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Die Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan im Steuerrecht

Eine gerechte Unternehmensbesteuerung durch „naming and shaming“?

von Philipp Wagner (Autor:in)
©2022 Dissertation 310 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit befasst sich mit der Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan im Steuerrecht. Sie erforscht dabei, ob über „naming and shaming" eine gerechte Unternehmensbesteuerung gefördert werden kann. Ausgangspunkt ist dabei das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Steuergerechtigkeit und Steuervermeidung, welches gerade mit Blick auf die Besteuerung multinationaler Unternehmen besonders deutlich wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil 1: Einleitung
  • A. Starbucks und der Zorn der Öffentlichkeit
  • B. Steuervermeidung als gesellschaftliches und rechtliches Problem
  • C. Die Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan
  • D. Gang der Darstellung
  • Teil 2: Steuervermeidung und Steuergerechtigkeit
  • A. Steuergestaltung durch multinationale Unternehmen
  • I. Internationalität und Unternehmensgröße
  • II. Die Steuervermeidung
  • 1. Tatbestandliche Differenzierungen in den Steuerrechtsordnungen
  • 2. Die fehlende Gestaltungsneutralität des Steuerrechts
  • 3. Die Zinsschrankenregelungen in § 4h EStG und § 8a KStG als Beispiel
  • III. Der Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO
  • IV. Die „aggressive“ Steuerplanung multinationaler Unternehmen
  • 1. Zum Begriff der „aggressiven“ Steuerplanung
  • 2. Der sogenannte „double dip“
  • 3. Gewinnverlagerung und Gewinnminderung durch interne Leistungsbeziehungen
  • a) Verrechnungspreise
  • b) Finanzierungsstrukturen
  • c) Fremdvergleichsgrundsatz und Informationsmängel
  • aa) Dealing at Arm’s Length
  • bb) Schwierigkeiten bei der Ermittlung angemessener Fremdvergleichspreise
  • cc) Informationsasymmetrien zulasten der Finanzbehörden
  • 4. Die Konzernsteuerquote als Indikator der Dimension „aggressiver“ Steuerplanung
  • 5. Ist jede Steuerplanung multinationaler Unternehmen „aggressiv“?
  • V. Zwischenergebnis
  • B. Steuergestaltung als Problem der Steuergerechtigkeit
  • I. Steuergerechtigkeit und Steuerfairness durch Belastungsgleichheit
  • 1. Der allgemeine Gleichheitssatz als Bestandteil der Steuergerechtigkeit
  • 2. Gerechte Verteilungsmaßstäbe der Steuerlast
  • a) Das Äquivalenzprinzip
  • aa) Die Globaläquivalenz
  • bb) Der sogenannte „genuine link“
  • b) Das Leistungsfähigkeitsprinzip
  • II. Verletzung der steuerlichen Gerechtigkeitsmaßstäbe durch die Steuervermeidung multinationaler Unternehmen
  • III. Keine Verpflichtung zur Steuerfairness, sondern zur Gewinnmaximierung
  • Teil 3: Die Öffentlichkeit im Steuerrecht
  • A. Öffentliche Kontrollen und Sanktionen im Steuerrecht als Lösung?
  • I. Steuerliche Transparenz
  • 1. Steuerliche Transparenz als Grundlage für Nachvollziehbarkeit und Verständnis
  • 2. Warum Steuertransparenz allein zugunsten der Finanzbehörden nicht ausreicht
  • II. Öffentliche Steuerkontrolle auf der Grundlage öffentlicher Steuertransparenz
  • III. Der Bedeutungsgehalt von öffentlicher Transparenz
  • 1. Öffentlich und Öffentlichkeit
  • 2. Transparent und Transparenz
  • IV. Begrenzung der „aggressiven“ Steuerplanung durch Öffentlichkeit
  • 1. Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan im Steuerrecht
  • 2. „Naming and shaming“ im Steuerrecht
  • a) Grundlegendes
  • aa) Der Pranger als Prototyp für „naming and shaming“ und „shame sanctions“
  • bb) Was ist „naming and shaming“?
  • cc) Sinn und Zweck
