Lade Inhalt...

Didaktiken des Komischen

Zur Humorvermittlung in der Geschichte des Deutschunterrichts

von Stefan Born (Autor:in)
©2022 Habilitationsschrift 342 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die Didaktik hat bis heute ein schwieriges Verhältnis zu Humor und Komik. Das Buch legt historisch dar, wie Schüler*innen einerseits immer vermittelt werden sollte, bestimmte Weisen zu urteilen und handeln „ernst zu nehmen", womit andererseits aber auch immer die Ausgrenzung anderer Formen von Subjektivität als „unernst" einherging. Während die Didaktik des Deutschunterrichts ein Interesse an der Kultivierung bestimmter Formen des Humors hatte, wurden andere Formen als zynisch oder frech verworfen. In der Untersuchung wird rekonstruiert, auf welchen Grundlagen solche Grenzziehungen vorgenommen wurden. Dabei werden die Umrisse einer Ideen- und Programmgeschichte des Deutschunterrichts sichtbar, die mit systematischen Überlegungen zur Didaktik des Komischen verbunden wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • I: Einleitung
  • 1: Grundbegriffe
  • I.I: Humor und Gesellschaft
  • 1.1.1: Humor als Bewohner*in von Institutionen
  • 1.1.2: Systemtheoretische Perspektiven
  • 1.1.3: Praxistheoretische Perspektiven
  • 1.1.4: Kurze Zusammenfassung
  • 1.2: Humor und Didaktik
  • 1.2.1: Komik als Unterrichtskrise
  • 1.2.2: Komik als Lerngegenstand
  • 1.2.3: Didaktische Humorlizenzen
  • 1.2.3.1: Humor der Altersstufen
  • 1.2.3.2: Humor und Zynismus
  • 1.2.4: Kurze Zusammenfassung
  • 2: Ausgangsthese und Methode
  • II: Der humordidaktische Schritt in die Moderne
  • 1: Christian Weise
  • 1.1: Institution „Schulcomödie“
  • 1.2: Moralische Kritik der „Schulcomödie“
  • 1.3: Die Differenzierung des allegorischen Weltverhältnisses im „Lust=Spiel von der verkehrten Welt“ (1683)
  • 1.3.1: Private und professionelle Staatspolitik
  • 1.3.2: Humorpolitik
  • 2: Gekränkte Traditionen: Zur Weise-Kritik im 18. Jahrhundert
  • 2.1: Zur Humorpädagogik des Pietismus
  • 2.2: Gottscheds Verhältnis zu Weise
  • III: Humor im allgemeinbildenden Deutschunterricht
  • 1: August Ferdinand Bernhardi
  • 1.1: Bernhardis Allgemeinbildungskonzept
  • 1.1.1: Bernhardis Sprach- und Kunsttheorie
  • 1.1.2: Bernhardis Konzeption des Deutschunterrichts
  • 1.2: Die humoristische Form der Kritik
  • 1.3: Die politische Lizenz der Kritik
  • 1.4: Politische Revolution und literarische Kritik
  • 2: Philipp Karl Eduard Wackernagel
  • 2.1: Bildungskonzept
  • 2.2: Volkstümlichkeit und Humor
  • 2.3: Der Inhalt der Form
  • 3: Robert Heinrich Hiecke
  • 3.1: Bildungskonzept
  • 3.2: Hieckes kunsttheoretische Einflüsse
  • 3.2.1: Hegel
  • 3.2.2: Schiller
  • 3.3: Hieckes Humordidaktik
  • 4: Rudolf Hildebrand
  • 4.1: Bildungskonzeption
  • 4.2: Sprachbildung als Bildung durch und zur Kunst
  • 4.3: Humor als Bildungskraft
  • 4.4: Humor als Jungbrunnen der Kultur
  • Exkurs: Franz Jahn
  • 5: Martin Havenstein
  • 5.1: Deutsche Bildung?
  • 5.2: Deutsche Affirmation
  • 5.2.1: Lachpolitik in Otto Ludwigs „Die Heiteretei“ (1857)
  • 5.2.2: Havensteins fachdidaktische Besprechung
  • 6: Walter Schönbrunn
  • 6.1: Lösung, Weckung, Wanderung
  • 6.2: Literarische Stimmungslehre
  • 6.3: Der humorisierte Kanon
  • 6.4: Der Humor des Kanons
  • 7: Robert Ulshöfer
  • 7.1: Ganzheit und Leitbild
  • 7.2: Didaktik der Heiterkeit
  • 7.2.1: Problematische Heiterkeit der Dichtung
  • 7.2.2: Problematische Heiterkeit der Jugend
  • Exkurs: Humor und Geselligkeitserziehung
  • 8: Zur Heiterkeit des sozialistischen Menschen
  • 8.1: Muttersprachliche Bildung und sozialistische Persönlichkeit
  • 8.2: Der sozialistische Realismus
  • 8.3: Hermann Kants „Die Aula“ (1965)
  • 8.4: Erziehung durch heitere Literatur
  • Exkurs: Dilemmas der Humorvermittlung
  • 9: Hermann Helmers
  • 9.1: Der bildungstheoretische Impuls der Raabe’schen Groteske
  • 9.2: Dialektik von Entfremdung und Geborgenheit
  • 9.3: Helmers im Kontext „deutscher Ideologie“
  • Exkurs: Humor bei Joseph Derbolav
  • 9.4: Helmers’ didaktische Analysen des Komischen
  • IV: Schlüsse und Weiterführendes
  • a) Humoristische Subjektivität in Lebensordnungen
  • b) Didaktische Dynamisierung von Lebensordnungen
  • c) Didaktische Einhegung humoristischer Dynamik
  • d) Zur Didaktik der Satire
  • e) Zum didaktischen Umgang mit humoristischer Negativität
  • Literatur
  • Reihenübersicht

