsame und jeweils variierte Verhältnis von Leib und Seele besteht in einem Abstieg der Seele aus einem transzendenten Bereich in den Leib und eine Rückkehr aus dem Leib im Aufstieg zum transzendentalen Ursprung. Der Leib mit seiner Materie ist nur ein Zwischenstadium und eine Zwischenstation der Seele.

Augustinus

Augustinus folgt in seiner Auffassung des Leib-Seele-Verhältnisses weder platonischen noch manichäischen Vorgaben, sondern den christlichen Vorstellungen der Inkarnation Christi und der Auferstehung des Leibes. Die Inkarnation des Sohnes Gottes in Christus zeigt die Liebe Gottes zum menschlichen Leib. Augustinus vertritt auch nicht – wie Plotin – eine Rückkehr von Leib und Seele zum Einen, sondern sie bleiben im Reich Gottes als Leib und Seele erhalten. Die positive Einschätzung alles Geschaffenen erlaubt auch keine Leibesverachtung. Das Verhältnis von Leib und Seele wird bei Augustinus bedeutsam für die Fragen nach der Freiheit, dem Selbstsein und der Zeit. Augustinus untersucht die freie Willensentscheidung, die Selbsterkenntnis des Menschen und das Sein der Zeit jeweils im Hinblick auf die Wirklichkeiten von Leib und Seele. Das Leibliche und ←13 | 14→die Verknüpfung von Leib und Seele bilden die Basis des freien Willens als der leiblichen Verwirklichung einer seelisch-geistigen Kraft. Durch den leiblichen Vollzug entsteht die Endgültigkeit jeder Tat. Der Mensch als Zeitwesen liefert den Schlüssel für die Frage nach dem Sein der Zeit. Eine Auslegung der Freiheitslehre Augustinus’ als leibfeindlich und die Freiheit des Menschen leugnende Gnadenlehre durch zwei zeitgenössische Interpreten (Drecoll, Flasch) ist nicht vertretbar. In seinem Spätwerk Retractationes, das dem Rückblick auf sein Werk gewidmet ist, bekräftigt Augustinus noch einmal seine Überzeugung von der Freiheit des Willens im Leib und in der Seele als den Gütern des Lebens.

Descartes

Geist und Körper des Menschen sind für Descartes grundlegend und dem Wesen nach verschieden: res extensa, der Körper, und res cogitans, das Denken der geistigen Substanz. Die reale Verschiedenheit, distinctio realis, zwischen den beiden Substanzen beruht auf ihrer Unabhängigkeit voneinander. Eine Substanz ist definiert durch ihre Unabhängigkeit von etwas Anderem. Die charakteristische Eigenschaft des Körpers ist die Ausdehnung, die der Seele der Geist, das Denken. Es umfasst jedoch mehr als nur das logische Denken. Die res cogitans ist „ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, und das sich etwas bildlich vorstellt und empfindet.“ (Descartes). Wir können „clare et distincte“ erfassen, d. h. denken, dass der Körper ohne den Geist und der Geist ohne den Körper existieren kann. Wenn zwei Dinge verschiedene modale Eigenschaften haben, sind sie nicht miteinander identisch. Diese Nichtidentität des Unterscheidbaren ist die Gegenformulierung zum Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen bei Leibniz.

Trotz seines Dualismus und der Wesensverschiedenheit von Körper und Seele betont Descartes die Vereinigung und Verbindung von Körper und Geist im Menschen. Körper und Geist seien realiter und substantialiter coniunctum et permixtum. Die Verbindung von Körper und Geist besteht im kausalen Einwirken beider aufeinander. Durch Willensakte entstehen Veränderungen im Gehirn, die Körperbewegungen hervorrufen, während durch Sinnesreize auf dem Weg über das Gehirn bewusste Erlebnisse entstehen. Als Ort der kausalen Interaktion im Gehirn zwischen Körper und ←14 | 15→Geist bestimmte Descartes die Zirbeldrüse, eine im Zwischenhirn lokalisierte endokrine Drüse. Körper und Geist bilden ein funktionales Gesamtsystem, eine substantielle Einheit.

Wie können der materielle Körper und der immaterielle Geist aufeinander einwirken?

Im Briefwechsel mit der Kurfürstin Elisabeth von der Pfalz antwortet Descartes auf deren Fragen, dass Kausalrelationen zwischen Körper und Geist nicht mit Kausalrelationen zwischen Körpern verwechselt werden dürfen und keinen sinnlichen Kontakt voraussetzen. Descartes stellt jedoch nur hier in diesem Briefwechsel, nicht in anderen Schriften, die These auf, dass es neben den „ursprünglichen Begriffen“ des Körpers und des Geistes, d. h. den Begriffen der Ausdehnung und des Denkens, den ursprünglichen Begriff ihrer Vereinigung gibt. Davon hängt der Begriff der Kraft ab, mit der die Seele den Körper bewegt und der Körper auf die Seele einwirkt, der sich aber nicht durch die Begriffe von Körper und Geist erklären lässt. Die Vereinigung von Körper und Geist lasse sich „nur dunkel durch den Verstand (allein erkennen) erklären, nicht einmal durch den Verstand mithilfe der Einbildungskraft“ (Descartes). Es gibt Interpreten, die deshalb statt von einem Dualismus von einem Trialismus sprechen. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Texte Descartes’ eine solche Interpretation wirklich zulassen. Eine weitere Einsicht in den Zusammenhang von Körper und Geist wird möglich durch die Frage nach dem Wesen des Ich. Die Antwort „ein denkendes Ding“ (zweite Meditation, ATVII, 28) würde die Identität von Ich und Geist behaupten. Der Mensch ist ein Ich, das einen Körper hat. Das würde die Unsterblichkeit der Seele ermöglichen, die für Descartes eine wichtige Motivation für den Dualismus war. Wenn das Ich mit seiner geistigen Substanz identisch ist, kann es den Zerfall des Körpers und die Trennung von ihm überleben. Der Substanzdualismus hat heute zu Recht kaum mehr Anhänger. Descartes’ brillante Verteidigung dieser Position ist und bleibt jedoch ein wichtiger Bezugspunkt aller weiteren Debatten.

Details

Seiten
402
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631869802
ISBN (ePUB)
9783631869819
ISBN (Hardcover)
9783631858509
DOI
10.3726/b19213
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Dualismus Panpsychismus Entelechie Geistmaterie Kortikozentrismus Seelenlokalisation
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 402 S., 1 farb. Abb.

Biographische Angaben

Helmut Schneider (Band-Herausgeber:in) Renate Schröder-Werle (Band-Herausgeber:in)

Helmut Schneider promovierte in Philosophie an der Universität München. Seine Habilitation erfolgte an der Universität Wroclaw (Polen) und an der Universität Kassel. Er ist Professor für Philosophie und Sozialwissenschaften an der Grigol Robakidze University in Tblisi (Georgien) sowie Professor für Philosophie an der New Georgian University in Poti (Georgien). Seine Hauptarbeitsgebiete umfassen die Hegel-Forschung sowie asiatische Philosophie, Ästhetik und Religionsphilosophie. Renate Schröder-Werle ist Studiendirektorin im Ruhestand. Sie studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte an der Albertus-Magnus-Universität zu Köln. Ihre Hauptarbeitsgebiete liegen in der Musil-Forschung, Wissenschafts- und Erkenntnisgeschichte, Ästhetik, Interkulturelle Philosophie sowie Philosophiedidaktik.

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