  • dd) Verhaltenslenkung durch Abschreckung
  • ee) Verfahren und Informationsreflex
  • ff) Der Pranger im Recht
  • (1) Strafrecht und Wirtschaftsrecht
  • (2) Steuerrecht
  • b) Der Einsatz von „naming and shaming“ gegen Steuervermeidung
  • aa) Öffentlicher Informationszugang zu Steuerdaten und Reaktion der Öffentlichkeit
  • bb) Die Unternehmensreputation als Anknüpfungspunkt
  • (1) Unternehmensreputation als Vermögenswert
  • (2) „Aggressive“ Steuerplanung als Auslöser für sogenannte „Non-Tax Costs“
  • (3) Unternehmensreputation als Disziplinierungsinstrument – gerade im Steuerrecht
  • (4) Das Kosten-Nutzen-Verhältnis
  • c) „Naming and shaming“ und soziale Medien
  • d) Versicherungen gegen „naming and shaming“
  • B. Der Ertragsteuerinformationsbericht
  • I. Das Country-by-Country Reporting der OECD als konzeptionelle Grundlage
  • 1. Anwendungsbereich
  • a) Persönlicher Anwendungsbereich
  • b) Sachlicher Anwendungsbereich
  • 2. Der Nutzen einer länderbezogenen Berichterstattung für die Finanzverwaltung
  • 3. Die Umsetzung des BEPS-Aktionspunkts 13 in europäisches und nationales Recht
  • 4. Aussagekraft, Erhebungsfehler und Fehlinterpretationen
  • a) Die Aggregation von Daten
  • b) Besondere Herausforderungen für die Finanzbehörde
  • c) Besondere Herausforderungen für das aufstellungspflichtige Unternehmen
  • II. Die Europäische Kommission und der Ertragsteuerinformationsbericht
  • 1. Der Ertragsteuerinformationsbericht als Grundlage für öffentliche Kontrolle
  • 2. Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich
  • a) Persönlicher Anwendungsbereich
  • b) Sachlicher Anwendungsbereich
  • 3. Formelle Besonderheiten des Ertragsteuerinformationsberichts
  • a) Veröffentlichung
  • b) Abschlussprüfer und Prüfgesellschaft
  • 4. Eine besondere Herausforderung: der Umgang mit Drittstaaten
  • a) Drittstaaten ohne Steueroasen-Status
  • b) Drittstaaten mit Steueroasen-Status
  • 5. Unterschiede zwischen dem steuerlichen und dem public Country-by-Country Reporting
  • a) Konzernunverbundene Unternehmen
  • b) Multinationale Unternehmen im Bankensektor
  • c) Inhalt der Berichte
  • 6. Fehlinterpretationen
  • III. Die Richtlinie (EU) 2021/2101
  • 1. Die Kompetenzfrage
  • a) Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren
  • b) Das Einstimmigkeitserfordernis
  • c) Die Richtlinie zur Änderung der EU-Amtshilferichtlinie und die EU-Bilanzrichtlinie
  • d) Die politische Brisanz der Kompetenzfrage
  • e) Die Begründungen und Ausführungen der Europäischen Kommission
  • f) Die Begründungen und Ausführungen in der Richtlinie (EU) 2021/2101
  • g) Die Umgehung der Einstimmigkeit
  • h) Die richtige Rechtsgrundlage: Art. 115 AEUV
  • 2. Der Ertragsteuerinformationsbericht der Richtlinie (EU) 2021/2101
  • Teil 4: Die grundrechtliche Dimension öffentlicher Kontrollen und Sanktionen im Steuerrecht
  • A. Grundrechtsschutz multinationaler Unternehmen
  • I. Verschiedene Grundrechtskataloge und ihre Maßgeblichkeit
  • II. Anwendungsbereich der europäischen Grundrechte
  • III. Verhältnis zum deutschen Verfassungsrecht
  • 1. Die Richtlinie mit determiniertem und nicht-determiniertem Teil
  • a) Die Haltung des EuGH
  • b) Die Haltung des BVerfG
  • c) Der Meinungsstand in der Literatur
  • 2. Keine Anwendung der deutschen Grundrechte und des § 30 AO
  • IV. Verhältnis zur EMRK
  • V. Die GRCh als Maßstab
  • B. Steuerliche Veröffentlichungspflichten als Grundrechtseingriff
  • I. Geheimhaltungsinteresse an Steuer- und Geschäftsdaten
  • 1. Der Schutz der unternehmerischen Geheimsphäre
  • 2. Daten des Ertragsteuerinformationsberichts als Geschäftsgeheimnisse
  • a) Nicht genuine Steuerinformationen