←10 | 11→

I: Einleitung

Die Theorie und Praxis vom Lehren und Lernen richtet sich immer noch an Ideen von Bildung aus – und damit an normativen Vorstellungen, „Deutungsmustern“ von Subjektivität:1 Die legitimierenden und handlungsorientierenden Ziele des fachlichen und überfachlichen Unterrichts sind bestimmte Weltverhältnisse, also besonders qualifizierte Beziehungen von Subjekten zu ihrer Wirklichkeit, die in ihren theoretischen und programmatischen Beschreibungen häufig einen kohärenten, rationalen, harmonischen, wenn nicht sogar ganzheitlichen Charakter annehmen.2 In der klassischen, nach wie vor vertretenen Theorie, werden in Bildungsprozessen

zentrale identitätsstiftende Elemente der Persönlichkeit wie Ideale, Werte, Wünsche und Bedürfnisse einer permanenten Transformation unterzogen. In gewissem Sinne erfindet sich das menschliche Individuum durch diese Transformation stets neu, was heißt, dass es sich über die sozialisatorischen Prägungen der unmittelbaren Umwelt, in der es aufwächst, oder in der es aufgewachsen ist, hinwegsetzt, bzw. diese Prägungen kritisch reflektiert, und dadurch seine Autonomie und Freiheit verwirklicht.3

Dabei werden die Bedürfnisse individueller Subjekte durch Bildung mit den Ansprüchen der „bürgerlichen Gesellschaft“ und den „Sitten dieses Gemeinwesens“4 positiv vermittelt, die Werte und Wünsche des Subjekts und die institutionalisierten Ansprüche von Staat, Nation, Kultur oder Sittlichkeit versöhnt, Autonomie und Freiheit verwirklicht; Bildung als Prinzip einer gelingenden Synthese sorgt für einen harmonischen Ausgleich von individueller Selbstverwirklichung und sozialen Institutionen.

Der Beschreibung lässt sich allerdings auch entnehmen, dass dem gebildeten Weltverhältnis ein erhebliches Konfliktpotential immanent ist. Dort, wo das menschliche Individuum auf eine ausgrenzende soziale Realität trifft, müsste jedenfalls sofort ein praktisches und dann auch bildungstheoretisches Problem entstehen – zumindest solange dem gelingenden Subjekt-Welt-Verhältnis die Autonomie und Selbstbehauptung des Subjekts eingeschrieben bleiben sollen. Auf dieses Problem reagiert die Erziehungswissenschaft seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre, und verstärkt im ←11 | 12→neuen Jahrtausend, durch die Konzipierung einer „ironischen Pädagogik“,5 in der die Diskontinuität, Widersprüchlichkeit, Labilität und Konfliktträchtigkeit gebildeter Subjekt-Welt-Verhältnisse betont wird. Alexander Aßmann hält fest, dass in Stojanovs klassisch orientierter Darstellung die sozialen Bedingungen, unter denen sich Bildung „pragmatisch manifestieren“ kann, idealisiert werden.6 Anders als von Bildungstheoretiker*innen7 oft angenommen wird, sei eine harmonisierende Synthese individueller und gesellschaftlicher Ansprüche im direkten „Verhältnis zur Macht“8 oft unmöglich; individuelle Autonomie, Selbstbehauptung und soziale Normalität seien oft nicht in Einklang zu bringen; auch ohne gute Gründe müsse das Individuum sich oft an die umgebende soziale Normalität anpassen.

Um den Anspruch der Freiheit nicht aufzugeben, bleibe ihm allerdings die Ironie. Deswegen schlägt Aßmann vor, den Begriff der Ironie „zur Bezeichnung von Bildung im größtmöglichen individuellen Maßstab“ zu verwenden.9 ←12 | 13→Die Konjunktur der Ironie ist keine beliebige Ergänzung der Bildungstheorie, sondern die Reaktion auf ein „systematisches Defizit“:10 Solange die Möglichkeiten einer harmonisierenden Synthese von Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Institutionen realiter begrenzt sind, kommt der Ironie praktische Relevanz für empirische Bildungsprozesse und systematische Bedeutung für die Bildungstheorie zu: Anstatt von den zeitlichen Möglichkeitsbedingungen harmonisierender Bildungsverläufe zu abstrahieren, wird qua Ironie auch das in die Bildungstheorie integriert, was ihren positiven Intentionen widerspricht.

Was in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion am Beispiel der Ironie herausgestellt wurde, kann leicht auf benachbarte, ähnlich strukturierte Problemfelder und Dispositionen übertragen werden. Der Humor, beziehungsweise, auf die Objektseite gewendet: Sämtliche Formen des Komischen11 haben eine analoge Bedeutung für Bildungsprozesse. Sie besteht darin, dass der Humor es seinem Subjekt ermöglicht, sich gegenüber einer gesellschaftlichen Normalität beziehungsweise einer normierten sozialen Wirklichkeit, die sich zu seinen Bedürfnissen widersinnig verhält, auf eine wie auch immer problematische und indirekte Weise, selbst zu behaupten. Durch ihn lässt sich, anders gesagt, die Gleichzeitigkeit eines spontanen und autonomen Subjekts mit einer Normalität, die dessen Autonomie ausschließt oder ihr jedenfalls widerspricht, in eine dennoch praktikable Lebensweise überführen.

