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Säkularisierung – ein weltgeschichtlicher Prozess in Hamburg

Staat und Kirchen von Napoleon bis zum Reformationsjubiläum (2017)

von Isa Lübbers (Band-Herausgeber:in) Martin Rössler (Band-Herausgeber:in) Joachim Stüben (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 310 Seiten

Zusammenfassung

Prozesse der Sakralisierung («Verheiligung») und der Säkularisierung («Verweltlichung») finden in jeder Gesellschaft statt: Religiosität, in welcher Form, bezogen worauf auch immer, entsteht und nimmt zu, oder aber geht wieder zurück. Meist wird der Staat(sapparat) unter diesem Aspekt untersucht: Wie steht er zu den Religionsgemeinschaften in seinem Herrschaftsbereich? In Hamburg galt seit der Reformation bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein «lutherisches Monopol» – kurz unterbrochen durch die Herrschaft Napoleons (1811-1813/14). Seither ist die förmliche Einheit von Staat und lutherischer Kirche aufgehoben, weltanschaulicher Pluralismus greift um sich; doch ist der Staat nicht laizistisch, schließt mit ausgewählten Religionsgemeinschaften Verträge, auch etwa mit Muslimen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Geleitwort der Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche (Kirsten Fehrs)
  • Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber
  • A. Säkularisierung in der Weltgeschichte
  • 1. Helmut Stubbe da Luz: Sakralisierung und Säkularisierung: Konjunkturen der Religiosität und das Staat-Kirche(n)-Verhältnis
  • 2. Hans-Heinrich Nolte: Säkularisierungen und Säkularisationen in der Weltgeschichte
  • 3. Alexander Flores: Säkularisierung und Säkularismus im Islam?
  • B. Hamburgs Staat und Hamburgs Kirchen von Napoleon bis zum Reformationsjubiläum
  • 4. Helmut Stubbe da Luz: Säkularisierung? – Der Pariser Staat und Hamburgs Kirchen während der Herrschaft Napoleons (1811–1814)
  • 5. Helmut Stubbe da Luz: Hamburger Staats-Säkularisierung. Die Trennung von Einkirchenstaat und Staatskirche (1848–1860–1923) und ihr Verhältnis seither
  • C. Staat und Kirchen in Hamburg – 500 Jahre nach der Reformation
  • 6. Edgar S. Hasse: Rückkehr der Religion. Modernisierung und Säkularisierung – empirische Befunde am Beispiel Hamburgs
  • 7. Elisabeth Chowaniec: Säkularisierung in Hamburg 500 Jahre nach der Reformation. Das Verhältnis von Staat und Kirche in Hamburg im Jahr 2017 – eine Momentaufnahme
  • Anhang
  • Quellen und Literatur
  • Personenregister
  • Sachregister
  • Herausgeber und Autoren
  • Reihenübersicht

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Kirsten Fehrs

Geleitwort der Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche

Kirsten Fehrs, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche). Foto: Marcelo Hernandez. © Nordkirche

Der vorliegende Band fragt nach der Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft, vornehmlich am Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg. Er beschreibt die vielfältigen kulturellen und gesellschaftlichen Umformungsprozesse, für die sich der Begriff „Säkularisierung“ eingebürgert hat. Dass damit mehr und anderes gemeint ist als ein langsames aber stetiges Verdunsten der Religion bis zu ihrer völligen Auflösung, macht dieser Band auf eindrucksvolle Weise deutlich. Er widerlegt überzeugend die beliebten Verfallstheorien, denen zufolge früher alles besser war, die Menschen frömmer, die Kirchen voller. Stattdessen belegen die Beiträge, dass die Religion und ihre vielfältigen Ausdrucksformen in einer lebendigen und dynamischen Entwicklung stehen: Auf Phasen, in denen die religiöse Weltdeutung gegenüber anderen Erklärungsmustern zurücktritt, folgen religionsproduktive Zeiten intensiver Glaubenskommunikation. Diese Vielfalt und Dynamik bildet sich auch ab im wechselvollen Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Zur Identität einer Gesellschaft gehört es offenbar, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt, dass sie sich mit ihnen befasst. Besonders in unserer Gegenwart ist allerorten ein hohes Bedürfnis zu spüren nach einer Sprache, die von einer anderen Wirklichkeit weiß, die größer und weiter ist als die erlebte Realität. Nach einer Sprache auch, die größer ist als die Vernunft. Es ist allerdings eine Sprache, die an vielen Stellen neu gelernt werden muss, weil es auch eine Säkularisierung durch Vergessen gibt.