  • aa) Kurze Beschreibung der Art der Tätigkeit
  • bb) Beschäftigtenzahl
  • b) Genuine Steuerinformationen
  • c) Gesamtschau aller Informationskategorien
  • 3. Offenlegung von Jahresabschlüssen
  • 4. Die einschlägigen Unionsgrundrechte
  • a) Unionsrechtlicher Steuerdatenschutz
  • b) Unionsrechtlicher Geschäftsgeheimnisschutz
  • II. Der Schutz vor Wettbewerbsnachteilen
  • 1. Wettbewerbsnachteile im Verhältnis zu Konkurrenten
  • 2. Die schwellenwertabhängige Veröffentlichungspflicht als Wettbewerbsfaktor
  • 3. Die einschlägigen Unionsgrundrechte
  • a) Unmittelbare Grundrechtseingriffe
  • aa) Berichtspflicht
  • bb) Veröffentlichungspflicht und öffentliche Kontrolle
  • b) Mittelbare Grundrechtseingriffe
  • aa) Zum mittelbaren Grundrechtseingriff im Unionsrecht
  • bb) Wettbewerbsverzerrung
  • cc) „Naming and shaming“
  • c) Zwischenergebnis
  • III. Die EU-Grundrechtsberechtigung der berichtspflichtigen Unternehmen
  • 1. Juristische Personen und Wirtschaftsgrundrechte
  • 2. Juristische Personen und der Schutz personenbezogener Daten
  • a) Auslegung
  • b) Sachliche Erwägungen
  • c) Zwischenergebnis
  • C. Die Unionsrechtskonformität des Ertragsteuerinformationsberichts
  • I. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit
  • 1. Die Legitimität
  • a) Bezüge zur verbundenen Rechtssache Schecke/Eifert
  • b) Öffentliche Kontrolle als Mittel zur Förderung der Steuergerechtigkeit
  • 2. Die Geeignetheit
  • a) Erhöhung der Transparenz und Fairness in der Unternehmensbesteuerung
  • b) Bedenken gegen die Geeignetheit des Ertragsteuerinformationsberichts
  • aa) Verständlichkeit der Informationskategorien
  • bb) Notwendigkeit einer fachkundigen Auswertung von Steuerinformationen
  • cc) „Naming and shaming“ als Automatismus?
  • c) Für eine Steuerkontrolle nicht offensichtlich ungeeignet
  • aa) Möglichkeit einer grundlegenden Kontrolle
  • bb) Verschiedene Kontrollansätze
  • cc) Sachkundigere Debatte im Steuerrecht durch Steuerrechtswissenschaft und Nichtregierungsorganisationen
  • dd) Umsetzung von „naming and shaming“ im Unternehmenssteuerrecht
  • ee) Solides Kontrollinstrument der Öffentlichkeit
  • d) Keine garantierte öffentliche Kontrolle im Steuerrecht
  • e) Keine objektive Auswertung der Ertragsteuerinformationsberichte
  • 3. Die Erforderlichkeit
  • a) Bereits bestehende Veröffentlichungspflicht von Jahresabschlüssen
  • b) Ausklammern von Geschäftsgeheimnissen
  • c) Veröffentlichung nur gegenüber der Finanzverwaltung
  • d) Veröffentlichung nur gegenüber Nichtregierungsorganisationen und Medien
  • 4. Die Angemessenheit
  • a) Betroffene Interessen
  • b) Intensität der Grundrechtseingriffe
  • aa) Internetöffentlichkeit als besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff
  • bb) Die Entscheidungen des Conseil d’État und des Conseil Constitutionnel
  • c) Der Nutzen einer öffentlichen Kontrolle in der Unternehmensbesteuerung
  • d) Ein Schuss über das BEPS-Projekt der OECD hinaus
  • e) Im Ganzen zu schwerwiegende Beeinträchtigungen
  • II. Unionsrechtswidrigkeit
  • Teil 5: Auswirkungen auf das Steuerrecht
  • A. Gesetz- und Tatbestandsmäßigkeit des Steuerrechts
  • B. Vertrauensschutz durch Steuergesetze
  • C. Öffentliche Willkür im Steuerrecht
  • D. Finanzbehördliche Verifikationsverwaltung und öffentliche Kontrolle
  • E. Rechtsschutz gegen die Finanzbehörde und gegen die Öffentlichkeit
  • F. Öffentliche Steuerkontrolle als Bruch mit grundlegenden Wertungen des Steuerrechts
  • Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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A.Starbucks und der Zorn der Öffentlichkeit