Auch in Fachdidaktiken, etwa der Religions-, Philosophie- oder der Deutschdidaktik, wird diese Bedeutung gelegentlich unterstellt, bislang jedoch nicht historisch untersucht. Zum Beispiel liegen in der Deutschdidaktik des Komischen und ←13 | 14→des Humors viele Einzelbeobachtungen und programmatische Erklärungen, aber nur wenige systematische und gar keine historischen Untersuchungen vor. Parallel zur erziehungswissenschaftlichen Konjunktur des Ironischen12 wurde von Klaus Gerth herausgestellt, dass die bildungstheoretische Bedeutung des Komischen in einer generellen „Stärkung des Lebensgefühls“ von Heranwachsenden gegenüber einer anders normierten sozialen Wirklichkeit liege.13 Peter Bekes betonte, die didaktische Relevanz des Humors liege in der Entwicklung und Relativierung eines Bewusstseins „für Normen und Werthaltungen“.14 Von Daniela Gronold und Nicola Mitterer wurde Humor als umfassendes „Bildungskonzept“ beschrieben, als „essenzieller Bestandteil“ des Fachunterrichts, der es Heranwachsenden auch unter trostlosen Bedingungen erlaube, „die gesellschaftlichen und diskursiven Strukturen, damit auch die Strukturen des Denkens, von denen sie geformt wurden, überschreiten zu können“.15

Den Untersuchungen und Programmen aus der Erziehungswissenschaft und der Deutschdidaktik ist ein bildungstheoretisches Interesse, jedenfalls aber ein bildungstheoretischer Argumentationsstil gemeinsam. Die mit Humor und Ironie bezeichneten Dispositionen erscheinen als adäquate Formen einer Subjektivität, die Disharmonien zwischen unterschiedlichen Werthaltungen bewältigen muss, was immer auch ein bildungstheoretisch fundiertes Urteil über soziale Normen oder Normalitäten einschließt. Didaktik setzt sich, als ‚Humordidaktik‘,16 in ein negatives Verhältnis wenigstens zu Ausschnitten der ←14 | 15→gesellschaftlichen Wirklichkeit. An diesen Forschungs- und Diskussionsstand schließt die Untersuchung aus einer fachgeschichtlichen Perspektive an.

Sie zielt (1) darauf ab, die bildungstheoretischen Funktionen des Komischen für schulische Bildung historisch zu beschreiben. Sie unterstellt dafür, dass Humor in der Deutschdidaktik regelmäßig als Form der Selbstbehauptung gegenüber einer Sozialwelt verstanden wurde, deren Normierung als Widerspruch zur Selbstbestimmung der Bildungssubjekte gefasst wurde. Die Untersuchung beabsichtigt weiterhin, im Zuge dieses Nachweises (2) Typen, Denkstile und Reflexionsprobleme der Humordidaktik zu fassen, die sich als historisch konstant oder rekurrent erweisen, also über den Tag hinaus und vermutlich bis heute für Didaktiken des Komischen relevant, wenn nicht systematisch bedeutsam sind. Sie trägt dadurch zur deutschdidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Bildungstheorie bei und prüft bestehende Überlegungen. Sie nutzt die Analyse didaktischer Kulturen des Komischen aber auch als Zugang zu grundlegenden kulturellen Codes oder Symbolsystem17 und trägt so (3) zur Normengeschichte des Deutschunterrichts bei.

Im ersten Abschnitt werden die humor- und didaktiktheoretischen Grundbegriffe der Analyse entwickelt, wobei die Einbindung von Humor in Lebensordnungen beziehungsweise Verhaltens- und Denksysteme hervorgehoben wird, die in gesellschaftlichen Institutionen beheimatet sind. In den zwei nächsten Abschnitten werden historische Positionen aus der Didaktik des Unterrichts in der deutschen Sprache auf ihre humorologischen und bildungstheoretischen Voraussetzungen, Ziele und Strategien befragt. Abschnitt II beschäftigt sich mit der rhetorischen Vorgeschichte des Deutschunterrichts; der Schwerpunkt der Untersuchung liegt allerdings in Abschnitt III, worin Positionen seit der Etablierung des Deutschunterrichts im Kanon der allgemeinbildenden Fächer untersucht werden.18 Die Untersuchung ←15 | 16→interessiert sich vor allem für die humordidaktische Konstruktion oder Kontinuierung eines „allgemeinen“ Ethos der Bildung im deutschen Fachunterricht. In Abschnitt IV wird die Ausgangsthese erneut überprüft und präzisiert. Zudem werden Beobachtungen aus den Einzeluntersuchungen zu neuen, nun aber auf dem historischen Material fußenden, Hypothesen über Argumentationstypen, Reflexionsprobleme und Grundfragen der Humordidaktik zusammengeführt.

1: Grundbegriffe

In den nächsten Abschnitten werden, an den jüngeren humordidaktischen Diskurs anschließend, allgemeine institutionelle und theoretische Bezüge der Humordidaktik herausgestellt und einige ihrer Grundprobleme und Tendenzen beschrieben, um so analytische Kategorien für die weitere Untersuchung zu gewinnen. Dabei geht es nicht darum, eine essentialistische, erst recht keine erschöpfende Humor- oder Komiktheorie aufzustellen.1 Die Theorie erfüllt heuristische Funktionen für diese Untersuchung. Die Kapitel greifen auf diverse Komiktheorien zurück, integrieren sie für die Zwecke dieser Untersuchung und verbinden sie mit soziologischen Überlegungen.