Dass der vorliegende Band den vielfältigen Verästelungen der Beziehungen zwischen Religion und Gesellschaft nachgeht und sich dabei nicht auf das Christentum beschränkt, ist ein vielversprechendes Zeichen für die faktische Vielfalt der Religionen, insbesondere in einer Metropole wie Hamburg – einer Stadt, in der auch das inter-religiöse Gespräch eine lange Tradition und eine ermutigende Form gefunden hat.

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Besonders überzeugend finde ich, dass neben der historischen Tiefendimension auch neuere und neueste Entwicklungen nachgezeichnet werden: Sie zeigen zum einen ein differenziertes Bild der religiösen Lage der Gegenwart, die durch das Nebeneinander von Rückgang und Aufschwung religiöser Traditionen wie durch einen hohen Individualisierungsgrad gekennzeichnet ist. Dies ist im Jubiläumsjahr 2017, ein halbes Jahrtausend nach der Reformation, ein Befund, der besonders interessant für die evangelische Kirche sein könnte. Sie hat seit ihrer Entstehung vor 500 Jahren den einzelnen Menschen in seiner unmittelbaren Beziehung zu Gott in den Vordergrund gestellt. Damit hat sie entscheidende Voraussetzungen dafür geschaffen, dass ein Phänomen, das wir als Säkularisierung beschreiben, überhaupt möglich wurde.

Zum anderen gehören zur gegenwärtigen Situation religiöser Vielfalt auch neue Impulse im Verhältnis von Kirche und Staat. So hat die Freie und Hansestadt Hamburg ja nicht nur Verträge mit den Kirchen, sondern auch mit der Jüdischen Gemeinde und mit muslimischen Verbänden und der Alevitischen Gemeinde geschlossen. In diesem Kontext soll das Hamburger Modell des „Religionsunterrichtes für alle in evangelischer Verantwortung“ nicht unerwähnt bleiben. Dieses Modell geht davon aus, dass auch Begegnungen in Differenz die Bildung einer religiösen Identität begünstigen können. Es zeigt sich, dass das religiöse Leben im gemeinsamen Austausch über das Heilige, das Gemeinsame und das Fremde gefördert wird. Die hohe Akzeptanz dieses Religionsunterrichts macht deutlich, dass auch künftig nicht mit dem Verschwinden von Religionen und Religiosität zu rechnen ist. Sie belegt vielmehr, dass es wichtig und richtig ist, den interreligiösen Dialog an den Schulen zu führen und eine Gleichberechtigung im Unterricht und in der Verantwortungsstruktur herzustellen – nicht zuletzt, um auch auf diesem Weg zum Frieden in der Stadt beizutragen.

So wünsche ich diesem Band neugierige Leserinnen und Leser, die sich von den vielfältigen Verwicklungen zwischen Säkularisierungen und religiösen Erweckungen, zwischen Abklingen religiöser Traditionen einerseits und einer neuerwachten Offenheit für Transzendenzerfahrungen andererseits faszinieren lassen. Ob sie nun von eigener Frömmigkeit getragen oder auch religiös unmusikalisch sind – in beiden Fällen werden sie dieses Buch mit Gewinn lesen!

Kirsten Fehrs

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Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

Bei Heinrich von Treitschke findet sich die Anekdote, dass in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts am gastlichen Tisch des preußischen Kultusministers Altenstein zuweilen kühl die Frage erörtert worden sei, ob das Christentum noch zwanzig oder eher noch fünfzig Jahre bestehen werde. Bekanntlich hat sich diese extreme Form der Säkularisierungsthese nicht bewahrheitet. Die Frage nach der gewandelten Bedeutung von Religion und Christentum in der Neuzeit bleibt gleichwohl bestehen. Der Begriff der Säkularisierung und die Prozesse des soziokulturellen Wandels, die damit bezeichnet werden, stehen schon seit längerem im Mittelpunkt des historischen und soziologischen Interesses. Sie sollen im vorliegenden Band exemplarisch an den Entwicklungen in der Freien und Hansestadt Hamburg dargestellt werden. Ein Hauptaugenmerk wird dabei auf das Verhältnis von Staat und Kirche(n) gelegt: Wie hat sich dieses Verhältnis in den beiden letzten Jahrhunderten entwickelt?