Im Jahr 2012 wurde Großbritannien von einem Steuerskandal erschüttert. Nachdem darüber informiert worden war, dass es der international operierenden Kaffeehauskette Starbucks mittels diverser Steuergestaltungen gelungen war, über mehrere Jahre Steuern in beträchtlichem Umfang zu vermeiden, machten sich öffentliche Empörung und Entrüstung breit.1 Auch wenn die Steuergestaltungen allesamt legal waren und damit gerade keine Steuerstraftaten vorlagen, nahm die Öffentlichkeit in Worten und Taten Anstoß an der auf Steuervermeidung ausgerichteten Steuerpolitik des Unternehmens. Dabei war der Zorn der Öffentlichkeit derart groß, dass es Berichten zufolge zu einem Boykott und in mehreren Dutzend Starbucks-Filialen überdies zu tumultartigen Demonstrationen kam, die bisweilen sogar zu Festnahmen führten.2

Am Ende war dieser auf Starbucks ausgeübte Druck der echauffierten Öffentlichkeit so stark, dass Starbucks sich unter Ausschluss der Anerkennung einer Rechtspflicht „freiwillig“ bereit erklärte, mehrere Millionen Pfund an die britischen Finanzbehörden zu zahlen.3 Steuerrechtlich betrachtet bestand darauf kein Anspruch.4 Nichtsdestoweniger hatte das Unternehmen Starbucks wohl eingesehen, dass es aufgrund seiner Steuervermeidungsstrategien einen derart gravierenden Reputationsschaden erlitten hatte, dass es ihm schlicht unmöglich war, seine Steuerpolitik in Großbritannien in der bisherigen Art und Weise fortzusetzen.5

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1 Ausführlich R. Pinkernell, ifst-Schrift Nr. 494 (2014), S. 156; F. Oppel, SteuK 2016, S. 421 (426); S. Sieber, DStR 2021, S. 2656 (2658).

2 M. Theurer, FAZ vom 9.12.2012, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/steuerstreit-starbucks-filialen-in-grossbritannien-besetzt-11987641.html (letzter Aufruf: 31.3.2022); R. Pinkernell, ifst-Schrift Nr. 494 (2014), S. 156; D. Fehling, FR 2015, S. 817 (817, Fn. 6).