Dabei argumentiert die Untersuchung auch historisch; der Begriff der Bildung setzt eine Gesellschaftsordnung voraus, in der die Subjekte ihre Identität nicht bloß aufgrund von Askription, sondern durch Reflexion erlangen;2 auch der Begriff des Humors setzt eine solche Gesellschaftsordnung voraus,3 wie an der Wortgeschichte zu erkennen ist.4

←16 | 17→

I.I: Humor und Gesellschaft

Die Entstehung des Humors im heutigen Sinne geht auf soziale und kulturgeschichtliche Umwälzungen zurück, die im 18. Jahrhundert zu einer Aufwertung des Komischen und des Lachens führten. Im Mittelalter wurde das lateinische Wort für Flüssigkeit (humor) innerhalb der Theorie der Affekte und Temperamente verwendet. In dieser Theorie wurden vier Typen von Körperflüssigkeiten (humores) unterschieden: cholerische, sanguinische, phlegmatische und melancholische. An der Begriffsgeschichte ist ablesbar, dass sich der Humor aus dem Kontext der medizinisch-klinischen Anthropologie löste und zunächst im Kontext des englischen Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert sukzessive neue Bedeutungen annahm. Im englischen Sprachraum wird „humour“ eine Bezeichnung für generell abweichendes, verlachenswertes Verhalten, das auf eine ungünstige Mischung der humores in einer entsprechend dispositionierten Einzelperson (humorist) zurückgeführt wird. Aus diesem negativen Sonderling wird an der Wende zum 18. Jahrhundert im englischen Sprachraum allmählich jemand, der nicht mehr die seltsame Zielscheibe von Spott ist, sondern mit dem man auf eine angenehme Weise lachen kann. An der Begriffsgeschichte lässt sich ablesen, dass sich Bestimmungsverhältnisse umkehren: Wenn Humor als ungünstige Säftemischung vorher den Menschen hatte, hatte nun der Mensch, als selbstbestimmtes Subjekt, den Humor. „Humour“ beginnt mehr und mehr „das Idiosynkratische, Sonderbare und gerade nicht Typisierbare des Individuums zu nennen.“5 Der „man of humour“ kann sich nun auf determinierende Bestimmungen eines Verhaltens beziehen und sich, humoristisch im modernen Sinne, von ihnen unterscheiden; indem er sich von ihnen unterscheidet, „de-identifiziert“ er sich,6 behauptet Freiheit und Spontaneität.

Diese Umwertung wird in den philosophischen Theorien des Gelächters und des Komischen – die zu unterscheiden sind, sich aber berühren, solange über ←17 | 18→Gelächter als Reaktion auf Komisches nachgedacht wird – begleitet und reflektiert. Um 1700 zeichnet sich im gelehrten Diskurs über Gelächter, Komisches und Humor mit der Ablösung der Superioritätstheorie ein Paradigmenwechsel ab: Wurde das Lachen bei Hobbes noch als tendenziell eitel und schädlich bewertet, wird es nun zu einem Medium geselliger Vergemeinschaftung, sozialer Regulation oder auch der intellektuellen Erkenntnis aufgewertet.7 Durch die ältere Moralistik war das Lachen entweder wegen seiner ausgrenzenden und aggressiven Komponenten verurteilt oder als eine Möglichkeit zur Sanktionierung abweichenden Verhaltens am Hof legitimiert worden. Nun werden neue Maßstäbe ‚guten‘ Lachens jenseits höfischen Geschmacks entwickelt. „Aus der höfischen Perspektive“, resümiert Georg Braungart diesen humorologischen Epochenbruch,

sanktioniert die Norm des Lächerlichen ein Verhalten, das die Regeln des ‚decorum‘ und der galanten Konversation verletzt. Aus ‚bürgerlich‘-aufklärerischer Perspektive manifestiert sich in diesem Lächerlich-Werden dagegen gerade die Erfüllung einer höheren Norm, das Hochhalten von Wahrheit und Tugend.8

Im Shaftesbury’schen test of ridicule wird eine abstraktere moralische Bezugsnorm behauptet. Ein platonisch gedachtes Ethos der Wahrheit soll dafür sorgen, dass Scherz und Humorisierung ertragen werden und der Wahrheitsfindung dienen. Während man lichtscheue Gespenster bloß „in a certain Light“ zeigen könne, sei die Wahrheit lichtunempfindlich:

Truth, ’tis suppos’d, may bear all Lights: and one of those principal Lights or natural Mediums, by which Things are to be view’d, in order to a thorow Recognition, is Ridicule it-self, or that Manner of Proof by which we discern whatever is liable to just Raillery in any Subject. So much, at least, is allow’d by All, who in any time appeal to this Criterion. The gravest Gentlemen, even in the gravest Subjects, are suppos’d to acknowledg this: and can have no Right, ’tis thought, to deny others the Freedom of this Appeal; whilst they are free to censure like other Men, and in their gravest Arguments make no scruple to ask, Is it not Ridiculous?9

←18 | 19→

In der historischen Humorforschung wird immer wieder eine enge Verflechtung dieser Entwicklung mit sozialgeschichtlichen Tendenzen bemerkt. So lässt sich der humorologische Turn auf eine Differenzierung der sozialen Systeme zurückführen, eine umfassende Rationalisierung traditionaler Lebensordnungen.10

Diese Öffnung und Dynamisierung der hierarchisch stratifizierten Sozialordnung führt einen reflektierten Typus von Subjektivität mit sich, wird andererseits aber auch durch ihn getragen. Der sozialstrukturelle Wandel geht mit der Entstehung einer bürgerlichen Schicht einher, die beginnt, sich ästhetisch und ethisch sowohl von der höfischen Leitkultur als auch von den volkstümlichen Schichten zu distinguieren; das moralische und ästhetische Selbstbewusstsein dieser Öffentlichkeit drückt sich unter anderem in einem verbürgerlichten Humordiskurs aus. Neben den höfischen und volkstümlichen Humordiskursen entsteht ein weiterer, in dem Humor an bürgerliche Geschmackskriterien gebunden, moralischen und politischen Emanzipationsbewegungen zugeordnet wird. Neue Praktiken der Zivilisierung oder auch Verhöflichung des Lachens führen dazu, dass seine ausgrenzenden, aggressiven und demütigenden Formen nun eher den volkstümlichen Lachkulturen, den unteren Klassen und den Kindern zugerechnet werden.11 Aber selbst wenn diese Zivilisierung des Humors mit der Formierung des Bürgertums koinzidiert, läuft die Humorgeschichte nicht automatisch und umfassend auf eine Verbürgerlichung des Komischen hinaus: Als Medien der Erkenntnisgewinnung oder der sozialen Regulation in Modernisierungsprozessen sind Lachen und Komik nicht per se schon ‚bürgerlich‘.