Dabei können in diesem Band die philosophischen und soziologischen Grundlagen, die großen weltgeschichtlichen Zusammenhänge nur skizziert werden. Durch die exemplarische Reduktion kann aber zugleich deutlich werden, dass es sich hier nicht um eine bloße Hamburgensie handelt, sondern um das regionalspezifische Modell-original bestimmter Vorkommnissorten, die, mit regionalen Abweichungen, überall anzutreffen sind. Eine weitere thematische Einschränkung betrifft das Reformationsgeschehen des 16. Jahrhunderts, auf das punktuell zurückgegriffen wird, das insgesamt aber in erster Linie den Hintergrund bildet für die religionspolitische und -rechtliche Lage im Hamburg der Jahrhundertwende um 1800 – gekennzeichnet von enger institutioneller und personeller Verquickung von Staat und Staatskirche, bei leichtem, aber klarem Machtvorsprung der staatlichen Seite.

500 Jahre nach der Reformation, in deren Zusammenhang sowohl Sakralisierungsals auch Säkularisierungsschritte zu verzeichnen sind, hat sich in Hamburg aufgrund großzügiger Förderung der Nordkirche, für die herzlich zu danken ist, vor allem des Hauptbereichs 1 der Evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland (Aus- und Fortbildung, unter der Leitung von Hans-Ulrich Keßler), aber auch des Landeskirchenamts Kiel (Dezernat für Theologie, Archiv und Publizistik, Dr. Thomas Schaack), die günstige Gelegenheit ergeben, diesen Sammelband zu publizieren. Er beschreibt die komplexen kulturellen und gesellschaftlichen Umformungsprozesse, die im Begriff der Säkularisierung zusammengefasst sind, aus verschiedenen Perspektiven.

Helmut Stubbe da Luz (Sakralisierung und Säkularisierung: Konjunkturen der Religiosität und das Staats-Kirche(n)-Verhältnis) bietet eine erste, teils historisch, teils philosophisch ausgerichtete Grundlegung. Er problematisiert die gängigen Implikationen des Säkularisierungsbegriffs, geht vom Menschenbild des Homo religiosus aus, konstatiert – gemäß dem „Markt“-Modell – allüberall anzutreffende religiöse Bedürfnisse einerseits, religiöse Angebote zur Befriedigung dieser Bedürfnisse andererseits. Vor diesem Hintergrund lasse sich zu jeder Zeit in jeder Gesellschaft ein bestimmter Religiositätsgrad, eine Art Sakralisierungs-Säkularisierungs-Quotient feststellen. „Religionisierung“- und „Entreligionisierungs“-Prozesse könnten einander ablösen, sie könnten aber auch gleichzeitig ablaufen, in einer Gesellschaft anders sich gestalten als in einer zweiten, auch innerhalb ein und derselben Gesellschaft ←9 | 10→in unterschiedlicher Weise unterschiedliche Subsysteme betreffen. Der Staat komme nur als ein potentielles „Sakralisat“ oder „Säkularisat“ von vielen in Betracht, allerdings als ein zentrales, oft ausschlaggebendes. Werde an einem Staat(sapparat) beispielsweise ein Säkularisierungsprozess festgestellt, heiße das nicht, dass die gesamte dazugehörige Gesellschaft (mit ihren diversen Subsystemen) sich in derselben Richtung verändere.

Hans-Heinrich Nolte (Säkularisierung und Säkularisation in christlichen Kontexten von Russland bis Amerika) gibt einen weitgefassten Überblick über historisch rekonstruierte Prozesse von Säkularisierung und Säkularisationen (d. h. Eigentumsübertragungen zu Ungunsten von Glaubensgemeinschaften, zu Gunsten „weltlicher“ Institutionen, vor allem des Staats). Dabei geraten vor allem europäische Länder ins Blickfeld, nebst der „Flügelmächte“ Russland und USA. Eingangs macht Nolte darauf aufmerksam, dass ein bestimmter Grad an Säkularisierung die Voraussetzung dafür war und ist, „dass Religion zum Gegenstand einer säkularen Wissenschaft, der Geschichte, gemacht werden konnte“. Schon in der Kirchengeschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts sei ein Stück intellektueller Säkularisierung zum Durchbruch gelangt, als diese Disziplin sich der Forderung unterworfen habe, „ad fontes“ zu gehen, zu den in einem weiteren Sinne empirischen Quellen. Die „Moderne“ oder die Menge der weltweit feststellbaren „Modernen“, überwiegend gekennzeichnet von unterschiedlichen Graden an Demokratie und Kapitalismus, kennten weiterhin Säkularisierungsteils auch noch Säkularisationsprozesse. Diese Prozesse könnten sich in Ländern, die den Kernbereich des Weltsystems bildeten, auf andere Weise darstellen als in Ländern der Peripherie.