3 S. Eilers/S. Schmitz, ISR 2013, S. 68 (68, 75); D. Fehling, FR 2015, S. 817 (817, Fn. 6); F. Oppel, SteuK 2016, S. 421 (426); A. Steinegger, Der Konzern 2016, S. 454 (460); S. Sieber, DStR 2021, S. 2656 (2658).

4 S. Sieber, DStR 2021, S. 2656 (2658): „zusätzlich zur gesetzlich geschuldeten Steuerlast“.

5 A. Christians, Tax Notes International 2013, S. 637 (638).

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B. Steuervermeidung als gesellschaftliches und rechtliches Problem

Die Steuervermeidung multinationaler Unternehmen ist ein gesellschaftliches, politisches und juristisches „Dauerthema“.6 Bereits seit einigen Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Politik verstärkt auf die tatsächliche steuerliche Belastung großer multinationaler Unternehmen. Obwohl multinationale Unternehmen weltweit enorme Gewinne erwirtschaften, zahlen sie nahezu nirgendwo wirklich Steuern.7 Aufgrund verschiedenster steuerlicher Gestaltungen gelingt es ihnen immer wieder, ihre erwirtschafteten Gewinne zu verlagern, Steuern zu vermeiden und ihre Steuerlast damit in erheblichem Umfang zu senken. Die am Ende dann effektiv zu tragenden steuerlichen Lasten stehen dabei in nahezu keinem Verhältnis mehr zur wirtschaftlichen Größe der multinationalen Unternehmen und zum erwirtschafteten Gewinn vor Steuern. So soll es einem US-Konzern gelungen sein, „seinen effektiven Körperschaftsteuersatz auf die in Europa erzielten Gewinne von 1 % im Jahre 2003 auf 0,005 % im Jahre 2014 zu senken“, womit im Ergebnis ein „zweistellige[r] Milliardenbetrag“ an Steuern gespart werden konnte.8 Eine Steuerbelastung von 50 Euro bei einem Gewinn von einer Million Euro entspräche letztlich „nicht dem gewünschten Maß der Teilhabe von Staaten am Unternehmensgewinn“.9

In der Politik und der Öffentlichkeit wird vor diesem Hintergrund seit Längerem der steuerliche „fair share“ multinationaler Unternehmen bezweifelt.10 Das Auseinanderklaffen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Steuerbelastung wird in der Diskussion um eine gerechte Unternehmensbesteuerung von der Politik und der Öffentlichkeit immer wieder „als besonders anstößig“ empfunden.11 Für die Öffentlichkeit handelt es sich bei der Steuervermeidung multinationaler Unternehmen daher um nichts Geringeres als einen „Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit“.12Aber auch namhafte Steuerrechtler äußern mit Blick ←23 | 24→auf die Steuerbelastung internationaler Unternehmen ihren Unmut. So hat etwa der damalige Präsident des Bundesfinanzhofs, Rudolf Mellinghoff, in einem Interview mit der FAZ ausgeführt, dass es aus seiner Sicht „nicht akzeptabel“ sei, wenn sich multinationale Unternehmen durch „geschickte Steuergestaltungen“ letztlich „kaum noch an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen“.13 Die Rechtfertigung der Steuer als gegenleistungslose Abgabe speist sich unter anderem aus der gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen.14 Anders gewendet kann man sagen, dass die Finanzierung des Staats über die Steuer nur deshalb gerechtfertigt ist, weil sich gerade alle an der Finanzierung beteiligen. Steuervermeidungen laufen dieser Idee zuwider und konterkarieren das Konzept einer (internationalen) Steuergerechtigkeit.