Auch wird die Einheit der Vernunft, die Shaftesbury im Zuge seiner Neuvermessung noch unterstellen konnte, schnell problematisch. Innerhalb bürgerlicher Bewegungen wirkt der Gegensatz zur höfischen Kultur zwar zunächst identitätsstiftend und stabilisierend, sodass sich politische oder moralische Widersprüche innerhalb der frühbürgerlichen Öffentlichkeit sich noch „auf den gemeinsamen Nenner des Klasseninteresses“ bringen lassen,12 die historische Humorologie hat allerdings herausgestellt, dass in theoretischen Bestimmungen und in ←19 | 20→ästhetischen Gestaltungen des Humors im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend die Krisenhaftigkeit bürgerlicher Ordnungsentwürfe reflektiert wird.

Von einer eindeutigen Verbürgerlichung des Humors im Zuge sozialer Differenzierung wäre also selbst dann, wenn man von der Entwicklung volkstümlicher oder höfischer Lachkulturen absieht, nicht auszugehen. Der bürgerliche Humor wird sich sogar selbst problematisch – schwarzer Metahumor entsteht, der auf seine anthropologischen und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen reflektiert.13 Im Lauf des 18. Jahrhunderts wird die Tugend und Wahrheit des bürgerlichen Geschmacks sich selbst als Teil einer problematischen Bewegung mit limitierten Möglichkeiten transparent.

Auch die deutsche Begriffsgeschichte des Humors lässt sich als Symptom einer Reflexion von Modernisierungsprozessen verstehen: Der englische Begriff „humour“ wird im Kontext der Französischen Revolution und der anschließenden Revolutionskriege als „Humor“ ins Deutsche übersetzt. Das Wort bezeichnete nun auch hier eine Eigenschaft, die es ihren Träger*innen ermöglichte, sich in ihrem Verhältnis zu sich selbst und bestimmten Weltbereichen aktiv selbst zu verstehen,14 sich von Lebensordnungen und ihren Rationalitäten zu unterscheiden oder solch eine Unterscheidung subversiv infrage zu stellen. Die positive Seite dieser Subjektivität war eine neuartige Eigenständigkeit und Beweglichkeit, die sofort bemerkte negative Seite war, dass sich diese Subjekte auch eigensinniger verhielten, schwieriger festsetzten und auf soziale Normen verpflichten ließen.

In der romantischen Ironie und im romantischen Humor ist dieser Widerspruch auf eine erste Spitze getrieben worden.15 Der Humor der romantischen Epoche ist noch eine Reflexion auf den historischen Zustand des Aufklärungsprozesses, der im Medium der bürgerlichen Subjektivität stattfindet, die humoristische Form der Subjektivität ist also nach wie vor auf den Prozess der Modernisierung traditionaler Lebenswelten bezogen.16 Aber dieser Prozess kann nicht mehr als Fortschrittsprojekt im Medium bürgerlicher Rationalität ←20 | 21→gedeutet werden; die bürgerliche Subjektivität kann die Einheit ihrer Vernunft und die praktische Einlösung ihrer ideellen Implikationen häufig nur komisch, also negativ zur Anschauung bringen. Autonomie, Emanzipation, die Aufhebung von Entfremdung werden als aporetische Kunstprogramme wahrgenommen und humoristisch fortgeführt.17

Im romantischen Humor wird nicht nur eine spezifische Negativität, sondern generell „das Endliche durch den Kontrast mit der Idee“ vernichtet,18 womit er zum Ausdruck romantischer Subjektivität par excellence wird. Denn der romantische Humor hält, anders als die Satire oder der Witz, die einen Widerspruch an diesem oder jenem bemerken, den Widersinn fest, in dem alles Endliche zur subjektiven Idee des Unendlichen steht. Im Anschluss an die Romantik und ihre Kritik durch Hegel entwickelt Kierkegaard eine ähnliche Auffassung des Humors, wenn er ihn als „das Inkognito des Religiösen“19 begreift, also als die Rolle oder Maske desjenigen, der seine religiöse Innerlichkeit mit der abweichenden Außenwelt zu vermitteln hat. Mit Hegel bemängelt er an den romantischen Humor- und Ironiekonzeptionen aber, sie seien „unendliche absolute Negativität“.20

Auch wenn die ästhetischen und philosophischen Diskurse mit dem allgemeinen Sprachgebrauch verbunden sind, heben sie sich von diesem ab. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gewinnt die Idee an Popularität, Humor sei mit einem „Vorzeichen der Harmlosigkeit“ versehen,21 also, anders als etwa die Satire, auf das Gemütliche und Versöhnliche verpflichtet. Humor in einem weiten Sinn wird im deutschen Sprachgebrauch jedoch seit 1800 zunehmend als eine positiv konnotierte Disposition verstanden, welche die Bereitschaft einschließt, Komisches – sei es satirisch, witzig, ironisch oder ‚humorvoll‘ in einem engen, programmatischen Sinn – wahrzunehmen oder zu äußern und sich dadurch von Anderem zu unterscheiden oder diese Unterscheidungen zu unterlaufen. Im engeren Sinn bezeichnet er also eine komische Ausdrucksweise, die sich von anderen komischen Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen des Humors im weiten Sinne abhebt.22

