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Parabel der Welt

Anmerkungen zu Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“

von Boris Wandruszka (Autor:in)
©2022 Monographie 262 Seiten

Zusammenfassung

Zielsetzung des Essays ist eine umfassende Deutung der Erzählung «In der Strafkolonie» von Franz Kafka, die u.a. sprachkritische, historische, psychologische, kultur- und religionsphilosophische Analysen miteinbezieht, insgesamt also phänomenologisch und hermeneutisch vorgeht. Mit diesen Methoden gelingt es, in dieser Erzählung eine Kultur- und Religionsphilosophie aufzudecken, die Kafka auf indirekte Weise in seinen Text hineingearbeitet hat und sich am Thema «Religion und Gewalt» explizieren lässt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abstract
  • Siglen
  • Vorwort
  • I Einleitung: Gleitende Umkreisungen
  • 1 Glühende Metaphern: Faszination und Abschreckung einer verstörenden Phänomenologie
  • 2 Dialektik von vorreflexiver Selbstobjektivierung und reflexiver Selbstüberwachung
  • 3 Die Vielfalt der Deutungsdimensionen und ihre Hyperkomplexität
  • 4 Kafkas zweite Sprache: überhelle Klarheit und unheimliche Düsterkeit
  • 5 Die religiösen Anspielungen in einer entheiligt-unheilen Welt: der Selbstbehauptungskampf des principium individuationis gegen die harmonia mundi
  • 6 Die Unabschließbarkeit und der abwesende Grund: Kafkas ‚negative Theologie‘ und die ‚schlechte Unendlichkeit‘ als die ‚beste aller möglichen Unendlichkeiten‘
  • 7 Maßstäbe der Deutung: die hermeneutische Dialektik zwischen Autor, Werk und Leser
  • 8 Ungeheure Anfänge, aporetische Tiefen und gleitende Paradoxa: die poetische Eigenart Franz Kafkas
  • 9 Theater der Grausamkeit: die Lust des Gefoltertwerdens als ‚Abglanz der Gnade‘
  • 10 Franz Kafka – gehemmter Rebell und Anarcho-Konformist
  • 11 „Das Gesetz verlor die Welt“: der kulturhistorische Kontext
  • 12 Gegenwart als Unheil, Fluch und Verdammung – ohne Herkunft und Sinn, ohne Vergangenheit und Zukunft
  • II Die Strafkolonie als Parabel der Welt
  • 1 Insellage als Experimentum mundi
  • 1.1 Entstehung des Werkes und Handlungsrahmen
  • 1.2 Die Demonstration der Hinrichtungsmaschine und ihre Ablehnung durch den Forschungsreisenden
  • 1.3 Das gescheiterte Selbstopfer des Offiziers
  • 1.4 Die Flucht des Forschungsreisenden und Resümee
  • 2 Kolonialismus, Imperialismus und Barbarei: der technisch hochgerüstete Mythos
  • 3 KZ und Heilanstalt
  • 4 „Wer nicht hören will, muss fühlen“
  • 5 Die drei Großepochen der Geschichte: archaisch-jüdische Großvaterherrschaft – christliche Vaterherrschaft – liberale Sohnesherrschaft – und dann?
  • 6 Die aufgebrochene Sohneskette und das Scheitern der selbstgerechten Selbsterlösung
  • 7 Die Insel als abgewehrte Mutter: maternaler Totalausfall und zerfallende Familie
  • Biografischer Exkurs
  • Metaphysischer Exkurs
  • 8 Die aufgeschobene Apokalypse: der Messias kommt nicht durch
  • 9 Exkurs: Gewalt und Religion
  • 9.1 Gesellschaftliche und religiöse Gewalt bei Franz Kafka
  • 9.2 Die Gewalt in der jüdischen Bibel
  • 9.3 Christliche Gewalt gegen das Judentum
  • 9.4 Gewalt und Religion überhaupt
  • 10 Die menschheitsgeschichtlichen Stadien der Religion
  • III Der Apparat als ‚Schreibmaschine‘ und ‚Allerheiligstes‘
  • 1 Der Hauptakteur der Erzählung: der Apparat
  • 2 Die leibhafte Schrift und das Gebot
  • 3 Die sechste Stunde oder die andere Kreuzigung
  • 4 Die Entlarvung der Maschine: summum ius summa iniuria
  • 5 Der Apparat als pervertiertes ‚Bundeszelt‘
  • 6 Die existenzielle Grundlage – Scham und Schuld als Triebfedern der Selbstaufhebung
  • 7 Der Apparat als reflexives Symbol für Kafkas Schreiben: sein ‚Schreibbett‘
  • IV Überwindung eines zwiespältigen Judentums?
  • 1 Das Jüdische als ideale Form der Nicht-Identität von Kafkas Identität
  • 2 Nicht-jüdisches Judentum und die zweideutige Rede vom jüdischen Gesetz im Werk Kafkas
  • 3 Keine ‚splendid isolation‘: Flucht und Verleugnung als unzureichende Lösung
  • 4 Die Rückkehr des Entsetzens: der nationalsozialistische Revenant als ewige Drohung
  • 5 Kafka – ein neuer Markion? Der gnostisch-kabbalistische Hintergrund von Kafkas Bilderwelt
  • Exkurs: Markion und das matriarchale Denken
  • 6 Metaphysik in der Schwebe
  • 7 Also doch eine ungetrübte, reine Transzendenz?
  • Nachwort: Wozu Kafka noch heute?
  • Literaturverzeichnis
  • Danksagung
  • Personenregister