Neben diesen gesellschaftlichen und politischen Schwierigkeiten stellt die Steuervermeidung aber auch vor rechtliche Herausforderungen. Der Gesetzgeber kann Steuervermeidungen rein juristisch nicht effektiv bekämpfen. Werden etwa bestimmte Steuergestaltungen durch Änderungen der Steuergesetze unmöglich gemacht, so werden diese Gesetzesänderungen nun ihrerseits Gegenstand von Gestaltungen. Matthias Valta spricht treffend von einem „Hase-und-Igel-Spiel“, wenn er ausführt, dass die „Steuergestaltungsindustrie“ längst neue Steuergestaltungen entwickelt habe, während der Gesetzgeber noch dabei sei, die vorherigen Gestaltungen durch Gesetzesänderungen unschädlich zu machen.15 Darüber hinaus werden die strukturellen Schwächen in der Gesetzgebung auf internationaler Ebene von einem relativ aggressiv geführten Steuerwettbewerb begleitet.16 Hierbei versuchen die Staaten, sich gegenseitig an steuerlicher Attraktivität für Investitionen zu überbieten. Steuerwettbewerb wird dabei zu einem Standortwettbewerb.17 Die Herausforderungen im Kampf gegen Steuervermeidung sind damit so gewaltig, dass der einzelne Steuerstaat an die Grenzen des für ihn Machbaren stößt.


6 C. Watrin/M. Thomsen, StuW 2016, S. 3 (3); A. Kubata, IStR 2021, S. 949 (949).

7 A. Christians, Washington University Journal of Law and Policy 2014, S. 39 (46); A. Steinegger, Der Konzern 2016, S. 454 (460).

8 S. Grotherr, Ubg 2016, S. 637 (637).

9 J. Lüdicke/F. Salewski, ISR 2017, S. 99 (106).

10 Siehe hierzu etwa D. J. Piltz, IStR 2013, S. 681 (681); M. Overesch, PWP 2016, S. 129 (129).

11 M. Overesch, PWP 2016, S. 129 (129).

12 U. Schreiber/L. M. Fell, in: FS Dieter Endres, 2016, S. 387 (387).

13 R. Mellinghoff, FAZ v. 23.5.2019, S. B2.

14 R. Möller, StB 2006, S. 425 (426); R. Wernsmann, in: Walter Hübschmann/Ernst Hepp/Armin Spitaler (Begr.), AO/FGO, § 4 AO Rn. 411 (Oktober 2020).

15 M. Valta, Das Internationale Steuerrecht zwischen Effizienz, Gerechtigkeit und Entwicklungshilfe, 2014, S. 179.

16 Ausführlich zum Steuerwettbewerb M. Rodi, StuW 2008, S. 327 (327 ff.); F. Haase, Der Steuerkrieg, 2020.

17 Vergleiche N. Braun Binder, Rechtsangleichung in der EU im Bereich der direkten Steuern, 2017, S. 73.

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C. Die Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan

Angesichts der begrenzten Effektivität, Steuervermeidungen allein durch lückenschließende Anpassungen des materiellen Steuerrechts zu begegnen,18 wird vermehrt über andere Lösungen nachgedacht.19 Hier wird schon seit Jahren intensiv und in letzter Zeit noch verstärkter auf Steuertransparenz gesetzt.20 Auf nationaler Ebene soll der Steuerpflichtige für die Finanzbehörden zunehmend transparenter und seine steuerlichen Verhältnisse sollen immer nachvollziehbarer werden. Auf internationaler Ebene wird an einem immer detaillierter und komplexer werdenden automatischen Informationsaustausch in Steuersachen zwischen den Finanzbehörden gearbeitet.21 All diese Transparenzmaßnahmen führen zu einem Transparenzgewinn der Finanzbehörden.