←21 | 22→

Während in der Humorforschung ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass mit der gesellschaftlichen Modernisierung eine neue Epoche komischer Subjektivität beginnt, variieren die Modernebegriffe erheblich. Neben den weiten systemtheoretischen oder habermasianischen Modernebegriffen werden immer wieder engere Epochenbegriffe angewendet, die hier wenigstens erwähnt werden sollen: Peter Rehberg sieht „das Lachen der Moderne“ später entstehen, nämlich am Beginn des 20. Jahrhunderts – dies aber so, dass es Modernität im Sinn sozialer Differenzierung und eines korrespondierenden Subjektverständnisses durchaus einschließt. Das moderne Lachen reflektiert ihm zufolge insbesondere auf verschiedene Zeit- und Geschichtsordnungen und stellt dadurch ein nicht mehr vorhersehbarer oder ableitbarer Moment dar, „der die verschiedenen Geschichtsmodelle zugleich generiert und unterbricht“.23 Niklas Bender nimmt an, dass in der Literatur von 1900–1960 die für die „klassische Moderne“ typischen „Charakteristika – Innovationssuche, kritische Hinterfragung der Tradition – zu ihrer reinsten Entfaltung kommen“;24 eine Charakterisierung, zu der wiederum die komischen Ausdrucksweisen Entscheidendes beitragen. Lars Erken Haussühl dagegen versteht einen Humor als „modern“, der verschärft zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftrete und dessen Negativität nicht mehr durch eine positive Ernsthaftigkeit integriert werden könne,25 dessen Heiterkeit also problematisch werde.

In dieser Untersuchung wird zwar die Rede von Humor als innere Haltung oder als Wahrnehmungsweise der Moderne fortgeführt, aber der Begriff wird gegen den Usus nicht für einen bestimmten Modus des Komischen oder der Komikrezeption reserviert. Stattdessen wird zunächst eine Entdifferenzierung vorgenommen: Humor soll hier im weiten Sinne einer habituellen Bereitschaft und Fähigkeit, Komisches wahrzunehmen oder hervorzubringen betrachtet ←22 | 23→werden; allerdings bleibt diese Einstellung, als Humor, eine Erscheinung der modernen Gesellschaft, in der traditionalen Lebensordnungen zunehmend funktional differenziert und rationalisiert werden. Zudem bemüht sich die Untersuchung, im Anschluss an die Humorforschung im siebten Band der Reihe Poetik und Hermeneutik, um Abstand von „ontologischen“26 Humorbestimmungen. Wie in jüngeren Beiträgen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Humorforschung27 soll von absoluten Komikbestimmungen abgesehen werden und stattdessen untersucht werden, auf welche Weise es sich in welchen soziokulturellen Kontexten realisiert.

Die theoretischen Grundlagen dieser Untersuchung werden in den nächsten Unterkapiteln entwickelt.

1.1.1: Humor als Bewohner*in von Institutionen

Die Beobachtung, dass Humor immer auf einen Ernst bezogen ist, ist zunächst trivial. Ernst kann im Sinne des Alltäglichen, Üblichen und des „Normalfalls“ verstanden werden, aber auch im Sinne der außerordentlichen Anstrengung und des Kampfes. Auf diesen Bedeutungsaspekt verweist der Wortursprung (ahd. ernust). Im agonalen Konflikt mit der Wirklichkeit ist, anders als im humorvollen Wirklichkeitsverhältnis, noch kein überlegener Standpunkt vorhanden. Das Wirklichkeitsverhältnis ist von Ergebnisoffenheit, Konkurrenz, riskanten Beziehungen, durchaus auch von schmerzhaften Erfahrungen geprägt; für den Ernst steht etwas auf dem Spiel. Deswegen muss im Ernst gerade das eigene Verhältnis zur Wirklichkeit stets anders zugerichtet, Strategien müssen angepasst und neu entworfen werden, damit überhaupt bewältigt werden kann, was an Wirklichkeit entgegensteht. Humorist*innen mögen in diese Wirklichkeit ebenfalls verstrickt sein, aber sie richten einen Standpunkt her, der, auf wie prekäre Weise auch immer, über die Widersprüchlichkeit dieser Wirklichkeit und über die agonalen Auseinandersetzungen in ihr hinweg ist.28 Das Komische erscheint deswegen, ←23 | 24→um mit einer klassischen Formulierung Joachim Ritters zu sprechen, als das durch den Ernst mit Notwendigkeit Ausgegrenzte, somit als das „Nichtige“.29

Dass Humor mit Ausgrenzung, Exklusion30 und Exklusivität31 zu tun hat, wird in letzter Zeit auch durch die Geschmackssoziologie herausgestellt. Allerdings zeigen diese Untersuchungen vor allem, wie sich Humor mit Distinktionseffekten verknüpft und dadurch exklusiv wirkt – was vor allem dadurch bemerkenswert ist, dass Humor im Vergleich zu seriösen Ausdrucksweisen traditionell ein eher geringer Distinktionswert zugeschrieben wird. In den Untersuchungen wird aber die Binnenstruktur der komischen Gegenstände ignoriert. Dadurch gerät kaum in den Blick, dass das Spiel mit sozialer Exklusivität nicht erst ein konstituierendes Merkmal des Umgangs mit besonderen komischen Formen und Formaten ist, sondern ein Merkmal des Komischen selbst. Im Komischen wird das menschliche Weltverhältnis gestört, das Ernst genannt wird. Ritter führt aus, Ernst bestehe

überhaupt darin, daß er nur das zur Sache Gehörige gelten läßt und so hiermit bereits unzählige Gedanken, Wünsche, Neigungen, Vorstellungen, die in der Wirklichkeit des Daseins ebenso und nicht weniger lebendig mitgehen, zwingt, in der Form des Unwesentlichen und Nichtdazugehörigen fortzubestehen und als das Unsachliche und Unernste das jeweils zur Rede stehende gleichsam in der Weise zu umspielen, wie sich in die sachlichen Protokolle der Sitzungen alles das, was nicht zur Sache gehört, in der Form von Männchen und spielerischen Ornamenten als dennoch dazugehörig einschleicht.32