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Abstract

Kaum ist etwas so schwer zugänglich wie das, was uns befremdet, und zwar schlicht aus dem Grund, weil es uns zuwider ist und wir es von uns abzuhalten versuchen. Überwinden wir diesen natürlichen Reflex, und eben das ist eine Leistung des ‚freien Geistes‘, erhalten wir die Erlaubnis, eine terra incognita zu betreten, die uns mit neuen Erfahrungen und Einsichten beschenkt. Soviel auch über Kafkas Parabeln schon gesagt wurde, und das bedeckt wahrlich mehr als ‚ein weites Feld‘, so scheint sich doch die Grenze des Ungesagten und Unsagbaren, je mehr man darüber verfügen will, um so weiter hinauszuschieben. Genau darin aber offenbart sich eine Eigenheit des kafkaschen Werkes, die zum Thema dieses Essays werden soll. Das Rätsel der leid- und lustvollen, der abstoßenden und faszinierenden, der technisierten und doch zugleich kultisch überhöhten Gewalt hat sich des Genies Franz Kafkas bemächtigt und diese Erzählung ‚In der Strafkolonie‘ hervorgebracht. Unweigerlich werden damit Dimensionen der Existenz in das Geschehen hineingezogen, mit denen sich die Menschen seit ihren Anfängen abplagen: die Zusammenhänge von Lust und Leid, Macht und Ohnmacht, Mann und Frau, Herrschaft und Gehorsam, Selbst- und Fremdbestimmung, Religion, Magie und Wissenschaft, hier, in dieser Erzählung, sogar mit einer kultur- und religionshistorischen Genealogie verbunden, die, soweit ich sehe, in den bisherigen Deutungen dieser Parabel unbeachtet blieb. In verschlüsselter, doch durchaus gut lesbarer Form hat Kafka in seine ‚Strafkolonie‘ eine Idee von Geistes-, Kultur- und Religionsgeschichte eingebaut, die wahrlich überrascht und zu denken gibt. Diese Entdeckung soll, neben vielen anderen ‚Perlen im Acker‘, mit dieser Arbeit gehoben, mitgeteilt und zur Diskussion gestellt werden.

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Siglen

(B) = Max Brod (1989), Eine Freundschaft (II). Briefwechsel, Malcolm Pasley (Hrsg.), Frankfurt a.M.

(F) = Franz Kafka (1976), Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Erich Heller und Jürgen Born (Hrsg.), Fischer, Frankfurt a.M.

(Ja) = Gustav Janouch (1951), Gespräche mit Kafka, Fischer, Frankfurt a.M.

(M) = Franz Kafka (1960), Briefe an Milena, Max Brod (Hrsg.), S. Fischer, Frankfurt a.M.

(Werke) = Franz Kafka (1986), Werke, Max Brod (Hrsg.), S. Fischer, Frankfurt a.M.

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Vorwort

Wage ich es und vergegenwärtige mir den vorliegenden Essay nochmals als ganzen, höre ich gleichsam Stimmen, die mit einem fast empörten Unterton fragen: „Wie kann man sich nur einer Geschichte, die so abstoßend und niederdrückend ist wie die Erzählung In der Strafkolonie von Franz Kafka, aussetzen? Wozu soll das gut sein? Kommt es nicht einer Selbstquälerei gleich, sich mit einer solchen Lektüre die Laune zu verderben?“