Parallel zur Transparenz für die Finanzverwaltung finden sich immer wieder auch Überlegungen hinsichtlich einer allgemeinen Steuerpublizität.22 Der Steuerpflichtige und seine steuerlichen Verhältnisse wären dann auch für die Öffentlichkeit transparent. Die Idee einer öffentlichen Steuertransparenz verfolgt das Ziel, die Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan im Steuerrecht zu installieren.23 Wie „der skurrile Starbucks-Fall“24 deutlich gezeigt hat, kann die unternehmerische Steuerpolitik selbst bei vollkommener Legalität durch öffentlichen Druck beeinflusst und gelenkt werden.25 Über den Druck der Öffentlichkeit können vermeintlich steuerfaire Leistungen erzwungen werden, auf die zwar steuerrechtlich kein Anspruch besteht, die aber (vielleicht) gesellschaftlich geschuldet sind.26 Was der Staat nicht zu erreichen vermag, scheint der Öffentlichkeit zu ←25 | 26→gelingen.27

In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird bisweilen zwar wenig schmeichelhaft von einer „Volksjustiz“28 gesprochen, die um sich greife, wenn die Öffentlichkeit Druck und Kontrolle ausübe und schließlich auch Sanktionen verhänge,29 nichtsdestoweniger scheint der Einsatz der Öffentlichkeit zur Behebung von Missständen rechtlicher, gesellschaftlicher oder politischer Natur immer interessanter zu werden und sich in der nationalen wie internationalen Rechtslandschaft immer fester zu verankern. So ist „naming and shaming“ bereits ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil im US-amerikanischen Strafsystem,30 und auch das deutsche Wirtschaftsrecht kennt das Sanktionieren durch die Öffentlichkeit.31 Im Steuerrecht setzen gerade die skandinavischen Staaten schon lange auf Steuerpublizität und Kontrolle durch die Öffentlichkeit.32

Einen ganz neuen Ansatz verfolgt seit einiger Zeit die Europäische Kommission.33 Mithilfe der Öffentlichkeit sollen Gewinne letztlich nicht mehr verlagert und Steuern damit nicht mehr vermieden werden können.34 Mittels eines Ertragsteuerinformationsberichts soll innerhalb der Europäischen Union eine öffentliche Steuerkontrolle auf dem Gebiet der Unternehmensbesteuerung eingeführt werden. Nach Auffassung der Europäischen Kommission könnte eine öffentliche Kontrolle „sicherstellen helfen, dass Gewinne tatsächlich dort besteuert werden, wo sie entstehen“.35 Über die Installation der Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan soll die Praktik, Steuern zu vermeiden und Steueroasen zu nutzen, wegen eines zu befürchtenden Reputationsverlusts36 sowie „naming and shaming“ für multinationale Unternehmen unattraktiv gemacht und so das unternehmerische Verhalten ←26 | 27→beeinflusst werden.37 Die Europäische Kommission hat damit die Zeichen der Zeit erkannt. Mit der Bekämpfung von „aggressiver“ Steuerplanung und Steuervermeidung geht sie „das Kernproblem des gegenwärtigen Steuerrechts“38 an. Der Einsatz der Öffentlichkeit als Kontroll- und Sanktionsorgan in der Unternehmensbesteuerung ist dabei als rechtspolitische Lösung für eine auf Steuervermeidung beruhende (internationale) Steuerungerechtigkeit gedacht.

Auch wenn die Steuervermeidungsstrategien multinationaler Unternehmen kritisiert und ein durch öffentlichen Druck erreichtes steuerpolitisches Umdenken des Unternehmens als Sieg der Steuergerechtigkeit über das Gewinnstreben verbucht werden können, so bleibt am Ende dennoch ein – jedenfalls rechtlich besehen – fader Beigeschmack. Wenn aufgrund öffentlichen Drucks in Form von „naming and shaming“ Zahlungen erfolgen, auf die es keinen Steueranspruch gibt, hat das mit dem Legalitätsprinzip des Steuerrechts nur noch wenig gemein.39 Es steht vielmehr zu befürchten, dass der sich „naming and shaming“ verdankende Sieg des Steuerstaats gegen Steuervermeidung sich am Ende als Pyrrhussieg erweist. Als ein Sieg nämlich, der zwar im Kampf gegen Steuervermeidung erzielt wurde, der dabei aber die Grundfesten des Steuerrechts und einer rechtsstaatlichen Besteuerung zum Einsturz gebracht hat. Denn eins steht fest: „The numberless private policemen who enforce shame sanctions play by their own rules or by none.“40

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18 Vergleiche W. Blumers, BB 2013, S. 2785 (2785); S. Grotherr, Ubg 2015, S. 360 (363).