Alexander Flores (Säkularisierung und Säkularismus im Islam?) geht der Frage nach, wie es mit Prozessen der Säkularisierung und mit dem Standpunkt des Säkularismus in der islamischen Religionsfamilie aussehe. Die Auffassung von der Unvereinbarkeit des Islam mit Säkularisierung und Säkularismus werde in erster Linie von nichtmuslimischen Beobachtern vertreten, aber auch viele Muslime seien dieser Meinung. Dem tritt Flores entgegen: Ausschlaggebend für die heutigen Auseinandersetzungen seien soziologische Umstände. Integration müsse nicht zuerst auf dem Gebiet der Religion gelingen. Die Religiosität der muslimischen Immigranten sei wohl im Großen und Ganzen ungebrochener als die der heutigen autochthonen Deutschen; zu einer Resakralisierung unserer Gesellschaft habe dies aber nicht geführt. Der Islam könne auch mit einem modernen Religions- und Weltverständnis vereinbart werden; das hätten Entwicklungen in muslimischen Gesellschaften zur Genüge demonstriert. Freilich brauche es in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik „günstige Umstände“.

Helmut Stubbe da Luz (Säkularisierung? – Der Pariser Staat und Hamburgs Kirchen während der Herrschaft Napoleons, 1811–1814) rekonstruiert – nach einem Rückblick auf Entstehung und Geschichte des „lutherischen Monopols“ in Hamburg seit der Reformation – eine viel genannte, aber zu wenig bekannte, eine kurze, aber einschneidende Epoche der Hamburger Geschichte, die Napoleonische Zeit, unter dem Aspekt der Religionspolitik und des Staatskirchenrechts. Der Pariser Staat, damals gegenüber den grundsätzlich als gleichberechtigt betrachteten Religionsgemeinschaften weitgehend neutral, aber keineswegs (wie seit 1905) laizistisch, habe das gesamte Religionswesen im Empire vom Pariser Kultusministerium aus geleitet. Bedeutende Haushaltsmittel seien in Kirchenbau und kirchliche Personalkosten geflossen. Kirchen hätten als öffentliche Gebäude gegolten, die Bezüge der meisten Geistlichen seien ←10 | 11→staatlicherseits garantiert, d. h. zu großen Anteilen bezahlt worden. Erstmals habe Hamburg Bekanntschaft mit einer – neuerdings wieder sehr bedeutsamen – Sorte von Religionsverfassungspolitik und -recht gemacht: Dem Système concordataire, einem Staat-Kirchen-Vertragssystem, damals abgeleitet von dem Konkordat, das Napoleon 1801 mit dem Papst geschlossen hatte. Der Pariser Staat habe sich teils säkularisiert – die bisherige katholische Staatskirche von sich distanziert –, aber die Gleichberechtigung und Förderung der anderen Religionsgemeinschaften, der Protestanten, d. h. der Lutheraner und Reformierten), in hohem Maße auch der Juden sei geeignet gewesen, Religion und Religiosität im Empire gedeihen zu lassen – solange die Glaubensgemeinschaften den von Paris aus vorgegebenen Richtlinien der Politik folgten. Gegenüber den revolutionären und nachrevolutionären Jahren vor Napoleons Machtergreifung könne in Bezug auf Frankreich von einer Entsäkularisierung (oder Resakralisierung) gesprochen werden, für Hamburg hätte das Système concordataire (genauer: die Ansätze dazu) teils eine Säkularisierung bedeutet (durch Pluralisierung der religiösen „Landschaft“), teils aber auch eine Intensivierung des religiösen Lebens, durch die Belebung der nichtlutherischen Religions-„Landschaft“.