In der Tat, diese Erzählung irritiert, befremdet, ekelt manchmal an und stößt zurück. Aber auch wenn sie, wie Hans-Georg Gadamer (2003, 16) allgemein für die moderne Kunst hervorhebt, den „bürgerlichen Bildungsgenuss“1 nicht befriedigt, so fasziniert sie doch, fesselt und wirft Rätsel und Fragen auf, die in unabsehbare Tiefen reichen. Doch es scheint, dass sich diese Abgründe nur demjenigen erschließen, der bereit ist, sich – in Maßen! – zu quälen bzw. von den Bildern des Textes quälen zu lassen. Dafür wird man mit dem Geschmack des Ungewöhnlichen, Anderen, des Exotischen belohnt, das durch die glühenden kafkaschen Metaphern2 in immer neuen Horizonten aufleuchtet. Den heute so verbreiteten Reflex, aus Scheu vor dem Fremden zurückzuweichen, darf man da allerdings nicht kennen, im Gegenteil sollte es locken und die Fragen aufwerfen, wie eine solche Welt überhaupt hat ins Sein treten können, welcher Quelle sie ihre ‚wilde‘ Existenz verdankt und was sich darin an verborgenem Sein, Leben, Kampf ←13 | 14→und Sinn ausdrückt. Vor allem aber sollte man sich bewusstwerden, dass das menschliche Dasein grundsätzlich offen, unerschöpflich, weit und tief ist und dass jeder ein Anderer sein, ja immer wieder, vor allem durch die Magie der Kunst, anders werden kann – ein fortwährendes alter ego in sich selbst.

„Homo sum, humani nihil a me alienum puto“, „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“, sagt Cicero (de finibus, 3,63), ein Wort des römischen Dichters Terenz aufgreifend, das von Augustinus bis Goethe immer wieder in gewandelter Form aufgegriffen wird.3 Im Gegensatz zu seiner Grundintention bezeugt dieses Wort aber auch, dass im Menschlichen überhaupt – und darüber hinaus in der Welt – immer Fremdes ist, das wir, woher es auch rühren mag, bemerken und uns aneignen sollen. Gewiss, wir haben Grenzen und können nicht alles und jedes in uns aufnehmen; ja es ist tagtäglich geboten, eine Auswahl zu treffen, etwa nach Zumutbarkeit, Bedeutung und Werthaftigkeit, um schon rein praktisch durch den Sturm des Lebens zu kommen. Doch andererseits kann das zunächst Abstoßende, ja sogar das Schlechte und Böse Weiten und Tiefen eröffnen, die auf die Frage nach Stellung, Sinn und Auftrag des Daseins ihren unverzichtbaren Beitrag leisten: Ohne das Andere keine Welt des Eigenen; ohne Bruch kein klareres Bewusstsein von dem, was zusammengehört.

Im Letzten aber zeigt das Fremde, dass es im Menschen und im Sein überhaupt Abgründe gibt, die sich nie vollständig enthüllen lassen – ‚Der Schleier der Isis ist viel zu gewaltig, um gelüftet zu werden‘ –, sodass wir schweigend vor ihnen stehen und die Waffen des Verstehens strecken müssen.4 Im Menschen und im Sein ist, wie das Leben lehrt, offensichtlich ein Überendliches, was sich nicht ausschöpfen lässt und letztlich nur in Demut und Ehrfurcht hingenommen werden kann. Im Unvertrauten und Unheimlichen, im Fragmentarischen und Paradoxen, im Unheilen und „Zerheilten“5 dieses Überendlichen kündigt sich nichtsdestotrotz eine Heimat an, die nicht ←14 | 15→nur von dieser Welt ist und die daher auch in dieser Welt nie ganz und gar realisiert werden kann, sondern im Transzendenten und ‚Jenseitigen‘ liegt, das aber dennoch in jedem Augenblick vor der porösen Türe unserer Existenz steht und um Einlass bittet.6

Details

Seiten
262
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631854570
ISBN (ePUB)
9783631858226
ISBN (Paperback)
9783631868454
DOI
10.3726/b19117
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Gewalt und Geschichte Religion und Gewalt Patriarchalismus und Heiligkeit Epochen des Heiligen Erlösung durch Gewalt
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 262 S.

Biographische Angaben

Boris Wandruszka (Autor:in)

Boris Wandruszka studierte Philosophie und Medizin, promovierte in beiden Studiengängen und legte eine Habilitationsschrift in Philosophie vor («Metaphysik des Leidens»). Er arbeitet als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Stuttgart. Zusätzlich ist er als Dozent der Philosophie in Freiburg tätig. Seine fachlichen Schwerpunkte umfassen u. a. die Philosophie des Leidens, die philosophische Wissenschaftstheorie (inkl. Methodologie der Philosophie) sowie die Religions- und Kulturphilosophie.

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Titel: Parabel der Welt