Das Weltverhältnis des Humors zeichnet sich im Gegensatz zum Weltverhältnis des Ernstes dadurch aus, dass es sowohl um die Exklusion eines Weltverhältnisses als auch um dessen Desavouierung weiß; desavouiert wird eine Exklusion, indem sie nicht-anerkannt wird (frz. desavouer. nicht anerkennen, ableugnen) und indem etwas in eine Ordnung eindringt, das aus ihr ausgeschlossen wurde. ←24 | 25→Ritter spricht von der „Lebensordnung“33 und bezieht sich dabei auf einen Begriff, der in der damaligen Sozialwissenschaft vor allem durch Alfred Vierkandt systematisch verwendet wurde. Dieser versteht unter Lebensordnung eine institutionalisierte Verhaltensregulierung, die auf expliziten oder impliziten Absprachen und Vorschriften, Gesetzen oder Vereinbarungen fußen kann34 und betont das permanente Spannungsverhältnis von Lebensdrang beziehungsweise „Triebleben“ und Ordnung.35 Das entspricht der freudianischen Einsicht, dass im humoristischen Vorgang eine punktuelle Befreiung von Selbstzwängen, Besetzungsaufwänden, gesellschaftlicher Disziplinierung durchschlägt.36 Das humoristische Weltverhältnis ist den Grenzen einer sozialen Ordnung gegenüber transgressiv. In diesem Fall wird auch das nicht zur Sache Gehörende, also das Impertinente (lat. impertinens: nicht zur Sache gehörend) gesagt oder getan. Für Ritter bleibt der Ernst mit der Lebensordnung, der Sitte oder auch dem philosophischen Begriff – also mit sozialen Institutionen im Allgemeinen, etwa im Sinne von habitualisierten, typisierten Verhaltensweisen und Deutungsmustern – identisch.37 Diese Institutionen wiederum erscheinen als schlechthin gegeben oder aber allein durch die (theoretische) Bewegung des philosophischen Begriffs konstituiert. Das Individuum wiederum erscheint als etwas, das durch den Ernst ausgegrenzt wird beziehungsweise „durch den Allgemeinbegriff nicht erfasst werden kann.“38 Es steht den sozialen Institutionen also als etwas Äußerliches gegenüber.39

←25 | 26→

Möglicherweise lässt sich die schroffe Gegenüberstellung von Individuum und umgebender Lebensordnung aus Joachim Ritters Schreibsituation im Jahr 1940 heraus erklären. Er setzt eine negative und totalitäre Gesellschaft voraus40 und formuliert darauf aufbauend eine genuin anti-totalitäre Humortheorie: Bei Ritter wird durch Humor die totalitäre Vermessenheit sozialer Vernunft entlarvt, einschließlich deren „Überzeugung, im Allgemeinen ihres Begriffs auch alles zu begreifen, was für das Dasein des Menschen und der Dinge wesentlich sein kann.“41 An die Stelle des prätentiösen Allgemeinbegriffs tritt bei Ritter das Allgemeine des romantischen Glaubens, denn: Die „Kritik an der Vernunft, der ratio, der raison und an ihren Regeln und Begriffen ist das Allgemeine und Metaphysische“.42 Das Allgemeine, das deutet auch die intensive Auseinandersetzung Ritters mit Jean Paul an, kann aber nicht in den Begriffen der philosophischen Vernunft erfasst werden.43 Auch wenn es von Ritter nicht expliziert wird, wird doch ein Humor nahegelegt, der nicht mehr in irgendeiner Lebensordnung, sondern metaphysisch und religiös fundiert sein soll.44

1.1.2: Systemtheoretische Perspektiven

Die metaphysische Konzeption des Humors ist nicht alternativlos.45 Ritters Begriff der Lebensordnung ist auf systemtheoretischen Grundlagen spezifiziert ←26 | 27→worden. Mit Rainer Warning lassen sich die Ausschließungen von Lebensordnungen als Negativierung beziehungsweise systematische „Pauschalausklammerung“ einzelner Handlungs- oder Kommunikationsoptionen in sozialen Systemen beschreiben.46 Komik kommt für Warning durch die spielerische Positivierung solcher ausgeklammerten, also negierten Optionen innerhalb der negierenden Ordnung zustande: Komik ist Positivierung von Negativität.

Wie Ritter tendiert Warning dazu, das Komische mit einem Humor zu identifizieren, der die heiter-versöhnende Konfrontation einer ausgrenzenden sozialen Lebensordnung mit ihren verdrängten Bestandteilen meint. Humor verweist bei ihm aber nicht auf eine Metaphysik außerhalb der sozialen Institutionen. Indem das Negierte positiviert wird, wird es Teil der ehemals ausgrenzenden sozialen Ordnung. Diese wird transparent für eine verborgene Einheit des Unterscheidenden mit dem Unterschiedenen.

Die plötzlich aufscheinende Einheit einer Differenz kann eine „Positivierung“ bedeuten, das Ausgegrenzte also komisch integrieren. Sie kann aber auch auf die erneute Bestätigung oder sogar Verstärkung der ausgrenzenden Unterscheidung hinauslaufen. Jauß hat deswegen gegen den Begriff der Positivierung argumentiert.47 Sein Einwand wurde vor Kurzem von Anja Gerigk bekräftigt, die die Positionen von Ritter und Warning kritisch resümiert: „Die komische Affirmation setzt sich der sozialen Negation entgegen und hebt darüber hinaus die Entgegensetzung mitsamt der negierenden Position auf.“48

Komik entsteht zwar, kann man hier zusammenfassen, indem eine Lebensordnung transparent für die Einheit mit ihrer Negativität wird; aber das Resultat ←27 | 28→dieses Durchscheinens muss nicht die affirmative Zuordnung dieses Negativen zur negierenden Ordnung sein.