Auf die Jahre der Napoleonischen Kriege folgte eine Ära der Restauration, auch in Hamburg: Man kehrte zum lutherischen Monopol zurück und milderte es nur marginal ab. Erst drei Jahrzehnte später kam wieder Bewegung in die Religions-verfassungspolitik. Helmut Stubbe da Luz (Hamburger Staats-Säkularisierung. Die Trennung von Einkirchenstaat und Staatskirche (1848–1860–1923) und ihr Verhältnis seither) hat die Entwicklung nachgezeichnet, die das Staat-Kirche(n)-Verhältnis in Hamburg zwischen 1848 und der Gegenwart genommen hat, mit Schwerpunkt auf den Jahrzehnten zwischen den Ansätzen zu einer liberalen Revolution 1848 und der Etablierung des durch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 begründeten Verhältnisses zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und ihrer ehemaligen lutherischen Staatskirche.

Aufgrund der ersten als modern zu bezeichnenden Hamburger Verfassung von 1860 habe sich die vom Staat bis zu einem gewissen Grad entkoppelte lutherische Kirche eine neue Grundlage für ihre weitere Existenz und Ko-Existenz schaffen müssen: Eine Kirchenverfassung sei zu entwerfen gewesen, die Finanzen hätten gesichert werden müssen. Dies sei durch eine Vermögensübertragung geschehen, die den Grundstock der Kirchlichen Hauptkasse gebildet hätte, ferner durch eine feste institutionelle Zuweisung, eine „Staatsleistung“; bis auf den heutigen Tag wirke der 1875 geschlossene Vertrag zwischen dem Senat, der Evangelisch-lutherischen Kirche im hamburgischen Staate und dem Kloster St. Johannis nach (wenn auch bloß marginal). Nur für einige Monate, Ende 1918 / Anfang 1919, sei von Seiten des Staats (dessen Spitze damals vom Arbeiter- und Soldatenrat besetzt war) in radikaler Weise eine echte Trennung von Staat und Kirche in Gang gesetzt worden (und nicht nur eine Trennung von Einkirchenstaat und Staatskirche). Stärker noch als in Napoleons Empire die katholische Religion als die Religion „der Mehrheit der Franzosen“ gegolten habe, gewissermaßen als „Leitreligion“, habe die Evangelisch-lutherische Kirche in Hamburg aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Mitgliederzahl, ihres Organisationsgrads, ihrer Immobilien und Finanzen eine bestimmende Rolle gespielt, und dies sei bis heute der Fall.

Ähnlich wie dies in Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschehen sei, habe aber auch in Hamburg ein Prozess der schrittweisen Ausdehnung von rechtlichen Besitzständen oder Errungenschaften der lutherischen Kirche auf weitere ←11 | 12→Glaubensgemeinschaften stattgefunden und finde weiter statt: Ihr Weg zur Etablierung sei über die Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts, über punktuelle, neuerdings auch wieder ständige Finanzzuweisungen, über die Konsultation vor allem zu Fragen des Religionsunterrichts bis hin zu Staat-Kirchen-Verträgen gegangen, und dieser Prozess sei noch im Gange. Das geschichtliche Gewicht der Evangelisch-lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate (heute integrierender Bestandteil der Evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland), absolut zwar abnehmend, relativ aber weiterhin deutlich, stehe der Pluralisierung der religiösen „Landschaft“ durch die auf die genannte Weise zu einem Mehr an Anerkennung gelangenden Religions-gemeinschaften aber nicht im Weg; dieser Pluralismus werde von der Nordkirche sogar ausdrücklich begrüßt.