19 Vergleiche V. Wöhrer, TPI 2017, S. 1 (1).

20 Ausführlich hierzu etwa J. Hey/R. Heilmeier, in: H. David Rosenbloom et al. (Hrsg.), ITP @ 20 [1996 – 2016], 2016, S. 239 (239 ff.); A. Dölker, BB 2017, S. 279 (279 ff.).

21 Ausführlich hierzu etwa R. Seer/I. Gabert, StuW 2010, S. 3 (3 ff.); R. Seer/S. Kargitta, in: Christiana Panayi et al. (Hrsg.), Research Handbook on European Union Taxation Law, 2020, S. 489 (489 ff.).

22 Siehe hierzu E. J. Meise, Steuerpublizität bei natürlichen Personen, 2019.

23 Vergleiche E. J. Meise, Steuerpublizität bei natürlichen Personen, 2019, S. 125 ff.

24 R. Pinkernell, ifst-Schrift Nr. 494 (2014), S. 156.

25 Vergleiche A. Steinegger, Der Konzern 2016, S. 454 (460).

26 Vergleiche F. Oppel, SteuK 2016, S. 421 (426); U. Schreiber/J. Voget, StuW 2017, S. 145 (153); C. Armbrüster/L. Böffel, ZIP 2019, S. 1885 (1895): „[…] werden Private aktiviert, um mithilfe des Instruments der Veröffentlichung für die Einhaltung von staatlicherseits angestrebten Zielen zu sorgen.“

27 Siehe in diesem Kontext auch P. F. Irmscher, Öffentlichkeit als Sanktion, 2019, S. 16 m. w. N.

28 F. Reimer, JöR 58 (2010), S. 275 (287); C. Armbrüster/L. Böffel, ZIP 2019, S. 1885 (1891).

29 F. Reimer, JöR 58 (2010), S. 275 (287); C. Armbrüster/L. Böffel, ZIP 2019, S. 1885 (1891).

30 Siehe etwa T. M. Massaro, Michigan Law Review 1991, S. 1880 (1880 ff.); J. Q. Whitman, The Yale Law Journal 1998, S. 1055 (1055 ff.); rechtsvergleichend M. Jüngel, Shame Sanctions – Wiedergeburt der Schandstrafe?, 2011; J. M. Niioka, „Naming and Shaming“ – Ein neues ambulantes Sicherungsmittel im Umgang mit Sexualstraftätern?, 2013.

31 Siehe etwa P. F. Irmscher, Öffentlichkeit als Sanktion, 2019; instruktiv auch C. Armbrüster/L. Böffel, ZIP 2019, S. 1885 (1885 ff.).

32 Siehe etwa P. Kirchhof, in: FS Klaus Tipke, 1995, S. 27 (40); K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Auflage 2000, S. 222; U. Schreiber/J. Voget, StuW 2017, S. 145 (149); E. J. Meise, Steuerpublizität bei natürlichen Personen, 2019, S. 48 ff., 55 ff.

Details

Seiten
310
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631881286
ISBN (ePUB)
9783631881293
ISBN (MOBI)
9783631881309
ISBN (Hardcover)
9783631879955
DOI
10.3726/b19831
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 310 S.

Biographische Angaben

Philipp Wagner (Autor:in)

Philipp Wagner studierte Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Steuerrecht an der Ruhr-Universität in Bochum tätig, an dem auch seine Promotion erfolgte.

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