1.1.3: Praxistheoretische Perspektiven

Einen Ernstbegriff, der soziale Dialektik einschließt, nicht in einer religiösen Lebensform fundiert, und trotzdem Analogien zum Ritter-Standpunkt aufweist, bietet auch Harry G. Frankfurt. Für ihn besteht Ernsthaftigkeit darin, sich mit bestimmten Dispositionen zu identifizieren und andere auszuschließen, so, „daß bestimmte Entscheidungen für Personen völlig außer Frage stehen“ und „undenkbar sind.“49 Die Exklusion von Handlungsoptionen aus dem Bereich des Denkbaren ergibt sich aus dem Widerspruch zu wünschenswerten Prinzipien, die derjenige, der sich ernst nimmt, für „notwendig“, also für verbindlich hält.50 Anders als Ritter führt Frankfurt den Ernst also nicht auf eine soziale Metaphysik zurück, sondern situiert ihn in einer individuellen Psychologie, die sich zu sich selbst verhält und dabei ernst nimmt. Allerdings räumt Frankfurt ein, dass auch die so entstehenden Notwendigkeiten kulturell geprägt sind und kontingent sein können,51 wodurch die Abhängigkeit individuellen Verhaltens von kollektiven Sinnzuschreibungen angedeutet wird. Der individualpsychologische Fokus Frankfurts lässt sich dahin gehend erweitern, dass eine Identität erst durch die Verbindung zwischen einem individuellen Subjekt und einer weiteren Sozietät konstituiert wird. Das bedeutet auch, dass eine individuelle Identität nicht durch einen Akt der Selbstidentifikation vor beziehungsweise jenseits von Sozialität entstehen kann.52 Individuelle Identitäten existieren als besondere Konfigurationen unterschiedlicher Praktiken und Rollen, deswegen müssen „die Grenzen des Selbst durch soziale Praktiken in der Öffentlichkeit gezogen werden“.53

←28 | 29→

Einen scharfen Begriff dieser sozialen Praktiken bieten weder Ritter noch Frankfurt, weil sie sich auf den Aspekt der humoristischen Subjektivität konzentrieren, die den determinierenden Einfluss sozialer Praktiken und Normen reflexiv hinter sich lässt und transzendiert. Die soziologische Humorforschung hat allerdings herausgestellt, dass humoristische Stile Affinitäten zu Klassenstandpunkten aufweisen54 und damit auch klassenspezifischen Normen, also Maßstäben und Kriterien des Gelingens,55 verpflichtet sind.

Die Möglichkeit einer Transzendierung dieser Maßstäbe kann man einräumen, ohne sie idealisierend für den Normalfall halten zu müssen. Mit dem Habituskonzept Pierre Bourdieus ist eine Vermittlung der beiden Standpunkte möglich.56 Bourdieu führt aus, dass es ein elementares, geradezu konstituierendes Merkmal eines jeden Habitus ist, dass bestimmte Verhaltensweisen als undenkbar ausgeschlossen werden:

Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von Grenzen. Wer z. B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt, Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich […].57

Eine Undenkbarkeit von Alternativen ist nicht das Ergebnis mangelhafter Charakterbildung, sondern ein Effekt, der sich aus jedem Sozialisationsverlauf ergibt und durch die Struktur der umgebenden Praxiswelt auch objektiv verlangt wird; jede Praxiswelt ist als „eine Welt von bereits realisierten Zwecken, ←29 | 30→Gebrauchsanleitungen oder Wegweisungen, und von Objekten, Werkzeugen oder Institutionen“58 zu verstehen, die zu ihrem Gebrauch den Habitus voraussetzen, aus dem sie resultieren und an den sie somit angepasst sind. Der Habitus bewirkt „als praktischer Sinn das Aufleben des in Institutionen objektivierten Sinns“,59 er ist der Bewohner (lat. habiter: bewohnen) von sozialen Institutionen und von praktischen Zusammenhängen, in die diese Institutionen eingebettet sind.

Ein Bewohner einer bestimmten Lebensordnung und Praxiswelt muss, wenn er angepasst sein soll, bestimmte Praktiken aus dem Bereich des Denkbaren ausgrenzen:

In der Wirklichkeit, und weil die durch Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Freiheiten und Notwendigkeiten, Erleichterungen und Verbote dauerhaft eingeprägten Dispositionen, die in den objektiven Bedingungen enthalten (und wissenschaftlich über statistische Gesetzmäßigkeiten wie z.B. objektiv mit einer Gruppe oder Klasse verknüpfte Wahrscheinlichkeiten erfaßbar) sind, mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen erzeugen, werden die unwahrscheinlichsten Praktiken vor jeder näheren Prüfung durch eine Sofortunterwerfung unter die Ordnung, die aus der Not gern eine Tugend macht, also Abgelehntes verwirft und Unvermeidliches will, als undenkbare ausgeschieden.60

Details

Seiten
342
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631879115
ISBN (ePUB)
9783631879122
ISBN (Hardcover)
9783631874981
DOI
10.3726/b19790
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 342 S.

Biographische Angaben

Stefan Born (Autor:in)

Stefan Born hat an der Universität Mainz mit einer Arbeit zum Adoleszenzroman promoviert. Das Referendariat hat er mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Philosophie an Gymnasien absolviert. Im Anschluss war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Deutschdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig, wo er sich auch habilitiert hat und zur Geschichte des Deutschunterrichts und zur Literaturdidaktik forscht.

Zurück

Titel: Didaktiken des Komischen
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
344 Seiten