Edgar S. Hasse kommt in seinem durch einiges statistisches Material unterfütterten Beitrag (Rückkehr der Religion. Modernisierung und Säkularisierung – empirische Befunde am Beispiel Hamburgs) zu dem ambivalenten Resultat, Hamburg sei – Säkularisierung hin, Säkularisierung her – vor allem eines: religionsproduktiv. Die Bürger seien in dieser wandlungsreichen Metropole vor die Entscheidung gestellt „ihre religiöse Biografie selbst zu gestalten“. Das bedeute Belastung, aber auch Chance, und diese Chance werde von nennenswerten Bevölkerungskreisen genutzt: Das religiöse Interesse der Konfessionslosen, so konstatiert Hasse, beziehe sich keineswegs nur auf die tradierten Bestände des Christentums, sondern auch auf fernöstliche Religionen, insbesondere auf Buddhismus und Hinduismus. Die Affinität zur asiatischen Religiosität sei bei Konfessionslosen doppelt so häufig ausgeprägt wie bei Kirchenmitgliedern. Zwar gehe vor allem bei der lutherischen Mehrheit das Maß der individuellen Bindung an die alteingesessene Institution Kirche zurück – wie übrigens auch die Bindungskraft von Gewerkschaften, Parteien und Verbänden schwinde. Einige wenige traditionelle Sitten und Gebräuche stünden aber nach wie vor hoch im Kurs: Hasse weiß einiges über die Hamburger „Weih nachts -Christen“ zu berichten. So seien mitten in der pluralen Metropole auch Entwicklungen zu beobachten, die einer Entreligionisierung zuwiderliefen. Sie bekräftigten die Doppelstruktur der These von Säkularisierung einerseits und einer „Renaissance der Religionen“ andererseits.

Elisabeth Chowaniec (Säkularisierung in Hamburg 500 Jahre nach der Reformation. Das Verhältnis von Staat und Kirche in Hamburg im Jahr 2017 – eine Momentaufnahme) lässt deutlich werden, wie sehr Religionspolitik und Religionsverfassungsrecht auch im Hamburg von heute im Wandel begriffen sind. Dieser Wandel vollziehe sich vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen Geschichte einerseits und andererseits den gegenwärtigen Chancen und Herausforderungen, die sich vor allem aus der religiösen und anderweitig weltanschaulichen Pluralisierung gerade auch in dieser wachsenden Großstadt ergäben – nicht zuletzt aufgrund von Zuwanderungsprozessen. Inwiefern können Kirchen weiterhin in ihrer Eigenschaft als „Tendenzbetriebe“ arbeitsrechtliche Besonderheiten reklamieren? Welche Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften erhalten den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, welche werden Vertragspartner der Freien und Hansestadt Hamburg, welche Religionsgemeinschaften bestimmen über die Inhalte und Methoden des Religionsunterrichts mit? – Wir profitieren von den Einblicken, die die Landeskirchliche Beauftragte der Nordkirche bei Senat und Bürgerschaft in der Freien und Hansestadt Hamburg in die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen und Diskussionen hat – 500 Jahre nach der Reformation.

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Wir, die Herausgeberin und die Herausgeber, wünschen dieser flüssig lesbaren wissenschaftlichen Publikation, dass sie Leserinnen und Leser nicht nur im Raum der Wissenschaft im engeren Sinne findet, sondern auch unter aktiven Multiplikatoren (Theologinnen und Theologen, Kirchengemeinderätinnen und -räten, Journalistinnen und Journalisten, Lehrerinnen und Lehrern) sondern auch unter theologisch, politisch, historisch interessierten Menschen sämtlicher Religionen und Weltanschauungen. Zu den Vorzügen dieses Sammelbands scheint uns zu zählen, dass – dem Titel der Reihe „Hamburg, Europa und die Welt“ entsprechend – die regionalhistorischen, ferner die auf Hamburg bezogenen soziologischen und juristischen Erkenntnisse in eine Reihe von übergreifenden, insbesondere weltgeschichtlichen Zusammenhängen eingebettet sind. Unser herzlicher Dank gilt den Verfassern und der Verfasserin dieses Bandes, sowie allen, die zu seiner Realisierung beigetragen haben.

Hamburg, am Reformationstag 2017

Isa Lübbers, Martin Rössler, Joachim Stüben

Details

Seiten
310
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783653069792
ISBN (ePUB)
9783631708897
ISBN (MOBI)
9783631708903
ISBN (Hardcover)
9783631675472
DOI
10.3726/978-3-653-06979-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Schlagworte
Staatskirchenverträge Religionspolitik Staatsleistungen Säkularisation Einkirchenstaat Staatskirche
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017, 310 S., 1 Abb. 4c, 9 Abb s/w

Biographische Angaben

Isa Lübbers (Band-Herausgeber:in) Martin Rössler (Band-Herausgeber:in) Joachim Stüben (Band-Herausgeber:in)

Isa Lübbers, Martin Rößler und Joachim Stüben sind Theologen und in Hamburg auf unterschiedliche Weise für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland tätig.

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Titel: Säkularisierung – ein weltgeschichtlicher Prozess in Hamburg
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